[187] Wenn ein ungeheures Unglück über einen Menschen hereinbricht, zeigt sich, wieviel Starkes und Gutes in ihm war. Wenn das Schicksal ein Volk zermalmt, offenbart es seine innere Größe oder Kleinheit. Erst die äußerste Gefahr gestattet keinen Irrtum mehr über den geschichtlichen Rang einer Nation.
Uns blieb in dem größten aller Kriege das Soldatenglück versagt. Wir hatten dank unserer Energie, Arbeitskraft und Organisationsgabe einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt, wie er wenigen Völkern vergönnt und auch nur möglich war. Wir haben vier Jahre gekämpft und geduldet wie vielleicht überhaupt kein Volk zuvor, aber die Niederlage offenbarte plötzlich eine Erbärmlichkeit, die in der Weltgeschichte ohne Beispiel dasteht. Glühende Scham müßte uns ergreifen, wenn wir Fremden vor Augen treten mit dem Gedanken an das, was wir waren und was wir sind.
Aber daß die wenigsten von uns das wirklich fühlen, daß Unzählige sich in dem Unrat dieser Jahre mit Behagen betten, daß sie bereits vergessen haben, daß es anders sein könnte und anders war, das gehört zu dem, was einen in schlaflosen Nächten mit Verzweiflung überfällt.
Haben wir das verdient? Sind wir endlich dort, wohin uns unser Volkscharakter verweist? Prahlerisch im Glück, würdelos im Unglück, roh gegen Schwächere, kriechend gegen Starke, schmutzig auf der Jagd nach Vorteilen, unzuverlässig, kleinlich, ohne sittliche Kraft, ohne echten Glauben an irgend etwas, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft – sind wir das wirklich?
Nur weil es nicht so ist, weil wir endlich den trennenden Strich zwischen dem deutschen Volk und den Anstiftern und Nutznießern des Zusammenbruchs ziehen können und wollen,[187] wagen wir es, Anspruch auf eine größere Zukunft zu erheben. Aber es handelt sich hier und heute darum, rücksichtslos das Geschwür am deutschen Körper aufzusuchen, um eine lange, schleichende Krankheit zu heilen.
Es war nicht »der Marxismus«, sondern eine Partei, nicht »der Liberalismus«, sondern eine Partei, nicht »der Ultramontanismus«, sondern eine Partei; es waren nicht Weltanschauungen, sondern Genossenschaften und Gruppen mit einem organisierten Anhang und einer zielbewußten Methode, welche das Reich bekrittelten, lähmten, unterwühlten, den Krieg nach einer Pause der notgedrungenen Mitbegeisterung aussichtslos machten, wie sie vorher schon alle Rüstungen dafür niedergehalten hatten, um endlich in Beschränktheit und Selbstsucht das Staatsschiff anzubohren in dem Glauben, damit für ein Regierungsideal nach ihrem Geschmack freie Bahn zu schaffen – nicht für Deutschland, sondern für eine Partei.
Wenn ich heute auf die langsam schleichende Entwicklung dieses Unglücks zurückblicke, so scheint mir der verhängnisvolle Wendepunkt im Jahre 1877 zu liegen, damals als Bismarck Bennigsen für ein Ministerium zu gewinnen suchte. Einen Augenblick dachte der Schöpfer des Reiches daran, den Parteien die Mitverantwortung für die Verwaltung und Leitung des gewaltig aufstrebenden Landes und die schweren Aufgaben seiner Außenpolitik aufzuerlegen. Diese Parteien waren als etwas Selbstverständliches vorhanden – es war die letzte Glanzzeit des westeuropäischen Parlamentarismus; in England hatten die Konservativen damals ihr erfolgreichstes Ministerium unter Disraeli – und er selbst hatte ihnen im Reichstag ein weithin hörbares Organ gegeben. Es handelte sich darum sie zu erziehen, denn sie waren den Ideologien von 1848 gerade entwachsen und nun vor große politische Tatsachen gestellt, die einstweilen ihr Verständnis überstiegen, aber bildungsfähig und bildungswillig, weil sie sich im Strom der Entwicklung mitgezogen und gehoben fühlten.
Aber dieses Reich und sein stets außenpolitisch denkender Gründer wußten sich so stark, mit einer vielbewunderten[188] mustergültigen Verwaltung, einer ehrlichen, fleißigen, glänzend geschulten Beamtenschaft und einem siegreichen Heer, Kräften also, womit sie die schwersten Aufgaben exakt zu lösen vermochten, daß sie die Notwendigkeit nicht begriffen, weniger ein Stück Autorität preiszugeben als diese verwickelter aber sicherer zu begründen, nämlich durch Einbeziehen des heranwachsenden Parteiwesens, das bis zu diesem Augenblick als Fremdkörper unabhängig von der Regierung und gegen sie dastand. Allein es kam 1877 nicht dazu und seitdem waren Parlamentarier von jeder verantwortlichen Regierungsarbeit ausgeschlossen. Auf politische Erziehung hat sich eine deutsche Regierung nie verstanden. Hier wurde das in der Ungunst unsrer mitteleuropäischen Lage begründete Autoritätsbedürfnis verhängnisvoll. Man verzichtete auf Verständnis, eigenes Urteil und innerliche Mitarbeit des Volkes, weil man der ausgezeichneten Durchführung aller Maßnahmen sicher war. Und so wenig das Deutsche Reich es verstanden hat, das Volk zu erziehen – für das Reich – die Schulen blieben humanistisch, die Lehrer fleißig und patriotisch, aber weltfremd und politisch ahnungslos, und die Schlacht bei Marathon ist ihnen immer wichtiger erschienen als der Berliner Kongreß – so wenig erzog es Parteien und Presse, die ihm lediglich als Hindernisse der Autorität lästig waren, ohne daß es die unabsehbaren Möglichkeiten entdeckt hätte, die jedes andere Land längst in vollem Umfang ausnützte. Hätte die Regierung damals vorsichtig begonnen, einzelne begabte Parteileute mit der Führung eines Ministeriums, den politischen Leiter eines großen Blattes mit einer diplomatischen Sendung zu beauftragen, es wäre ein ganz anderer, staatsmännischer, praktischer Ehrgeiz aufgekommen und man wäre in der Kritik sehr vorsichtig geworden, da man in die Lage kommen konnte, es morgen besser machen zu müssen. So aber wurde das Parlament ohne Mitverantwortung eine Nörglerbude, verärgert über das Geschenk der Macht ohne die Erlaubnis zum Gebrauch, von hemmungsloser, zerfressender Kritik als der allein übriggebliebenen Tätigkeit besessen, öde, beschränkt, spießbürgerlich, dünkelhaft, und das Niveau sank seit dem[189] Absterben der ersten Generation immer tiefer. Zwischen den gewaltigen Leistungen der Regierung und einem Volk, das sie weder sah noch in ihrer Höhe zu werten verstand und deshalb nur über die »Lasten« schimpfte, lagerte sich nun eine immer mehr auf Verneinung gestimmte Schicht, die Spitzenorganisation der Biertische rings im Lande, ohne Verantwortungsgefühl, weil man ihr keine Verantwortung gegeben hatte, über ihre Zustimmung zu Gesetzen von Fall zu Fall mit der Regierung wie mit einer fremden und feindlichen Macht verhandelnd, nicht viel anders, als eine Räuberbande mit Reisenden über das Lösegeld verhandelt, griesgrämig oder schadenfroh und am leichtesten fast durch die Eifersucht einer Partei auf die andere zu gewinnen: das war der innerpolitische, giftige, verdummende Stil, wie er notwendig aus jenem Fehler erwuchs, der bald nach 1877 nicht mehr gutzumachen war.
Diese Parteien waren nichts weniger als Volksteile wie in England; sie waren Schwärme von Parasiten am Körper des Reiches, und das Volk, der deutsche Michel, politisch ohne jede Schulung geblieben, sah belustigt dem Zweikampf zwischen Ministern und Parteiführern zu, mit der durch jenen Mangel an Schulung bedingten Sympathie für grundsätzliche Opposition, ohne zu bemerken, daß es sich um sein eignes Schicksal handle. So erhielt diese Schicht eine Tradition des Verneinens und ein Prinzip der Auslese, das einen immer minderwertigeren Nachwuchs lieferte, und dieser vergiftete nun im Sozialismus die Arbeiterschaft durch das Gerede, daß Klassenkampf wichtiger sei als große Politik, im Liberalismus den Mittelstand mit der Ansicht, daß Wirtschaftspolitik wichtiger sei als diese, im Zentrum die Katholiken mit der Gewöhnung, der großen Politik wie einer fremden Angelegenheit die Mittel nur gegen die Befriedigung von Parteiansprüchen zu bewilligen. In allen Fällen schwand das Verständnis für diese Politik, die einzige, die über das Dasein der Völker entscheidet und die seit dem Berliner Kongreß von 1878 mit wachsender Energie rings um uns betrieben wurde; es schwand im Volke, in den Parteien und endlich in der von Aufgaben ferngehaltenen Presse, die sehr im Gegensatz zur vormärzlichen[190] Zeit mehr und mehr dem Geschmack kleinbürgerlichen Besserwissens diente.
Ein Nachwuchs ist soviel wert wie die höchste erreichbare Macht: das ist das Geheimnis Napoleons von dem Marschallstab im Tornister jedes Soldaten. Da die Laufbahn des Abgeordneten – und des politischen Zeitungsleiters – eine Sackgasse geworden war, so sammelten sich in ihr die kleinen Streber, Nörgler, Kannegießer und Rechthaber, alles was ohne eigne Begabung in der Nähe von deutschem Bier wächst. Persönlichkeiten gingen nicht hinein; sie verschwanden in die Industrie und ins Ausland. Die Politik verkümmerte aus Mangel an Begabungen, denn als Gegenwirkung erreichte diese Parteitätigkeit, daß die Regierung alles Diplomatische mit Betonung als interne Verwaltungsaufgabe und deshalb mehr schematisch als taktisch behandelte. Sie arbeitete allein, und man betrachtete diese Arbeit zuletzt fast als die Privatsache ihrer Vertreter. Und infolge davon gab es, da Schule, Parteien und Presse gleichmäßig versagten, in dieser Zeit der herannahenden Entladung überhaupt keine politische Aufklärung mehr. Das deutsche Volk hat vor dem Kriege seine furchtbar gefährdete und vielleicht schon hoffnungslose Lage nicht gekannt; es ahnte sie während des Krieges nicht und es ist heute noch ebensoweit davon entfernt, denn diese drei politischen Erzieher moderner Völker sind, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, seitdem noch tiefer gesunken, und zwar die Parteien voran.
Was man heute Nationalismus nennt, ist nichts als das Bewußtsein der führenden Schichten aller Völker für die ungeheuren Gefahren der Weltlage, seit der Krieg alle Verhältnisse aufgelockert hat. Es besteht die Möglichkeit, daß bei den kommenden Entladungen ganze Staaten und Völker verschwinden, wie es mit dem habsburgischen Reich und der russischen Oberschicht schon der Fall war. Die verantwortlichen Kreise aller Völker sind auf dem Posten – nur die Narren, Feiglinge und Verbrecher, die bei uns an deren Stelle stehen, glauben oder geben vor zu glauben, daß der Verzicht auf Weltpolitik vor ihren Folgen schütze.[191]
Diese Parteien hielten auch nach 1914 an der liberalen Alleinschätzung der Wirtschaftspolitik und der sozialistischen des Klassenkampfes fest, und da die Regierung Bethmann-Hollweg, schwach und verständnislos wie sie war und darin ganz der französischen von 1789 gleichend, den Parteiklüngel in seiner schon damals sehr fragwürdigen Zusammensetzung reizte statt ihn zu lenken, was einem Minister englischer Schulung leicht geworden wäre, und ihm gleich darauf durch Schmeicheleien seine Unentbehrlichkeit bewies, so wurden die Fraktionen durch den Begeisterungssturm von 1914 zwar zum Schweigen gebracht, aber nicht überzeugt. Die einen wollten diesen mächtigen Staat schwach sehen, die andern wollten ihn gar nicht. »Deutschland soll, das ist unser fester Wille, seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letzte Mal siegreich heimgebracht zu haben«, das war das geheime Ziel der grundsätzlichen Opposition, und als die politisch unerzogene und über die Gefahr getäuschte Masse die Dauer des Krieges mit Angst und Verstimmung zu empfinden begann, gingen sie ans Werk. Der Sturz des Staates in der nebensächlichen Person Bethmanns war der erste, der Stoß in den Rücken der Armee der zweite Schritt.
Und hier offenbarte sich nun, was für ein Material die Regierung in den Parteien herangezüchtet hatte. Während man den Feinden die ganze Schwäche der Lage offenbarte, durch das beklommene oder ideologische Friedensgeschwätz in Parlament und Presse und die Erhebung des Ministerstürzens zum täglichen Sport, und während man aus dem Staatsbau einen Block nach dem andern herausbrach und das letzte Unglück wie eine düstere Wolke sich immer schwerer über Deutschland senkte, beginnt das Vollstopfen der hohen Ämter und der oft genug zu diesem Zweck gegründeten Kriegsgesellschaften mit Parteifreunden und Vertrauenspersonen, die man vom Frontdienst befreit oder mit einträglichen Lieferungen versieht; die Außenpolitik wird eine nicht weniger einträgliche Unternehmung von Privatpersonen auf eigene Faust, wie die Vorgeschichte der östlichen Friedensschlüsse eines Tages lehren wird, und je weiter die Macht des Parteiklüngels[192] wuchs, seit er jede Regierung kommandieren und jeden Posten vergeben konnte, desto mehr schwoll der Anhang zweifelhaftester Elemente, die politischen Einfluß oder auch gleich das Geschäft selbst haben wollten.
Darüber brach das Volk seelisch zusammen, der Staat löste sich von oben herab auf, das Heer verlor den sittlichen Halt, was am 8. August 1918 bei Cambrai zum ersten Mal erschreckend zutage trat, und es erfolgte der in der Geschichte bis dahin unerhörte Schritt von ehrfurchtgebietender Größe in allem, was Geist, Leistung, Höhe des Wollens und Fühlens betraf, zum Gemeinen und Gemeinsten – und über den Trümmern der deutschen Weltmacht, über zwei Millionen Leichen umsonst gefallener Helden, über dem in Elend und Seelenqual vergehenden Volke wird nun in Weimar mit lächelndem Behagen die Diktatur des Parteiklüngels aufgerichtet, derselben Gemeinschaft beschränktester und schmutzigster Interessen, welche seit 1917 unsere Stellung untergraben und jede Art von Verrat begangen hatte, vom Sturz fähiger Leute ihrer Leistungen wegen bis zu eignen Leistungen im Einverständnis mit Northcliffe, mit Trotzki, selbst mit Clémenceau. Es war die letzte Wiederholung des Reichstagsbeschlusses vom 23. März 1895, dem Gründer des Reiches den Glückwunsch zu versagen. Diese Genossenschaft, die 1919 nicht gewählt wurde, sondern sich wählen ließ, war in nichts verschieden von den Bolschewisten in Moskau, wenn nicht in der Erbärmlichkeit des Wollens und Handelns: ebensowenig zahlreich, ebenso entschlossen obenauf zu bleiben, ebensowenig geneigt irgend etwas wieder aus den Händen zu lassen; aber dort, um ein trotz allem groß gedachtes Weltziel zu erreichen und mit furchtbarer Energie durch Ströme von Blut ihm entgegen zu waten; hier, um die Erbschaft in Sicherheit zu bringen und dafür dem Feinde jede Erlaubnis um jeden Preis abzukaufen. Nachdem sich die Helden der Koalition vor dem Einsturz in alle Winkel geflüchtet hatten, kamen sie mit plötzlichem Eifer wieder hervor, als sie die Spartakisten allein über der Beute sahen. Aus der Angst um den Beuteanteil entstand auf den großherzoglichen Samtsesseln[193] und in den Kneipen von Weimar die deutsche Republik, keine Staatsform, sondern eine Firma. In ihren Satzungen ist nicht vom Volk die Rede, sondern von Parteien; nicht von Macht, von Ehre und Größe, sondern von Parteien. Wir haben kein Vaterland mehr, sondern Parteien; keine Rechte, sondern Parteien; kein Ziel, keine Zukunft mehr, sondern Interessen von Parteien. Und diese Parteien – noch einmal: keine Volksteile, sondern Erwerbsgesellschaften mit einem bezahlten Beamtenapparat, die sich zu amerikanischen Parteien verhielten wie ein Trödelgeschäft zu einem Warenhaus – entschlossen sich dem Feinde alles was er wünschte auszuliefern, jede Forderung zu unterschreiben, den Mut zu immer weitergehenden Ansprüchen in ihm aufzuwecken, nur um im Innern ihren eigenen Zielen nachgehen zu können. Sie waren entschlossen, jeden Grundsatz, jede Idee, jeden Paragraphen der eben beschworenen Verfassung für ein Linsengericht von Ministersitzen preiszugeben. Sie hatten diese Verfassung für sich und ihre Gefolgschaft gemacht, nicht für die Nation, und sie begannen vom Waffenstillstand bis zur Ruhrkapitulation eine schmachvolle Wirtschaft mit allem, woraus Vorteil zu ziehen war, mit den Trümmern des Staates, mit den Resten unseres Wohlstandes, mit unserer Ehre, unserer Seele, unserer Willenskraft. In Weimar betranken sich die bekanntesten Helden dieses Possenspiels an dem Tage, wo in Versailles unterzeichnet wurde, und es geschah nicht viel später, daß mit großen Ämtern ausgestattete Führer des Proletariats sich in einer Berliner Schiebervilla mit Nackttänzerinnen betranken, während Arbeiterdeputationen vor der Tür warteten. Das ist kein Zwischenfall, sondern ein Symbol. So ist der deutsche Parlamentarismus. Seit fünf Jahren keine Tat, kein Entschluß, kein Gedanke, nicht einmal eine Haltung, aber inzwischen bekamen diese Proletarier Landsitze und reiche Schwiegersöhne, und bürgerliche Hungerleider mit geschäftlicher Begabung wurden plötzlich stumm, wenn im Fraktionszimmer hinter einem eben bekämpften Gesetzantrag der Schatten eines Konzerns sichtbar wurde. Was unbeteiligt blieb, oft ohne den Sinn der Vorgänge ringsumher überhaupt zu ahnen,[194] war durch seine völlige Belanglosigkeit ohnehin dazu verurteilt.
Es ist vollkommen richtig, daß die alt und satt gewordene Demokratie auf der ganzen Welt diese Bahnen geht. Der amerikanische Ölskandal hat die Kriegsgeschäfte beider Parteien beleuchtet, und von Frankreich wissen wir nun, wie man durch den Wiederaufbau nicht zerstörter Gebiete und die nationale Leidenschaft der Presse zu einem Vermögen kommen kann, ohne ein Betriebskapital, es sei denn die Freundschaft mit einem Minister.
Der politische Einfluß der führenden deutschen Wirtschaft (außer der östlichen Landwirtschaft) wurde vor dem Kriege bei weitem überschätzt. Selbst in sehr ernsten Lagen war ihre Rolle beratender Natur und oft nicht einmal das. Maßgebend war letzten Endes immer der eifersüchtig gewahrte Einfluß der hohen Verwaltung auf politische Entschlüsse. Vor allem die Großindustrie besaß weder politischen Horizont noch Energie noch Folgerichtigkeit, sehr im Gegensatz zur englischen, die von jeher infolge einer alten Tradition in ständiger Berührung und im Einvernehmen mit der hohen Politik lebte. Nach dem Zusammenbruch traten diese Kreise als Mächte hervor, nicht durch eigenen Entschluß, sondern weil die politische Macht plötzlich nicht mehr da war, aber sie sind damit politisch weder aktiver noch weitsichtiger geworden. Das gilt von der großen Industrie und der Landwirtschaft, also von der an den Ort gebundenen nationalen Arbeit. Die nichtproduktive Wirtschaft, von der eigentlichen Hochfinanz bis zu den Konzernen mit Halb- und Scheinindustrie, bei denen das Handelsgeschäft, unter Umständen die bloße Valutaspekulation, durch Beteiligung an der Produktion nur verdeckt wurde, begriff dagegen sehr bald die Vorteile der neuen Lage. Seit die Politik ein Geschäft geworden war, bekamen die Geschäfte politische Bedeutung. Und während in Frankreich der Schwerpunkt wirtschaftlichen Einflusses auf die große Politik sich deutlich von der reinen Hochfinanz zur Schwerindustrie verlagerte, ging er in Deutschland in ganz anderem Tempo von der ostdeutschen Landwirtschaft zur Finanzwelt hinüber.[195] Diese Kreise traten in engste Verbindung mit dem Teil des regierenden Parteiklüngels, der ihren Überlegungen zu folgen vermochte, und sie haben es ausgezeichnet verstanden, durch ihre Trabanten in den Parteien und der demokratischen Presse diese Interessengemeinschaft durch die der öffentlichen Meinung eingepflanzte Legende zu decken, daß im Gegenteil Industrie und Landwirtschaft einen beständigen Druck auf die Regierung ausübten. Die Folgen traten in der gesamten Wirtschafts- und Steuerpolitik immer ernster hervor; der Ertrag des unbeweglichen Teils des deutschen Volksvermögens wurde langsam geopfert, um den Fortbestand der Erträge aus den beweglichen und nicht an die Landesgrenzen gebundenen Vermögen zu sichern.
Revolutionäre Parlamente sind praktisch wenig wert: Viel spießbürgerliche Gesinnungstüchtigkeit, wenig Blick für Tatsachen und gar keine Erfahrung. Der Minister Roland sagte 1791 von der neuen gesetzgebenden Versammlung in Paris: »Was mich am meisten überrascht, ist die allgemeine Mittelmäßigkeit. Sie übersteigt alles, was die Einbildung sich vorstellen kann.« Das deutsche Abgeordnetenmaterial war schon vor dem Kriege weniger als mittelmäßig, da es keine wirkliche Aufgabe vorfand, aber es war bei aller Urteilslosigkeit ehrlich. Jetzt waren die Aufgaben da, aber sie bestanden, wie es zum innersten Wesen der Erbschaft des Zusammenbruchs gehört, in privaten Vorteilen, angefangen von dem Besitz einer Bahnfreikarte, die in den Zeiten der Markentwertung die schönsten geschäftlichen Beziehungen erschloß, bis hinauf zum Ministersessel, und diese Aussichten zogen ganz andere Geister an. »Die Politik ist die Fortsetzung der Privatgeschäfte mit anderen Mitteln« sollte als Wahlspruch über dieser Demokratie allerneuesten Gepräges stehen. Wenn selbst diesen Geschäften die Größe fehlte – Ausnahmen wie billig abgerechnet –, so hat der gute Wille doch nie gefehlt.
Während man in der ganzen Welt daran ging zu sparen, Schulden abzutragen, die Wirtschaft wieder aufzubauen, die marxistische Mode der letzten Kriegsjahre zurückzudrängen, die nichts war als der Versuch, ganze Völker und Staaten zu[196] Objekten der Ausbeutung durch eine einzelne Klasse oder vielmehr deren selbsternannte Vertreter zu machen, begann die Ausbeutung Deutschlands durch die Gewerkschaft seiner sich selbst bezahlenden Befreier. Tausende von Posten wurden geschaffen, bis in die Dörfer hinein, Ministerien gegründet, Ausschüsse niedergesetzt; die Zwangswirtschaft wird aufrechterhalten, alles der bezahlten Stellen wegen; die Verstaatlichung von Privatbetrieben eingeleitet, der neuen Stellen wegen. Mochte aus den Überschüssen dieser Betriebe sofort ein Defizit werden, das Prinzip wurde hochgehalten, und dieses Prinzip hieß Versorgung. Ministerpensionen blühten zu Hunderten in der Maiensonne des republikanischen Deutschland auf und hinter dem Ministertanz erblickte man die offenen Mäuler und gierigen Augen von tausend Partei- und Gewerkschaftssekretären, Parteijournalisten, Vettern, Geschäftsfreunden, die noch nicht daran gekommen waren und für die immer neue Ausschüsse gebildet und neue Verordnungen durchgeführt werden mußten. 1922 erhielt ein Gewerkschaftsbeamter eines der höchsten Verwaltungsämter in Preußen mit der Begründung, daß er der letzte seiner Altersklasse sei, der noch keinen Auftrag erhalten habe. Die Außenpolitik empfand man mehr und mehr als Störung dieses rühmlichen Betriebes, und man wird einst wissen, daß unter dem Namen Erfüllungspolitik dem Feind ein Fetzen Deutschlands nach dem andern hingeworfen wurde, damit man endlich im Innern seinen Zielen wieder nachgehen könne, unterstützt oder auch geleitet von einer in Deutschland aufblühenden Franzosenpresse und von Zeit zu Zeit erschreckt durch den von Frankreich finanzierten Kommunismus.
Die Ministersitze wurden bei den ewig wechselnden Koalitionen als Beute ausgeteilt, ohne Rücksicht auf Eignung, Arbeitswillen oder Arbeitskraft. Die großen Ämter zerfielen, ohne sachverständige Leitung, sich selbst überlassen, überfüllt, durch Parteikreaturen verseucht; die einst berühmte Verwaltung hielt sich kaum von Tag zu Tag. Die Gesetze, die von der alten Regierung stets musterhaft vorbereitet waren, wurden als Rohmaterial eingebracht, um im Verlauf der Sitzung einigermaßen in Form geschwatzt zu werden, während man[197] die Herstellung ihrer Brauchbarkeit den künftigen Ausführungsbestimmungen überließ.
Alles das unternahm die Koalition von 1917 zunächst allein. Dann aber kam ein Augenblick, für dessen Würdigung es einem verhungernden Volk an Humor fehlt. Ein Jahr lang hatte die unter der Firma des Wiederaufbaus gegründete Deutsche Volkspartei zugesehen; das Wasser lief ihr im Munde zusammen, dann hielt sie sich nicht mehr. Wir erlebten, daß Judas sich mit den übrigen Aposteln in die dreißig Silberlinge teilen mußte. Und von da an war für ein paar Ministersitze jede Verständigung zu haben, zwischen den Anstiftern und den Nutznießern des Zusammenbruchs, bis zu der glorreichen Erklärung, welche diese Partei eines Tages im Reichstag abgab: sie müsse bei dem vorliegenden Gesetz den Sozialisten gegenüber die entgegengesetzte Auffassung vertreten wie gleichzeitig im preußischen Landtag, weil die Koalition dort eine andere sei. Marxismus und Monarchie waren – wie sagt man doch? – ohne Börsennotiz, um den neuen Trust nicht zu belasten, und seitdem gab es keine Hemmung mehr. Der demokratischen Presse war man sicher (zum Teil war es wohl auch umgekehrt), des feindlichen Auslandes auch, insofern man entschlossen war, etwaige Reste von nationalem Stolz und Recht wie etwa im Falle der Schuldfrage nur in unverbindlichen Privatunterhaltungen – der Wähler wegen – zu vertreten. Es gab von nun an kein Gesetz mehr, das die Urheber nicht selbst mit Füßen getreten hätten wie das über die Präsidentenwahl; keinen Tadel, den sie nicht lächelnd ertrugen; es gibt keinen Schmutz, keine Feigheit, keine Lüge, die nicht alltäglich geworden wären. Und als die Entrüstung und das Gelächter im Lande die Furcht heraufbeschwor, daß man dort eines Tages nicht mehr an sich halten werde, schufen sie das Republik-Schutzgesetz, das Gesetz zum Schütze dieser Firma, und dessen Annahme wurde durch die Drohung mit der Reichstagsauflösung mühelos erzielt, die den Abgeordneten ihre Diäten gekostet hätte.
Auf den Straßen der deutschen Städte drängte sich das nackte Elend. Die Menschen trotteten von Geschäft zu Geschäft, zerlumpt,[198] stumpf, freudlos, die Blicke auf nichts als auf die fortgesetzt wachsenden Preisziffern gerichtet; vor den Milchläden bildeten sich in Kälte und Regen die Polonäsen aus der Kriegszeit. Die Kinder, soweit sie geboren wurden und nicht bald starben, blieben klein, jammervoll, ein erschreckender Ausblick auf die Zukunft unserer Rasse. Zu Krüppeln geschossene Offiziere dienten als Hausdiener in Gasthöfen, Studenten fegten die Straße, Leute, die in harter Lebensarbeit wohlhabend geworden waren, trugen von Almosenstellen ein Brot nach Hause. Aber im Reichstag ging indessen eine andere Polonäse an der Präsenzliste vorüber, wo man durch Eintrag den Anspruch auf Diäten erhielt, um dann wieder seinen Geschäften nachzugehen, und diese Diäten blieben nicht hinter der Mark zurück. Es wurde immer wieder dafür plädiert, sie auch außerhalb der Session zu zahlen, und es geschah nichts, als eines Tages ein Abgeordneter den Namen für seinen Kollegen eintrug – aber als in einem fremden Lande ein fremdes Volk den für seine Befreiung gefallenen deutschen Helden ein Denkmal errichtete, erschien ein Vertreter Deutschlands, um die mit einem Kranz erschienenen deutschen Studenten zur Umkehr zu bewegen, und als in Leipzig die Verhandlungen gegen die sogenannten Kriegsverbrecher fortgesetzt werden sollten, erfolgte eine amtliche Anfrage, ob man denn auch mit Verurteilungen rechnen dürfe.
Und als endlich das durch die Städte schleichende Hungersterben, das nicht mehr zu ertragende leibliche und seelische Leid in der Zeit wahnsinnigster Geldentwertung ein dumpfes Grollen entstehen ließ, da war es nicht die Scham, nicht ein Rest von Ehrgefühl, sondern nur die Angst dieser Piraten des Parlamentarismus, welche ihnen eine Art Zurückhaltung und das Zurschaustellen eines plötzlich erwachenden Gefühls der Verantwortung nahelegte. Zuerst die Angst um die innerpolitischen Folgen des Marksturzes, dann die Angst für den »Rentenmarkfrieden«, der das gequälte Volk bis auf weiteres harmlos erscheinen ließ. Aber ich sehe in den Wortführern dieses Systems einen letzten Wunsch heimlich aufdämmern, schurkischer als alle, die voraufgegangen sind: den Wunsch,[199] sich den Folgen einer Umstimmung des Volkes endgültig dadurch zu entziehen, daß man bei der Verwandlung Deutschlands in eine Reparationskolonie, in ein europäisches Indien – ein Plan, der überhaupt erst durch die Erfüllungspolitik bis zu seiner heutigen Selbstverständlichkeit getrieben werden konnte – sich als Vollzugsorgan von den Gegnern legitimieren und seine Stellung damit von jeder inneren Krise unabhängig machen läßt.
Angesichts dieser fünfjährigen Orgie von Unfähigkeit, Feigheit und Gemeinheit kann man nur in bitterer Sorge auf die nationale Rechte sehen, die sich heute als Vergelterin und Treuhänderin der Zukunft zur Übernahme der Geschäfte rüstet. Sie hat alles, was zum Begriff eines Ehrenmannes gehört, viel selbstlose Unterordnung, viel Opferbereitschaft, private Sauberkeit, Treue, aber sie besitzt nichts an staatsmännischen Fähigkeiten, wie sie in Deutschland nie etwas davon besessen hat, und sie ist heute zur Führung der Staatsgeschäfte genau so wenig reif wie damals, als sie Bismarck 1872 den Krieg erklärte.
Es ist ein folgenschwerer Irrtum konservativer Kreise gerade in revolutionären Zeiten, daß Ehrlichkeit, tadellose Gesinnung und Wärme des Gefühls einen Mangel an Intelligenz aufwiegen könnten. Oder richtiger, man begreift gerade infolge dieses Mangels die taktische Überlegenheit der Gegenseite nicht, die immer einer eingewurzelten Tradition – oder ererbten Vorurteilen – die klügeren Köpfe entgegenstellt. Man verfolge in den letzten Jahren Mirabeaus das verzweifelte Ringen mit dem Hofe, um diesem in Gestalt fähiger Männer die Entschlossenheit und Einsicht aufzudrängen, deren Mangel er gar nicht empfand. Aber das Ziel der Politik ist doch der Erfolg, nur der Erfolg, der nicht durch den guten Willen, sondern eine wenn auch noch so unbedenkliche Begabung verbürgt wird. Das Schauspiel nicht nur in Deutschland, sondern in allen späten und reifen Kulturen der Welt ist immer das gleiche: links die größere Intelligenz, aus Mangel an geschäftlicher Tradition oft unsicher; rechts »Gesinnung«, auch[200] amtliche und diplomatische Erfahrung, aber durch den Mangel an Intelligenz zum Mißerfolg verurteilt. Auf beiden Seiten ist man schließlich auf den Glücksfall angewiesen, daß Männer von überlegenem Instinkt und großer Energie wie Cromwell oder Napoleon die Sache in die Hand nehmen, wobei man wieder links in der Regel die willigere und verständnisvollere Gefolgschaft findet. Nur in England sind die Konservativen den Liberalen auch an Intelligenz zum mindesten gewachsen; das ist das Ergebnis einer unvergleichlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Erziehung glücklicher Anlagen, und zwar durch die Gewöhnung an eine geschäftliche Tätigkeit großen Stils. Der Handel steht in seinen geistigen Methoden der Diplomatie nun einmal näher als Industrie und Landwirtschaft mit ihrer größeren Verwandtschaft zu Verwaltung und Organisation. Wenn wir nicht über den Horizont von Fontanes »Stechlin« hinauskommen, was die beschränkte Abneigung konservativer Kreise gegen die Geschäftswelt überhaupt zu fürchten allen Anlaß gibt, werden wir demnächst nichts als eine nationale Episode in der Schandgeschichte der deutschen Revolution erleben, und die Folgen davon hat sich offenbar noch niemand klar gemacht.
Ich schrieb 1919 in »Preußentum und Sozialismus«, daß wir infolge unserer mißglückten Revolution eine Direktorialzeit vor dem Thermidor durchleben. Das dauert nun vier Jahre, und in der Unterbrechung mit unzulänglichen Mitteln liegt heute die Gefahr der inneren Lage. Was man allgemein zu wenig kennt, sowohl die Tatsachen als vor allem die seelischen Gründe, ist aber eben diese Direktorialzeit, die zweite Schreckenszeit der französischen Revolution, deren Einzelheiten gemeiner, trostloser, furchtbarer sind als die der ersten, weil ihnen jede Spur von Größe fehlt; sie besaß keinen Glauben an Ideen, Ziele, Einrichtungen, keine Persönlichkeit, keine Tat, nicht einmal die Zuversicht auf die Dauer der eigenen Herrschaft. Es handelt sich in ihr um die Rettung nicht der Revolution, sondern der Revolutionäre, wie Sieyès 1795 sagte. Wir pflegen die Ereignisse so zu sehen: 1789 der Bastillesturm, dann der Königsmord, die Schreckenszeit, dann[201] Robespierre, dann Napoleon. Aber Robespierre verschwand im Sommer 1794 und Napoleon kam im Herbst 1799: dazwischen liegen fünf grauenvolle Jahre, um die sich heute niemand kümmert, weil sie dem Historiker nichts Versöhnliches bieten, keinen Mann, keine Schöpfung, kein Ereignis – denn die Feldzüge Napoleons in Italien und Ägypten haben mit der Lage in Frankreich gar nichts zu tun – nur Unfähigkeit und Schmutz. Aber sie waren da, und daß dies möglich war, ist ein Problem, das uns mit Rücksicht auf unsere eigne nächste Zukunft sehr ernst beschäftigen sollte. Wie kam es zu diesem Rückfall in die Schreckenszeit? Nach der Hinrichtung Robespierres schien es keinen Halt in der Beseitigung seines Systems mehr zu geben. Der Jakobinerklub wurde geschlossen, seine Anhänger verschwanden allenthalben aus der Öffentlichkeit. Anfang Juni 1795 rechnete man in Paris täglich mit der Ausrufung des Königtums, die nur dadurch aufgehalten wurde, daß der junge Prinz in diesem Augenblick im Temple starb. Es erscheint die jeunesse dorée, entschlossene junge Leute, die von den Jakobinern genug hatten und mit Fäusten und Stöcken, unbekümmert um die schweren Fragen der Politik, Verwaltung und Wirtschaft, die neue Epoche einleiten wollten. Nun, die Völkischen sind die jeunesse dorée von heute, aus derselben Ursache hervorgegangen, von demselben Geist getragen. Sie haben die gleiche leicht entzündliche Begeisterung, den gleichen Tatendrang, dieselbe Ehrlichkeit und dieselbe Beschränktheit. Weder die einen noch die andern ahnten etwas von der Schwere staatsmännischer Aufgaben in einem durch und durch verwüsteten Lande; sie sahen auf kühle Erwägungen verächtlich herab und sie hatten wenig Lust, sich ernsthaft um prosaische Einzelheiten der Währung, der Arbeitslage, der Verwaltung, der Finanzen und auswärtigen Beziehungen zu kümmern. Es war genug, wenn die Jakobiner ihre Stöcke auf den Rücken fühlten. Die kurze Geschichte dieser Bewegung ist noch nicht geschrieben, aber der Mangel an Verständnis war damals der gleiche wie heute, wo er Realpolitik auf Rassegefühle aufbauen möchte. Diese Gefühle mögen noch so allverbreitet, tief und[202] natürlich sein, sie sind keine Unterlage für große Politik, mit der ein Land regiert oder gerettet werden soll. Jede Staatskunst und jeder gesunde Volksinstinkt nimmt Begabungen, wo er sie findet, die Franzosen in Napoleon einen Italiener, die englischen Konservativen in Disraeli einen Juden, der russische Adel und Klerus in Katharina II. eine Deutsche. Und in keinem politisch erzogenen Volk der Welt geht man davon aus, obwohl die Engländer und Amerikaner in Rassefragen sicher leidenschaftlicher fühlen als die meisten Deutschen. Dies und die kindlichen wirtschaftlichen Ansichten und Utopien sind so verzweifelt deutsch im übelsten Sinne, so michelhaft und provinzial, und schneiden die völkische Bewegung und damit die in ihr ruhende gewaltige Stoßkraft so vollkommen von allem ab, was durch Begabung, Erfahrung, Macht und Beziehungen politisch und wirtschaftlich ernst zu nehmen ist, daß diese Bewegung bestimmt zu sein scheint, den Boden aufzuwühlen, aber nur um einer gefährlichen Gegenströmung Platz zu machen.1 Man wird sagen, daß sie wenigstens als Pflugschar einer größeren Zukunft zählt, aber die jeunesse dorée hat nicht einmal das geleistet. Sie hat das Jakobinertum noch einmal lebensfähig gemacht und sonst nichts. Die Revolution ist erst durch Napoleon endgültig überwunden worden.
Die Weltwirtschaft hat ihre Formen und Mittel, als Ergebnis ihrer Entwicklung, und Deutschland ist gezwungen, in ihrem Rahmen zu arbeiten oder überhaupt nicht zu arbeiten. In Rußland hat der Versuch, sich über diese Tatsache hinwegzusetzen, dreißig Millionen Menschen das Leben gekostet[203] mit dem Erfolg, daß man nun wieder den Weg rückwärts sucht, um wenigstens das Dasein von Wilden führen zu können. Aber Rußland versorgt sich selbst. In Deutschland, das auf Import, Export und Kredit angewiesen ist, würde der geringste Versuch, die bestehenden Formen der Kreditverzinsung zu erschüttern oder die bestehenden Finanzmächte nicht als Mächte zu behandeln, zu einer Katastrophe führen, die uns in einigen Wochen in dieselbe Lage bringt. Es kommt in der Wirtschaft, worüber sich selbst Kenner manchmal täuschen, viel weniger auf die »Richtigkeit« von Ansichten und die Vorzüge neuer Methoden an als auf das, was die führenden Wirtschaftsgrößen der Welt als ihre Methode anwenden wollen. Die bessere Einsicht von Theoretikern spielt gar keine Rolle, und ebenso kommt es in der hohen Politik nicht auf Langschädel an, sondern auf das, was darin ist. Auf das Treiben der jeunesse dorée, das niemand ein Gefühl der Sicherheit geben konnte, und auf den unter völliger Verkennung der Lage versuchten Putsch der Königlichen vom Vendémiaire 1795, den der Konvent in plötzlicher Angst durch Bonaparte zusammenschießen ließ, erhielten die Jakobiner unerwartete Aussichten; man schätzte ihre politische Erfahrung immerhin noch etwas höher ein und sie machten von dieser Ansicht Gebrauch. Alle Ämter bis zu den Konsulaten im Ausland und den Ortsverwaltungen herab wurden wieder mit ihrem Anhang besetzt. Außer den Emigranten wurde nun deren ganze Verwandtschaft bis zum dritten Grade von allen Ämtern und selbst den Gerichten ausgeschlossen. Die Wahlen von 1797 nahmen den Jakobinern trotzdem das Gefühl der Sicherheit, und ebenso der neuen Finanzwelt, die ihre Vermögen aus dem Blut der Guillotine gefischt hatte. Durch den Staatsstreich vom Fruktidor des Jahres, zu dem Bonaparte wieder die Truppen stellte, um sein Kommando nicht zu verlieren, wurden die Wahlen der Gegner kassiert, mehrere hundert Abgeordnete, Journalisten, Beamte, sogar zwei von den fünf Direktoren verhaftet und nach Cayenne deportiert, die Zeitungen der Rechten unterdrückt, der Jakobinerklub wieder ins Leben gerufen, und nun erfolgt ein Blutregiment, das zynisch war, weil ihm jeder[204] Glaube an die vertretenen Ideen fehlte. Die erste und sehr bezeichnende Maßregel war, daß man die Untersuchung gegen die Lieferanten der Jourdanschen Armee wegen Unterschlagung einstellte. Die Emigrantenlisten wurden wieder hervorgesucht und jeder Zurückgekehrte zum Tode verurteilt. Es wurde ausdrücklich verboten, die Listen zu prüfen, obwohl jeder wußte, daß Unzählige, die ruhig im Lande geblieben waren, oft ohne es zu ahnen von persönlichen und politischen Feinden darauf gesetzt waren. Sie wurden zu Hunderten erschossen; die Güter fielen in die Hände der Jakobiner und ihrer Freunde; dem Adel wurde in aller Form das Bürgerrecht entzogen; erst jetzt und nicht 1793 brach er innerlich zusammen. Tausende von zurückgekehrten Priestern wurden eingesperrt, deportiert oder hingerichtet. Die »terroristische Reaktion« (Taine) erließ ein Geiselgesetz, wonach für jede Handlung gegen einen Jakobiner vier Personen mit ihrem Leben zu haften hatten. Ein Staatsstreich folgte dem andern; infolgedessen waren die Wahlen von 1798 fast, die von 1799 ganz radikal; erst diese Zeit (1796) brachte den großen Assignatensturz und eine kaum glaubliche Korruption. Damals haben die Direktoren – liegen uns solche Möglichkeiten wirklich so fern? – für eine geheime Zahlung von zwei Millionen Pfund England den Frieden und die Abtretung von Ceylon und dem Kapland angeboten: das ist das Erbe der jeunesse dorée.
Nicht von Rechten oder Verfassungen, nicht von Idealen und Programmen, nicht einmal von sittlichen Grundsätzen oder Rassetrieben hängt das Schicksal eines Volkes ab, sondern zunächst und vor allem von den Fähigkeiten der regierenden Minderheit. Wir müssen solche Fähigkeiten züchten oder zugrunde gehen, und wir brauchen politische Formen, die züchtend wirken, so wie der Generalstab des alten Heeres Feldherrn und der römische Senat Staatsmänner gezüchtet hat. Alles andere ist vorhanden oder Nebensache. Die Kunst des Regierens ist nicht das erste, sondern das einzige Problem der großen Politik. Alles andere folgt aus ihr. Diese Kunst hat die Weltgeschichte gemacht. Sie hat winzige Völker auf die Höhe der Entscheidungen gehoben und große vernichtet.[205] Ein Prinzip zu haben, unter dessen Wirkung die gebornen Führer dorthin kommen, wo man sie braucht; eine politische Erziehung, welche die zugehörigen Anlagen weckt, schult, heraustreibt, die entgegengesetzten niederhält; eine Tradition herausbilden, welche alles dies fast unbemerkt und in Vollendung leistet – das ist der Sinn jeder Verfassung, in der sich ein Volk befindet, ob sie nun von einem Herrscher gegeben oder von einer Versammlung beschlossen ist, ob sie in Paragraphen oder Gewohnheiten besteht. »Rechte des Volkes« sind lächerlich, solange man darunter die Freiheit versteht, sich von Parteien verderben zu lassen. Es gibt nur ein Volksrecht: das auf die Leistungen derer, welche regieren. Wenn in der großen Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die »Fürstenfreiheit« durch Völkerfreiheit ersetzt werden sollte, so konnte ein Sinn nur dann darin liegen, wenn die Auslese der Regierenden besser, deren Methoden erfolgreicher, ihre Leistungen größer wurden. Die Probe hatte das vorige Jahrhundert zu liefern und es hat das Urteil über die demokratische Methode gefällt. Die Wende zum 20. Jahrhundert ist bezeichnet durch die notgedrungene, für den Fortbestand der großen Nationen nicht mehr aufschiebbare Überwindung der europäisch-amerikanischen Demokratie oder vielmehr dessen, was sie als Verwirklichung ihrer Idee hervorgebracht hat: Herrschaft der Hochfinanz, Nepotenwirtschaft der Parteien statt Souveränität des Volkes, dessen Entmündigung durch Wahlorganisation, Bezahlung der Wahlen und Gewählten und Kauf der Presse, eine Entwicklung, die nur dort nicht zum Unsinn führte, wo eine alte Aristokratie unter Benutzung der neuen Formen im Amte blieb wie in England. Das englische Unterhaus war das einzige Parlament der Welt, wo es etwas zu lernen gab, aber gerade das läßt sich nicht nachahmen. Uns Deutschen haben hundert Jahre gefehlt, uns in diesen Formen bewegen zu lernen, als sie zeitgemäß waren. Jetzt ist es zu spät. Wir bringen es nur noch zur Karikatur des Parlamentarismus und ohne den geringsten Zweck. Wir sind durch unsere ganze Vergangenheit, durch unsere Rasse und unsere Lage ein monarchisches Volk, das heißt auf eine Regierung angewiesen, die[206] wir mit Vertrauen und Vollmacht schalten lassen, möge der Regent nun Kaiser oder Kanzler heißen, so wie die Engländer geborne Republikaner sind seit der Diktatur ihres Normannenadels, mögen sie den Bau ihrer Gesellschaft mit einer königlichen Spitze verzieren oder nicht.
Das parlamentarische Zeitalter ist unwiderruflich zu Ende.2 Seine Formen leisten nichts mehr, sie belasten uns nur. Das 19. Jahrhundert war ein Zwischenspiel mit einer zufälligen und schlechten Auslese vielköpfiger Regentschaften zwischen zwei Perioden persönlicher Führung des Regiments. In den großen Ländern weiß das jeder Urteilsfähige, der seine Erfahrungen in der Nähe der Entscheidungen sammelt, auch wenn er darüber schweigt. Wer auf der Höhe seiner Zeit steht, mußte 1830 Demokrat sein und 1930 das Gegenteil davon, wie er 1730 Absolutist sein mußte und 1830 nicht. Italien ist in dieser Entwicklung durch die Tat vorangegangen. Es ist heute preußischer als Preußen und denkt nicht mehr an Umkehr. In Frankreich ist die Ausschaltung der Kammer durch eine vom Heer gestützte Diktatur nur eine Frage der Zeit. In England wird die Tragikomödie der Arbeiterregierung, ebenso kurz als belastend, dem parlamentarischen guten Willen der Labour party ein gründliches Ende machen, sie in Zukunft auf außerparlamentarische Mittel, mit dem Generalstreik beginnend, verweisen und den Konservativen damit den Weg zum Bruch mit den Traditionen des Unterhauses und zur unumschränkten Herrschaft einzelner Führer bahnen. Ein altes Beispiel ist die antidemokratische Diktatur Pitts mit liberaler Unterstützung, als die französische Revolution nach England überzugreifen drohte. In Amerika beginnen neben den alten Parteimaschinen starke Bewegungen wie die der Farmer, welche die politische Tradition brechen und damit die Möglichkeit von Kämpfen wie 1861 auftauchen lassen, wo ein zweiter Präsident für seine Sache die Entscheidung der Waffen anruft. Aus den Schranken der alten Amtsgewalt war Wilson längst herausgetreten.[207]
Deutschland ist an staatsmännischen und organisatorischen Begabungen wahrscheinlich reicher als irgendein Land der Welt. Wo die Probe darauf gemacht wurde wie in der Ausbildung des Priesterstandes durch die Kirche, des Offizierkorps durch den Generalstab, des deutschen Kaufmanns und Technikers durch hanseatischen Handel und rheinische Industrie, da war das Ergebnis immer dem entsprechenden im Ausland überlegen. Aber auf politischem Gebiet war es bis jetzt ein Verhängnis, daß die einen ihre Kräfte nicht kennen, die andern sich angeekelt zurückhalten, die dritten vom Parteiklüngel vorzeitig verbraucht werden. Wir haben keine gewachsenen Formen der politischen Auslese und Erziehung. Wir haben keinen Klub wie in England, keinen Salon wie in Frankreich, wo Begabungen entdeckt, miteinander in Fühlung gebracht, an ihren Platz gestellt werden. Wir sind zu schnell groß geworden. Wir leben jeder für sich und sind hilfslos, wenn wir zusammensitzen. In England gehört es zum guten Ton unter den großen Parteien, die in Wirklichkeit fertige Regierungen in Bereitschaft sind, Talente zu entdecken, auszuzeichnen und vorzutreiben. Unsre Parteien sind dazu zu dumm, und unsere alte Verwaltung hatte die Anforderungen der Lage nicht verstanden. Sie besaß kein Prinzip der taktischen Ausbildung, das mehr als mittelmäßige Ergebnisse liefern konnte; ich schweige von den neuesten Parteiministern, denn sie haben diese Auslese nicht einmal gewollt.
Die Notwendigkeit neuer Regierungsformen wird eines Tages doch an uns herantreten. Die Zukunft zwar kennt niemand, und die großen Veränderungen im Aufbau der Staatsgewalt sind immer das Ergebnis von Blut und Gewalt, Siegen oder Niederlagen, Staatsstreichen oder Revolutionen gewesen, wofür sich der Reihe nach die deutsche und die französische Verfassung von 1871, das Reich Napoleons und die Bill of rights von 1688 anführen lassen. Aber ein Ziel muß für die allernächste Zeit vorhanden sein, da die bestehenden Verhältnisse unhaltbar werden, und es kann sich dabei nicht um den Ausdruck sogenannter Volksrechte und demokratischer Ideale in Gesetzen handeln, über deren praktische Folgen sich niemand[208] rechtzeitig den Kopf zerbricht. Ich wiederhole, ein Volk hat nur ein Recht: gut regiert zu werden, und da es als Masse ohne Erfahrung und Überblick das nicht selbst übernehmen kann, so müssen es Einzelne tun und diese müssen richtig ausgesucht und angesetzt werden. Das ist das ganze Geheimnis aller gut regierten Staaten, und alle mit Überlegung ausgearbeiteten Verfassungen können nur sichern – oder verhindern –, was in primitiven Zeiten mit rascher Anwendung von Gewalt ganz von selbst geschieht. Voraussetzung ist die Einsicht, daß die parlamentarischen Formen aus dem vorigen Jahrhundert veraltet und für immer verdorben sind, vor allem auch deshalb, weil die großen beweglichen Vermögen in ein Souveränitätsverhältnis zur Parteipolitik getreten sind, was sich 1789 nicht voraussehen ließ, und weil sich allenthalben fest organisierte Gruppen mit eigenen Interessen gebildet haben, die ausgeschaltet werden müssen, wenn die Regierung eines Gesamtvolkes ihren Sinn behalten soll. Die Entscheidung liegt wie immer im Zufall der Heraufkunft großer Persönlichkeiten, aber die lebendige Form des Regierens muß wenigstens dem Zweck entsprechen. Sie ist gewissermaßen der Ausgleich zwischen den Aufgaben der Zeit und dem verfügbaren Material von Begabungen. Sie muß so biegsam sein, daß bedeutende Männer zur vollen Auswirkung ihres Könnens gelangen, aber mit der Grenze, daß sich zugleich ein leistungsfähiger Durchschnitt bildet, welcher den Gang der Geschäfte trägt und nicht völlig von jenem Zufall abhängig macht. Ein Übergewicht nach jener Seite bedeutet Mangel an Stetigkeit, nach dieser die Gefahr des engen Horizonts und des starren Schematismus. Dabei darf man keinen Augenblick vergessen, daß das beste aller Formen im Ungeschriebenen steckt, und das Geschriebene danach einrichten. Wer alles festlegen will, wie es der Tendenz revolutionärer Versammlungen entspricht, erreicht nur, daß die Praxis sehr bald neben der Verfassung herläuft.
Die Formen, welche sich erstens aus der Zeit, dann aus der gefährlichen geographischen und der durch den Weltkrieg geschaffenen politischen Lage Deutschlands – der äußeren und inneren – und endlich aus dem deutschen Volkscharakter[209] ergeben, dessen Eigenschaften für diese Aufgabe teilweise günstig, in der Regel ungünstig sind, wären für die nächste Zukunft etwa folgende:
Eine außerordentliche Stärkung der Regierungsgewalt mit hoher Verantwortlichkeit, die nicht wie bis jetzt in Gestalt täglicher Parlamentsverhandlungen auf der Gesetzgebung und Ausführung lastet. Es ist heute richtiger, wenn in bestimmten Abständen ein umfassender Rechenschaftsbericht gegeben und angenommen oder abgelehnt wird. Nicht Absichten sondern Ergebnisse sollten der Kritik unterliegen. Das gehört zum Begriff des in einer Vollmacht enthaltenen Vertrauens. Die fortlaufende Zensur wird heute schon durch die Presse gesichert; ihre Wiederholung in einem Parlament ist völlig überflüssig geworden und veranlaßt nur das Aufkommen von Privatzwecken der Eitelkeit oder des Geschäfts. Der Kanzler hat die Vollmacht, für sich als Generalstab ein Ministerium nach eigener Wahl zu bilden, mit völliger Freiheit in der Zahl, Zusammensetzung und Organisation der großen Ämter und des gesamten Regierungsapparates. Ebenso sollte diese Vollmacht in Personal- und Organisationsfragen von ihm auf die sehr selbständig arbeitenden Leiter der führenden Ämter von Fall zu Fall übertragen werden. Die Minister sind allein ihm und er allein für die Minister verantwortlich. Der Kanzler sollte ferner nach freiem Ermessen einen Staatsrat berufen, in dem das Beste an Begabung und Erfahrung auf allen einzelnen Gebieten der Politik und Wirtschaft versammelt ist. Dieser private Rat beschließt nicht, sondern bespricht und schlägt vor; er könnte zuweilen in Abteilungen für die einzelnen Aufgaben tagen, in öffentlichen oder vertraulichen Sitzungen. Richtig verwendet, würde er eine hohe Schule für junge Talente werden, die hier einen praktischen Einblick in die Probleme und Methoden erhalten und durch besondere Aufträge geprüft und erzogen werden. Die Berufung beruht durchaus auf persönlichem Vertrauen und kann dauernd, für besondere Gebiete oder einzelne Fälle erfolgen. Neben diesem geheimen und privaten Rat, der mit »Verfassung« im üblichen Sinne nichts zu tun hat, steht als Ausdruck der Volksmeinung ein aus[210] allgemeinen Wahlen hervorgegangener Reichstag, der zweimal jährlich zu kurzen Sitzungen zusammentritt, als Aufsichtsrat die Vollmacht erteilt, den Rechenschaftsbericht entgegennimmt, Kritik übt, den Haushalt und die Gesetze, so viel als möglich als Ganzes, in namentlicher Abstimmung anerkennt oder verwirft – und die Verantwortung dafür in einer feierlichen Erklärung dem Volk gegenüber auf sich nimmt. Denn für die Folgen sollte in Zukunft ein Reichstag dem durch Neuwahlen gebildeten neuen haftbar sein, Mann für Mann. In den Wahlen kommt doch auch die Kritik eines Volkes an seinen Beauftragten zum Ausdruck. Es ist unlogisch und widerspricht dem Begriff der Volksvertretung, daß zwar die Regierung dieser, aber diese nicht dem Volke für die Folgen ihres Verhaltens verantwortlich sein soll. Aber da alle heutigen Verfassungen von den Parlamenten selbst gemacht worden sind, so haben diese jede Haftung von sich abgeschoben. Die Regierung muß jederzeit das Recht haben, durch Wahlen das Volk zum Urteil über seine Vertreter aufzufordern.
Die Tagung sollte nicht verlängert werden dürfen, abgesehen davon, daß der Kanzler besondere Tagungen mit begrenzten Aufgaben berufen kann. Die Sitzungen sind als Ausdruck der Volkshoheit mit Würde und Feierlichkeit zu umgeben. Haltung, Kleidung und Ausdrucksweise sind nicht Nebensache. Eine Versammlung, die sich äußerlich gehen läßt, wird innerlich würdelos. Pöbelhaftes Auftreten, das sich heute überall einbürgert, sollte als Beleidigung des vornehmsten Organs der Nation mit tageweisem Ausschluß, Mandatsverlust und unter Umständen Verbot der Wiederwahl bestraft werden, und zwar von einem höchsten Gerichtshof.
Die Kopfzahl der heutigen Parlamente ist infolge der laienhaften Begriffe von 1789 viel zu groß. Das Stimmvieh der Abgeordneten erschwert überall die Arbeit, welche die wenigen Fähigen doch allein machen, und führt außerdem dazu, daß für das Hineindrängen zweifelhafter Leute mit Privatabsichten eine bequeme Gelegenheit geschaffen wird. 150 Sitze sind für Deutschland mehr als ausreichend. Auch dann wird die Hälfte[211] nur ja und nein sagen, so wie es die Führer unter sich beschlossen haben. Aber es sollte zur guten Sitte werden, Sachverständige mit dieser Sendung zu beauftragen, also von dem einzelnen Abgeordneten eine Art Befähigungsnachweis zu verlangen, und nicht die Schreier, Trommler und Pfeifer der Organisationen. Und außerdem würde ich vorschlagen, daß fünf Vertreter der Deutschen im Ausland dabei sind, denn dem Reichstag fehlte bisher der Horizont und die richtige Kenntnis und Einschätzung der auswärtigen Wirtschafts- und Machtverhältnisse, die für uns eine Lebensfrage sind. Um den deutschen Parteihader zu überwinden und die Bildung urteilsfähiger Gruppen zu erreichen, müßte es die Wahlordnung unmöglich machen, daß mehr als vier Parteien und solche von weniger als einem Zehntel der Bevölkerung Abgeordnete erhalten. Außerdem ist ein glänzender Gedanke Mussolinis zu verwenden, der übrigens auch in der bayerischen Wahlordnung angedeutet ist und dem die Zukunft gehört: Die beiden stärksten Gruppen – oder die stärkste? – haben zu 100 gewählten Abgeordneten 50 im Verhältnis ihrer Stärke zu ernennen, und zwar sollte es zur Gewohnheit werden, hierfür die besten Leute außerhalb des eigentlichen Parteilebens zu gewinnen, die Deutschland besitzt, und die sich nur zu verpflichten brauchten, mit der Gruppe zu arbeiten oder auf den Sitz zu verzichten, wenn sich das nicht mehr mit ihrer Überzeugung verträgt. Diese Mitglieder können also jederzeit gewechselt werden; daneben hätte sich jeder Abgeordnete einen Stellvertreter zu wählen, den die Partei genehmigen muß und für den der Abgeordnete haftet. Um die in allen heutigen Parlamenten herrschende Korruption zu überwinden, sollte ehrloses geschäftliches Verhalten oder die Verurteilung wegen gemeiner Vergehen sofort und für immer von der Wählbarkeit ausschließen. Ein Volk kann auf die Ehrenhaftigkeit seiner Vertreter Anspruch erheben. Die Würde der Aufgabe fordert es, daß jeder zu Wählende seine persönliche und geschäftliche Reinheit durch Ehrenwort verbürgt. Wer für eine politische Tätigkeit im Dienste von Parteien oder Organisationen politischen Charakters Bezahlung erhalten hat, ist erst in einem[212] Abstand von drei Jahren wählbar. Das ist notwendig, weil die Geschäftspolitik, wie die Gegenwart überall beweist, das Verständnis dafür vernichtet hat, daß der Abgeordnete der Nation und nicht der bezahlenden Partei verpflichtet ist. Endlich haben die Abgeordneten sich am Anfang der Tagung eidlich zu verpflichten, ihre Stellung als Vertreter des Volkes zu keinerlei geschäftlichem Vorteil zu benützen, und am letzten Tage einen feierlichen und öffentlichen Rechenschaftseid abzulegen, daß sie aus ihrer Stellung keinen persönlichen Vorteil gezogen haben. Wer diesen Eid nicht leisten kann, ist nicht mehr wählbar.
Zum Schlüsse muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Höhe des englischen Parlamentarismus auch darauf beruht, daß der Form nach der König die Wahl des Premiers vollzieht. Es gab also eine Stelle, welche über allen Parteien und geschäftlichen Interessen stand, weil sie durch geschichtliche und dynastische Tradition die Ehre und Größe der Nation zu vertreten hatte und nichts als dies. Wenn der tatsächliche Einfluß auch nur in der Genehmigung des Vorschlags bestand, den der Führer der stärksten Partei über die Besetzung des höchsten Amtes zu machen hatte, so genügte das, um Begabung und Ehrenhaftigkeit zur selbstverständlichen Voraussetzung dieses Vorschlags zu erheben. Dieser sittliche Halt fehlt in Staaten, wo die Parteien die Wahl untereinander verhandeln und beschließen und niemandem verantwortlich sind als sich selbst. Die Deutschen sind ein monarchisches Volk, durch ihren altgermanischen Zug der Gefolgstreue und Unterordnung unter den innerlich anerkannten Führer. Sie sind es, weil ihre Wohnsitze in Mitteleuropa sie zur Zusammenfassung in einen starken Staat zwangen, wenn sie nicht die Opfer aller Nachbarn sein wollten. In späten Zeiten ändern sich solche Gefühle nicht mehr, wenn sie sich jemals ändern können, und eines Tages, wenn wieder etwas Sonne auf unser Dasein fällt, wird die schlafende Sehnsucht nach dieser symbolischen Krönung des Staates ihre Erfüllung suchen und finden. Dann erst ist die hier angedeutete Form zu vollenden; alle vorläufigen Lösungen haben etwas Unvollendetes darin, daß die Auswahl[213] des Leiters der Regierungsgeschäfte nicht der Zensur unterliegt, die sich allein von geschichtlichen Aufgaben leiten läßt.
1 | Und, nebenbei gesagt, wie klein, flach, beschränkt und unwürdig steht neben dem englischen Satz: »Right or wrong, my country!« der deutsche: »Juden hinaus!«, eine bloße Negation unter völliger Verkennung der Tatsache, daß die gefährlichsten antideutschen Züge, der Hang zu internationaler und pazifistischer Schwärmerei, der Haß gegen Autorität und Machterfolge tief gerade im deutschen Wesen begründet sind. Angehörige der eigenen Rasse sind immer gefährlicher als die einer fremden, die schon als Minderheit die Anpassung vorziehen muß, wenn man sie ernsthaft vor die Wahl stellt. Der englische Instinkt tut das, und mit großem Erfolge: jeder fremde wird als Engländer anerkannt, wenn er und so lange er sich für die Größe Englands mit seinen Talenten, Mitteln und Beziehungen einsetzt. |
2 | Unt. d. Abdl. II, S. 500 f., 516 ff. |
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