182.
An Malwida von Meysenbug

[1210] Sils-Maria, Engadin (Schweiz),

August 1883


Meine liebe hochverehrte Freundin, oder ist es unbescheiden, wenn ich Sie so nenne? Gewiß ist, daß ich unbändig gutes Zutrauen zu Ihnen habe: und so wird es auf die Worte nicht sehr ankommen.

Ich habe einen schlimmen Sommer gehabt und habe ihn noch. Die böse Geschichte des vorigen Jahres stürzte noch einmal über mich her; und ich habe so viel hören müssen, was mir diese herrliche Natur-Einsamkeit verdorben und fast zur Hölle gemacht hat. Nach allem, was ich nun erfahren habe, ach viel zu spät? – sind diese beiden Personen Rée und Lou nicht würdig, meine Stiefelsohlen zu lecken. – Pardon für dies allzumännliche Gleichnis! Es ist ein langes Unglück, daß dieser R., ein Lügner und schleichender Verleumder von Grund aus, mir über den Lebensweg gelaufen ist. Und was habe ich lange[1210] Geduld und Mitleid mit ihm gehabt! »Es ist ein armer Bursch, man muß ihn vorwärts treiben« – wie oft habe ich mir das gesagt, wenn mir seine ärmliche und unaufrichtige Manier zu denken und zu leben Widerwillen machte! Ich vergesse den Ingrimm nicht, den ich 1876 empfand, als ich hörte, er werde mit zu Ihnen nach Sorrent kommen. Und vor zwei Jahren wiederholte sich nochmals dieser Ingrimm: ich war hier in Sils-Maria und wurde krank bei der Nachricht meiner Schwester, daß er hier heraufkommen wolle. Man soll seinen Instinkten besser vertrauen, auch den Instinkten des Widerstrebens. Aber das Schopenhauersche »Mitleiden« hat immer in meinem Leben bisher den Haupt-Unfug angestiftet – und deshalb habe ich allen Grund, solchen Moralen gut zu sein, welche noch ein paar andere Triebfedern zur Moralität rechnen und nicht unsere ganze menschliche Tüchtigkeit auf »Mitgefühle« reduzieren wollen. Dies nämlich ist nicht nur eine Weichlichkeit, über die jeder großgesinnte Hellene gelacht haben würde – sondern eine ernste praktische Gefahr. Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen, man soll mit seinem Ideale seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört, daß man sein Mitleiden hübsch im Zaume hält, und daß man, was unserm Ideale zuwider geht (wie z. B. solches Gesindel wie L. und R.) auch als Feinde behandelt. – Sie hören, wie ich mir »die Moral lese«: aber um bis zu dieser »Weisheit« zu kommen, hat es mich fast das Leben gekostet. –

Ich hätte den Sommer mit Ihnen und in dem edlen Kreise, der Sie umgibt, leben sollen: aber nun ist es zu spät!

Von ganzem Herzen Ihnen zugetan und dankbar

Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1210-1211.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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