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[1043] Wie viele Kräfte jetzt im Denker zusammenkommen müssen. – Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstrakten zu erheben, – das ist wirklich einmal als Erhebung gefühlt worden: wir können es nicht ganz mehr nachempfinden. Das Schwelgen in den blassesten Wort- und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhörbaren, unfühlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer andern höheren Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren, verführerischen und bösen Welt heraus. »Diese abstracta verführen nicht mehr, aber sie können uns führen!« – dabei schwang man sich wie aufwärts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind »das Höhere« in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Daher Platos Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre notwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmählich entdeckt worden, sondern auch die Mittel der Erkenntnis überhaupt, die Zustände und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerten sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraktion, die Entsinnlichung, die Erfindung, die Ahnung, die Induktion, die Dialektik, die Deduktion, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersönliche Denkweise, die Beschaulichkeit und die Zusammenschauung und nicht am wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen alles, was da ist, nötig, – aber alle diese Mittel haben einzeln in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfindern gegeben, welche beim Aufleuchten eines letzten Zweckes in die menschliche Seele kommt.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1043.
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