185.
An Erwin Rohde

[1214] [Nizza, 22. Februar 1884]


Mein lieber alter Freund, ich weiß nicht, wie es zuging: aber als ich Deinen letzten Brief las und namentlich als ich das liebliche Kinderbild sah, da war mir's, als ob Du mir die Hand drücktest und mich[1214] dabei schwermütig ansähest: schwermütig als ob du sagen wolltest »Wie ist es nur möglich, daß wir so wenig noch gemein haben und wie in verschiedenen Welten leben! Und einstmals – –«

Und so, Freund, geht es mir mit allen Menschen, die mir lieb sind: alles ist vorbei, Vergangenheit, Schonung; man sieht sich noch, man redet, um nicht zu schweigen –, man schreibt sich Briefe noch, um nicht zu schweigen. Die Wahrheit aber spricht der Blick aus: und der sagt mir (ich höre es gut genug!) »Freund Nietzsche, Du bist nun ganz allein

So weit habe ich's nun wirklich gebracht. –

Inzwischen gehe ich meinen Gang weiter, eigentlich ist's eine Fahrt, eine Meerfahrt – und ich habe nicht umsonst jahrelang in der Stadt des Columbus gelebt. – –

Mein »Zarathustra« ist fertig geworden, in seinen drei Akten: den ersten hast Du, die beiden anderen hoffe ich in 4-6 Wochen Dir senden zu können. Es ist eine Art Abgrund der Zukunft, etwas Schauerliches, namentlich in seiner Glückseligkeit. Es ist alles drin mein Eigen, ohne Vorbild, Vergleich, Vorgänger; wer einmal darin gelebt hat, der kommt mit einem andern Gesichte wieder zur Welt zurück.

Aber davon soll man nicht reden. Für Dich aber, als einen homo litteratus, will ich ein Bekenntnis nicht zurückhalten – ich bilde mir ein, mit diesem Z. die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther und Goethe noch ein dritter Schritt zu tun –; sieh zu, alter Herzens-Kamerad, ob Kraft, Geschmeidigkeit und Wohllaut je schon in unserer Sprache so beieinander gewesen sind. Lies Goethen nach einer Seite meines Buchs – und Du wirst fühlen, daß jenes »Undulatorische«, das Goethen als Zeichner anhaftete, auch dem Sprachbildner nicht fremd blieb. Ich habe die strengere, männlichere Linie vor ihm voraus, ohne doch, mit Luther, unter die Rüpel zu geraten. Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. –

Verzeihung! Ich werde mich hüten, dieses Bekenntnis einem andern zu machen, aber Du hast einmal, ich glaube als der einzige, mir eine Freude an meiner Sprache ausgedrückt. –

Übrigens bin ich Dichter bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben,[1215] ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegenteil aller Dichterei tyrannisiert habe.

Ach, Freund, was für ein tolles, verschwiegenes Leben lebe ich! So allein, allein! So ohne »Kinder«!

Bleibe mir gut, ich bin's Dir wahrhaftig.

Dein F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1214-1216.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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