116.
An Franz Overbeck

[1141] [Rosenlauibad, August 1877]


Lieber lieber Freund, in wenigen Tagen mache ich meine Heimfahrt nach Basel. Meine Schwester ist schon dort und richtet ein (sie richtet immer viel aus, in solchen Dingen). Von dort aus will ich eines schönen Tages auch zu Dir, zu Euch hinüberkommen, denn es verlangt mich herzlich danach, mit Dir zu reden und zu raten. Der Aufenthalt hier oben war gewiß das Vernünftigste meiner ganzen Gesundheitsjagd; aber ich bringe sie auch von hier nicht heim. Eine Zeitlang wird's aber schon vorhalten. Eins aber sehe ich jetzt mit völliger Klarheit: auf die Dauer ist eine akademische Existenz für mich unhaltbar. Ich habe täglich ungefähr eineinhalb Stunden Augenlicht zu verbrauchen, das weiß ich jetzt aus sorgsamer Beobachtung. Lese und schreibe ich länger, so muß ich schon am selben Tag mit Schmerzen büßen und wenige Tage darauf mit einem alten heftigen Anfall (gestern hatte ich ihn wieder). Ich habe den viertägigen Besuch eines trefflichen Arztes und Menschen gehabt, des Dr. Eiser aus Frankfurt (mit Frau), dessen Behandlung ich mich jetzt ganz anvertraut habe. Er fand, daß Prof. Schrön mich beinahe homöopathisch behandelt habe.

Nun drängen mich meine Gedanken vorwärts, ich habe ein so reiches Jahr (an innerem Ergebnis) hinter mir; es ist mir, als ob die alte Moosschicht täglichen philologischen Notberufs eben nur abgehoben zu werden brauchte – und alles steht grün und saftig da. Mit Mißmut denke ich daran, daß ich jetzt meine Ausbeute liegen lassen muß,[1141] vielleicht die frische Empfindung dafür und damit alles verliere! Hätte ich doch irgendwo ein Häuschen; da ginge ich wie hier täglich sechs bis acht Stunden spazieren und dächte mir dabei aus, was ich nachher im Fluge und vollkommener Sicherheit aufs Papier hinwerfe – so habe ich's in Sorrent, so hier gemacht und einem im ganzen unangenehmen und verdüsterten Jahre viel abgewonnen. (Nicht wahr, ich habe vor Dir mich nicht über diese Offenheit des Selbstgefühls zu entschuldigen?)

Alles andre (und manches andre) mündlich. Sage Deinen lieben An- und Zugehörigen meinen herzlichsten Dank für alle Teilnahme und die wiederholte Einladung. Dir selbst mit innigem Händedruck das Beste wünschend, alter, lieber Freund!

F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1141-1142.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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