Kapitel 6

[65] Nun steht noch aus zu erkennen, wie es sich mit Wesen im Falle der Eigenschaften verhält; wie es sich nämlich mit Wesen im Falle aller Substanzen verhält, ist gesagt worden. Und weil, wie gesagt worden ist, Wesen das ist, was durch die Definition bezeichnet wird, müssen die Eigenschaften in dem Maße Wesen haben, wie sie Definition haben. Sie haben aber eine unvollständige Definition, weil sie nicht definiert werden können, außer wenn etwa ein Träger in ihrer Definition angeführt wird; und das kommt daher, weil sie kein Sein für sich allein, unabhängig von einem Träger haben, sondern, so wie sich aus Form und Materie ein substantiales Sein ergibt, wenn sie verbunden werden, so ergibt sich aus Eigenschaft und Träger ein nichtsubstantiales Sein (ein Sein der Eigenschaft), wenn zu einem Träger eine Eigenschaft kommt. Und daher hat auch weder die substantiale Form ein vollständiges Wesen noch die Materie, weil auch in der Definition der substantialen Form das angeführt werden muß, dessen Form sie ist, und deshalb geschieht die Definition der substantialen Form durch Hinzufügung von etwas, das außerhalb ihrer Gattung steht, so wie auch die Definition der nichtsubstantialen Form (der Form einer Eigenschaft); daher wird auch in der Definition der Seele von dem Naturphilosophen, der die Seele betrachtet nur, insoweit sie die Form eines natürlichen Körpers ist, der Körper angeführt.

Aber jedoch zwischen den substantialen und den nichtsubstantialen Formen besteht ein so großer Unterschied, daß (folgendes gilt): So wie eine substantiale Form kein Sein für sich allein, unabhängig von dem und ohne das, zu dem sie gelangt, hat, so auch nicht jenes, zu dem sie gelangt, nämlich Materie; und daher ergibt sich aus der Verbindung beider jenes Sein, in dem ein Ding für sich allein besteht, und aus beiden wird ein für sich allein (bestehendes) Eines. Deswegen ergibt sich aus der Verbindung beider ein Wesen. Daher ist die Form, obwohl sie, in sich betrachtet, nicht die vollständige Beschaffenheit des Wesens hat, dennoch ein Teil des vollständigen Wesens. Aber jenes, zu dem eine Eigenschaft kommt, ist ein in sich vollständiges, in seinem Sein bestehendes Seiendes, welches Sein unstreitig von Natur aus der Eigenschaft, die hinzukommt, vorausgeht. Und daher verursacht die hinzukommende Eigenschaft durch ihre Verbindung mit dem, zu dem sie kommt, nicht jenes Sein, in dem ein Ding besteht, durch das ein Ding ein für sich (bestehendes) Seiendes ist; jedoch verursacht sie gewissermaßen ein zweites Sein, ohne das ein für sich bestehendes Ding als seiendes gedacht werden kann, so wie ein Erstes ohne ein Zweites gedacht wer den kann. Daher wird aus Eigenschaft und Träger kein für sich (bestehendes) Eines, sondern ein nebenbei (bestehendes) Eines. Und daher entsteht aus der Verbindung beider kein Wesen, so wie aus der Verbindung einer Form mit Materie (ein Wesen entsteht); deswegen hat eine Eigenschaft weder die Beschaffenheit eines vollständigen Wesens noch ist sie Teil eines vollständigen Wesens, sondern, so wie sie ein Seiendes in gewisser Hinsicht ist, so hat sie auch ein Wesen in gewisser Hinsicht.

Aber weil das, was in erster Linie und mit größtem Recht als irgendeiner Gattung zugehörig bezeichnet wird, die Ursache dessen ist, was danach in jener Gattung entsteht, so wie das Feuer, das an der Spitze der Wärme steht, die Ursache der Wärme in den warmen Dingen ist, wie es im 2. Buch der »Metaphysik« heißt, daher muß die Substanz, die das Erste in der Gattung des Seienden ist, indem sie am wirklichsten und im höchsten Grade Wesen hat, die Ursache der Eigenschaften sein, die in zweiter Linie und gleichsam in gewisser Hinsicht an der Beschaffenheit des Seienden teilnehmen. Jenes geschieht jedoch auf verschiedene Art und Weise. Weil nämlich die Teile der Substanz Materie und Form sind, daher begleiten einige Eigenschaftenvornehmlich die Form und einige vornehmlich die Materie. Es findet sich aber manche Form, deren Sein nicht von der Materie abhängt, wie die übersinnlich erkennende Seele; die Materie aber hat Sein nur durch die Form. Daher gibt es unter den Eigenschaften, die die Form begleiten, einiges, das keine Gemeinschaft mit der Materie hat, so wie es das übersinnliche Erkennen gibt, das nicht durch ein körperliches Organ geschieht, wie der Philosoph im 3. Buch von »Die Seele« beweist. Es gibt aber unter den Eigenschaften, die die Form begleiten, einige, die Gemeinschaft mit der Materie haben, wie das sinnliche Wahrnehmen. Doch keine Eigenschaft begleitet ohne Gemeinschaft mit der Form die Materie.

Jedoch findet sich unter den Eigenschaften, die die Materie begleiten, eine Verschiedenheit. Einige Eigenschaften nämlich begleiten die Materie gemäß der Beziehung, die die Materie zur Form der Art hat, so wie im Falle der Sinnenwesen das Männliche und das Weibliche, deren Verschiedenheit auf die Materie zurückgeht, wie es im 10. Buch der »Metaphysik« heißt; daher bleiben nach Beseitigung der Form des Sinnenwesens die genannten Eigenschaften nicht, außer im Sinne der Gleichnamigkeit. Einige Eigenschaften aber begleiten die Materie gemäß der Beziehung, die die Materie zur Form der Gattung hat; und daher bleiben sie nach Beseitigung der Form der Art weiter in (an) der Materie, so wie die Schwärze der Haut am Neger von der Mischung der Elemente und nicht von der Beschaffenheit der Seele herkommt, und daher bleibt nach dem Tode die Schwärze der Haut an ihm.

Und weil ein jedes Ding aufgrund der Materie individuiert und aufgrund seiner Form unter eine Gattung oder eine Art gebracht wird, daher sind die Eigenschaften,die die Materie begleiten, Eigenschaften des Individuums, nach welchen sich auch die Individuen derselben Art untereinander unterscheiden; die Eigenschaften aber, die die Form begleiten, sind wesentliche Eigenschaften entweder der Gattung oder der Art, weshalb sie in allem vorgefunden werden, was an der Natur der Gattung oder der Art teilnimmt, so wie lachensfähig im Falle des Menschen die Form (des Menschen) begleitet, weil das Lachen aufgrund einer Wahrnehmung der Seele des Menschen geschieht.

Man muß auch wissen, daß Eigenschaften einmal aus den wesentlichen Prinzipien (Bestandteilen) entstehen als solche, die sich in vollendeter Aktualität befinden, so wie die Wärme im Falle des Feuers, das immer warm ist; ein andermal aber entstehen Eigenschaften (aus diesen Prinzipien) als solche, die (zu vollendeter Aktualität) nur geneigt sind, jedoch ihre Vollendung geschieht durch eine äußere Ursache, so wie im Falle der Luft die Durchsichtigkeit, die durch einen äußeren leuchtenden Körper vollendet wird; und in solchen Fällen ist die Eignung eine unabtrennbare Eigenschaft, jedoch die Vollendung, die von einem Prinzip (Ursache) kommt, das sich außerhalb des Wesens des Dinges befindet, oder die in die Beschaffenheit des Dinges nicht eingeht, ist abtrennbar, so wie das Bewegtwerden und dergleichen.

Man muß auch wissen, daß im Falle der Eigenschaften Gattung, Unterschied und Art auf eine andere Art und Weise verstanden werden als im Falle der Substanzen. Weil nämlich im Falle der Substanzen aus der substantialen Form und der Materie ein für sich allein (bestehendes) Eines wird, indem aus deren Verbindung eine einzige Natur entsteht, die im eigentlichen Sinne unter die Kategorie der Substanz gebracht wird, daher wird im Falle der Substanzen von den konkreten Namen, die das Zusammengesetzte bezeichnen, gesagt, daß sie im eigentlichen Sinne unter die Kategorie (der Substanz) fallen, als Arten oder Gattungen, wie Mensch oder Sinnenwesen. Es fällt aber nicht Form oder Materie auf diese Art und Weise unter die Kategorie (der Substanz), außer durch Zurückführung, so wie von Prinzipien (Bestandteilen) gesagt wird, daß sie unter eine Kategorie fallen. Aber aus einer Eigenschaft und ihrem Träger wird kein für sich allein (bestehendes) Eines; daher entsteht aus deren Verbindung keine Natur, der der Begriff der Gattung oder der Art zugeteilt werden könnte. Daher werden die Eigenschaftsbezeichnungen, im konkreten Sinne ausgesagt, wie das Weiße oder das Musikalische, nicht als Arten oder Gattungen unter eine Kategorie gestellt, außer durch Zurückführung, sondern (jene Eigenschaftsbezeichnungen werden als Arten oder Gattungen unter eine Kategorie gestellt) nur, insofern sie abstrakte Bedeutungen haben, wie Weiße und Musikalität. Und weil die Eigenschaften nicht aus Materie und Form zusammengesetzt werden, daher kann nicht in ihrem Falle die Gattung von der Materie und der Unterschied von der Form Hergenommen werden, so wie im Falle der zusammengesetzten Substanzen; vielmehr muß ihre höchste Gattung von der Seinsweise selbst hergenommen werden, insofern Seiendes auf verschiedene Art und Weise im Sinne des Früheren und des Späteren von den zehn kategorialen Gattungen ausgesagt wird, so wie man von Quantität spricht aufgrund der Tatsache, daß sie das Maß der Substanz ist, und von Qualität, insofern sie die Einrichtung der Substanz ist, und so hinsichtlich des übrigen, nach dem Philosophen im 9. Buch der »Metaphysik«.

Die Unterschiede aber werden im Falle der Eigenschaften von der Verschiedenheit der Prinzipien (Bestandteile)hergenommen, aus denen die Eigenschaften entstehen. Und weil die wesentlichen Eigenschaften aus den wesentlichen Prinzipien des Trägers entstehen, daher wird in der Definition der Eigenschaften der Träger anstelle des Unterschieds angeführt, wenn sie im abstrakten Sinne definiert werden, insofern sie im eigentlichen Sinne unter eine Kategorie fallen, so wie man sagt, daß Stülpnasigkeit eine Gekrümmtheit der Nase ist. Jedoch wäre es anders, wenn die Definition der Eigenschaften vorgenommen würde, insofern sie im konkreten Sinne ausgesagt werden; unter solchen Umständen würde nämlich in deren Definition der Träger als Gattung angeführt, weil sie dann nach Art der zusammengesetzten Substanzen definiert würden, in deren Fall der Begriff der Gattung von der Materie hergenommen wird, so wie wir sagen, daß das Stülpnasige eine gekrümmte Nase ist. Ebenso ist es auch, wenn etwa eine Eigenschaft das Prinzip (Grundlage) einer anderen Eigenschaft ist, so wie Prinzip der Relation ist Tätigkeit und Erleiden (Bestimmtwerden) und Quantität; und daher teilt der Philosoph im 5. Buch der »Metaphysik« die Relation danach ein. Aber weil die wesentlichen Prinzipien (Bestandteile) der Eigenschaften nicht immer offenkundig sind, daher nehmen wir manchmal die Unterschiede der Eigenschaften von deren Wirkungen her, so wie das Zusammenziehende und das Streuende Unterschiede der Farbe genannt werden, die durch die Fülle oder die Spärlichkeit des Lichts verursacht werden, wodurch die verschiedenen Arten der Farbe verursacht werden.

So also ist offenbar, wie es sich mit Wesen im Falle der Substanzen und der Eigenschaften verhält, und wie im Falle der zusammengesetzten und der einfachen Substanzen, und wie sich in allen diesenFällen die logischen Allgemeinbegriffe erweisen; mit Ausnahme des Ersten, das an der Spitze der Einfachheit steht, dem wegen seiner Einfachheit der Begriff der Gattung oder der Art nicht zukommt und folglich auch nicht Definition: in ihm sei Schluß und Ende dieser Darlegung. Amen.[79]

Quelle:
Thomas von Aquin: De ente et essentia – Das Seiende und das Wesen. Stuttgart 21987.
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