187.
An Franz Overbeck

[1218] Venezia, San Canciano calle nuova 5256

[Erhalten am 2. Mai 1884]


Mein lieber Freund Overbeck, im Grunde ist es doch sehr schön, daß wir uns durch die letzten Jahre nicht fremd geworden sind, und sogar, wie es scheint, durch den Zarathustra nicht. Daß ich gegen mein vierzigstes Lebensjahr sehr allein sein würde – darüber habe ich mir niemals Illusionen gemacht; und ich weiß auch dies, daß vieles Schlimme gegen mich noch unterwegs ist – ich werde in Kürze darüber belehrt werden, wie teuer man es zu zahlen hat, daß man – die dumme und falsche Sprache der ambitiosi zu gebrauchen – »nach den höchsten Kronen greift«.

Inzwischen will ich meine mir eroberte Situation gut nutzen und ausnutzen: ich bin jetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit, der unabhängigste Mann in Europa. Meine Ziele und Aufgaben sind umfänglicher als die irgendeines andern – und das, was ich große Politik nenne, gibt zum mindesten einen guten Standort und Vogelschau-Blick ab für die gegenwärtigen Dinge.

Was alle Praxis des Lebens betrifft, so bitte ich Dich, treuer und bewährter Freund, mir fürderhin nur eine Sache zu wahren, eben die[1218] größtmögliche Unabhängigkeit und Freiheit von persönlichen Rücksichten. Ich denke, Du weißt, was gerade in bezug auf mich die Mahnung Zarathustras »Werde hart!« sagen will. Mein Sinn, jedem einzelnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und im Grunde gerade das mir Feindseligste mit der größten Milde zu behandeln, ist übermäßig entwickelt und bringt Gefahr über Gefahr, nicht nur für mich, sondern für meine Aufgabe: hier ist Abhärtung nötig und, der Erziehung halber, eine gelegentliche Grausamkeit.

Verzeihung! Es klingt nicht immer gut, wenn man von sich selber redet, es riecht auch nicht immer gut.

Mit meiner Gesundheit bin ich, wie es scheint, über den Berg. Die Winter werde ich in Nizza leben, für die Sommer brauche ich eine Stadt mit großer Bibliothek, wo ich inkognito leben kann (ich habe an Stuttgart gedacht, was meinst Du?).

Dieses Jahr denke ich immer noch, wieder nach Sils-Maria zu gehen, wo mein Bücher-Korb steht – vorausgesetzt, daß ich mich gegen Zudringlichkeiten meiner Schwester besser zu schützen verstehe als voriges Jahr. Es ist wirklich eine recht bösartige Person geworden; ein Brief voll der giftigsten Verdächtigungen meines Charakters, den ich von ihr im Januar er hielt, ein artiges Seitenstück des Briefes an Frau Rée, hat mir nun hinreichend Klarheit gegeben – sie muß fort nach Paraguay. Ich selber will den Verkehr mit allen Menschen abbrechen, welche zu meiner Schwester halten: ich vertrage jetzt alles »Halb – und Halb« in bezug auf mich nicht mehr.

Hier bin ich im Hause Köselitzens, in der Stille Venedigs, und höre Musik, die vielfach selber eine Art idealisches Venedig ist. Er macht aber Fortschritte zu einer männlicheren Kunst: die neue Ouvertüre des matrimonio ist hell, streng und feurig.

Dein Freund N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1218-1219.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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