Bauwürdigkeit

[41] Bauwürdigkeit geplanter Eisenbahnen (probable productioness; exploitabilité d'une ligne; productività a prodotto probabile d'una linea).

Für die Ermittlung der B. einer geplanten Eisenbahn bildet die Abschätzung des zu erwartenden Verkehrs die wichtigste Grundlage. Ein einfaches und zweckentsprechendes Verfahren wurde hierfür zuerst von dem Ingenieur Michel angegeben, der die zu erwartende Verkehrsmenge proportional der Einwohnerzahl der Stationsorte der Bahn annimmt. Michel fand nach Erhebungen vom Jahre 1866 im Durchschnitt für das gesamte französische Eisenbahnnetz, daß auf jeden Einwohner eines Stationsorts und seiner »Bannmeile« jährlich 6∙5 Reisende und 2∙1 t Güter zur Beförderung auf der Eisenbahn gelangen, welche Verkehrsmenge in sehr betriebsamen Gegenden sich auf das 11/3fache erhöhte, dagegen in lediglich Ackerbau treibenden Gegenden sich auf das 2/3fache ermäßigte.

Da die Anzahl der ankommenden und abgehenden Tonnen Güter und Personen im Durchschnitt gleich groß sein muß, so wird auf einer Zweigbahn von x km Länge, an deren Ende ein Ort von E Einwohnern liegt, bei mittlerer wirtschaftlicher Bedeutung der Gegend ein Jahresverkehr von 13 E x Personen/km und 4∙2 E x t/km stattfinden. Wird der Betriebsüberschuß für das Personen/km wie für das t/km in rundem Betrag zu 2 Pf. angenommen, so ist der jährliche Betriebsüberschuß rund = 1/3 E x M.

Für einen zweiten an der Bahn liegenden Ort mit einer Einwohnerzahl E1 und einem Abstand x1 von dem Anschluß an die Hauptbahn entsteht nach gleichem Rechnungsgang ein Betriebsüberschuß = 1/3 E1 x1 M., so daß also für die ganze Bahn der Betriebsüberschuß zu N = 1/3 (E x + E1 x1 + E2 x2 + ...) = 1/3 ∑ (E x) erhalten wird.

Allgemein ist der Betriebsüberschuß N zu setzen: N = c(E x), wo c ein Koeffizient ist, der von der wirtschaftlichen Bedeutung der Gegend sowie von der Höhe der Betriebskosten und Frachtsätze abhängig ist. Es kommt begreiflicherweise bei der Benutzung dieses höchst einfachen Verfahrens Michels hauptsächlich auf eine zutreffende Bestimmung des Koeffizienten c an.

Seit der ersten Feststellung durch Michel hat der Verkehr auf den Eisenbahnen durch die Verdichtung des Bahnnetzes und infolge des gewaltigen Aufschwunges der Gewerbetätigkeit und des Wohlstandes erheblich zugenommen. Beispielsweise wurden im Jahre 1903 auf den deutschen Eisenbahnen 877 Mill. Personen und 344 Mill. Nutztonnen Güter befördert. Von der Bevölkerung Deutschlands, die in jenem Jahre 60 Mill. betrug, wohnten nach sorgfältiger Schätzung 33 Mill. in den Stationsorten der Eisenbahnen. Die in den Stationsgebieten außerhalb der Stationsorte angesiedelte Bevölkerung hat im Durchschnitt nur mit 1/6 bis 1/5 des auf den Kopf entfallenden Betrages an dem Eisenbahnverkehr teilgenommen, wie die in den Stationsorten selbst wohnende Bevölkerung, so daß sich die[41] rechnungsmäßige Größe der »Eisenbahnbevölkerung« zu rund 38 Mill. ergibt. Es kamen daher im Jahre 1903 in Deutschland auf den Kopf der Eisenbahnbevölkerung 23 reisende Personen und 9 beförderte Nutztonnen. Der vorstehend erwähnte Zahlenwert c ergibt sich also, wenn der gewonnene Betriebsüberschuß an einem Personen/km = a und an einem Nutztonnen/km = b gesetzt wird zu


c = 2 (23 a + 9 b).


Bei Ermittlung der Betriebsüberschüsse a und b an der Verkehrseinheit sind die festen von der Verkehrsmenge unabhängigen Betriebs- und Bahnunterhaltungskosten zunächst abzusetzen und es ist nur der Betrag in Ansatz zu bringen, der als gleichmäßig mit der Verkehrsmenge wachsend sich berechnet. Hierbei sind aber die Zinsen der Anschaffungskosten der Lokomotiven und Wagen und deren Unterhaltungskosten mit in Rechnung zu ziehen. Nach Launhardt, »Theorie der Tarifbildung der Eisenbahnen« im Archiv für Eisenbahnwesen, 1890, S. 92, betragen diese Kosten, die man als die veränderlichen Betriebskosten bezeichnet, für das Personen/km 2∙47 oder rund 2∙5 Pf. und für das Nutztonnen/km 1∙34 oder rund 1∙4 Pf. Da nun die Betriebseinnahmen für das Personen/km im Durchschnitt 3∙15 Pf. und für das t/km 3∙9 Pf. betragen haben, so ergibt sich der Betriebsüberschuß für das Personen/km zu a = 0∙65 Pf. und für das Nutztonnen/km zu b = 2∙5 Pf. Darnach erhält man


c = 2 (23 . 0∙65 + 9 . 2∙5)1/100= 3/4 M.


Es ist also nach den vorher gegebenen Bezeichnungen der von einer geplanten Eisenbahn zu erwartende Betriebsüberschuß: N = 3/4 ∑ (E x) M.

Auf einer Zweigbahn wird der Verkehr nun im Durchschnitt etwas mehr als die Hälfte der Länge l zurücklegen, etwa 0∙6 l, wonach der Betriebsüberschuß, wenn man jetzt mit E die rechnungsmäßig durch die Zweigbahn neu in den Eisenbahnverkehr gezogene Bevölkerung bezeichnet, sich stellt zu


N = 3/4. E . 0∙6 l = 0∙45 E l M.


Durch diesen Betriebsüberschuß müssen, wenn die geplante Bahn bauwürdig sein soll, mindestens die Zinsen der Anlagekosten und die von der Verkehrsmenge unabhängigen festen Betriebskosten gedeckt werden. Sind die kilometrischen Anlagekosten, nach Abzug der bereits bei Berechnung der Betriebskosten berücksichtigten Anschaffungskosten der Lokomotiven und Wagen = A und die festen kilometrischen Betriebskosten = B, so ergibt sich bei einem Zinsfuß i die Gleichung:


0∙45 E l = (A i + B) l


woraus man erhält:


E = 2∙2 (A i + B)


so daß die B. einer Zweigbahn nicht von deren Länge, sondern lediglich von der Größe der durch sie neu in den Eisenbahnverkehr gezogenen Bevölkerung abhängt. Wäre beispielsweise A = 80000 M., i = 0∙05, B = 8000 M., so müßte sein


E = 2∙2 (80000. 0∙05 + 8000) = 26400.


Bei einer vorwiegend ackerbautreibenden Bevölkerung, für welche die Verkehrsmenge erfahrungsmäßig nur 2/3 des berechneten Durchschnitts beträgt, muß die Kopfzahl der Bevölkerung 40000 Köpfe betragen, hingegen bei einer gewerbfleißigen Bevölkerung, für die der Verkehr bis auf das 11/3fache steigt, nur 20000.

Bei der bereits erreichten Dichtigkeit des Eisenbahnnetzes wird man in den meisten europäischen Ländern nur noch wenige neu zu bauende Bahnen finden, die durch den auf ihnen erreichbaren Betriebsüberschuß die Zinsen des Anlagekapitals decken.

Das Urteil über die B. einer geplanten Bahn fällt aber ganz anders aus, wenn man die neue Bahn nicht als eine selbständige Unternehmung auffaßt, deren Baukapital aus den eigenen Betriebsüberschüssen verzinst werden muß, sondern wenn man die Bahn als ein neu hinzukommendes Glied eines großen Bahnnetzes betrachtet und demnach außer dem auf der neuen Linie selbst erreichbaren Betriebsüberschuß auch den Verkehrszuwachs berücksichtigt, den sie dem bereits vorhandenen Bahnnetz zuführt. Man darf dann nicht, wie Michel es tut, die Personenzahl und Gütermenge bestimmen, die durch die geplante Bahn neu in den Eisenbahnverkehr gezogen wird, sondern muß die Zahl der Personen/km und t/km ermitteln, um die der Eisenbahnverkehr durch die neue Bahn wächst.

Im Jahre 1903 wurden auf den deutschen Eisenbahnen 20943 Mill. Personen/km und 34203 Mill. Nutztonnen/km Güter geleistet, so daß auf den Kopf der 38 Mill. zählenden Eisenbahnbevölkerung je 550 Personen/km und 900 Nutztonnen/km entfallen, woran ein Betriebsüberschuß von:


(550 . 0∙65 + 900 . 2∙5) 1/100 = 26 M.


erzielt wird.

Zur Beurteilung der B. einer geplanten Eisenbahn ist also die Gleichung: 26 E = (A i + B l) entscheidend. Wäre beispielsweise l = 13 km, A = 80000, B = 8000, so wäre die Verzinsung der Anlagekosten mit i = 0∙05 gedeckt, wenn durch die Bahn eine Bevölkerung[42] von E = 6000 Personen neu in den Eisenbahnverkehr gezogen würde. Bei einer gewerbfleißigen Bevölkerung würden 4500 genügen, dagegen bei einer vorwiegend ackerbautreibenden Bevölkerung 9000 erforderlich sein.

Für den Staat als den Eigentümer des Hauptbahnnetzes, dem der ganze aus dem Bau einer neuen Zweigbahn erwachsende Betriebsüberschuß zufällt, wird nach diesem Rechnungsgange, selbst bei der in Deutschland jetzt erreichten Dichtigkeit des Bahnnetzes noch manche neue Bahn bauwürdig erscheinen. Von den vielseitigen nützlichen Wirkungen der Eisenbahnen wurde bisher lediglich der Betriebsüberschuß in Rechnung gezogen, der auf einer neu anzulegenden Bahn erzielt wird oder darüber hinausgehend durch den Verkehrszuwachs gewonnen wird, den die neue Bahn dem bereits bestehenden Bahnnetze zuführt. Weit erheblicher als dieser privatwirtschaftliche Gewinn stellt sich aber der gemeinwirtschaftliche Nutzen der Eisenbahn durch die in mancherlei Weise zunehmende Vermehrung des Volkseinkommens dar. In dem Aufsatze »Der gemeinwirtschaftliche Nutzen der Eisenbahnen von Launhardt im Zentralblatt der Bauverwaltung, 1894, S. 253« wurde in einem einfachen Gedanken- und Rechnungsgange der in Deutschland auf den Kopf der Eisenbahnbevölkerung jährlich erwachsende gemeinwirtschaftliche Gewinn zu rund 100 M. berechnet.

Zur Beurteilung der B. unter Berücksichtigung des gemein wirtschaftlichen Nutzens der Eisenbahnen würde also die Gleichung: 100 E = (A i + B l) entscheidend sein. Danach würde also beispielsweise für eine 13 km lange Zweigbahn, deren kilometrischen Anlagekosten A = 80000 und deren feste Betriebskosten B = 8000 M. betragen, eine Verzinsung der Anlagekosten von i = 0∙05 erreicht werden, wenn durch diese Bahn eine Bevölkerung von 1360 Köpfen neu in den Eisenbahnverkehr gezogen würde, in gewerbreichen Gegenden würden sogar nur 1020 Personen nötig sein. Eine Bevölkerung von 1360 Personen würde dem Betriebsüberschusse des ganzen Bahnnetzes aber nur 26.1360 = 35360 M. zuführen, mithin die festen Betriebskosten von 13.8000 = 104000 noch lange nicht decken, ganz abgesehen von den Anlagekosten. Begreiflicherweise ist die Beurteilung der B. auf Grund des gemeinwirtschaftlichen Nutzens einer Eisenbahn aber im allgemeinen ohne praktische Bedeutung. Nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei einer Bahn von strategischem Nutzen kann der Entschluß zur Ausführung dadurch gefördert werden.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die gegebenen allgemeinen Formeln da keine zutreffenden Ergebnisse liefern können, wo außergewöhnliche Verkehrs Verhältnisse vorliegen, wie z.B. bei Bade- und Wallfahrtsorten, bei Orten, die wegen landschaftlicher Schönheit oder wegen anderer Sehenswürdigkeiten viel besucht werden, bei Anschlußpunkten an Wasserstraßen oder bei Orten, an denen ein Großbetrieb mit schweren Massengütern stattfindet. (Vgl. Kommerzielle Trasse und Vorarbeiten.)

Literatur: Michel, Annales des ponts et chaussées, 1868, S. 145. – Launhardt, Wirtschaftliche Fragen des Eisenbahnwesens. Zentralblatt der Bauverwaltung. 1883. – Launhardt, Theorie des Trassierens, Heft I, S. 89, Hannover 1888. – Zeitung des VDEV. 1908, S. 1456. Bauwürdigkeit geplanter Eisenbahnen.

Launhardt.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 2. Berlin, Wien 1912, S. 41-43.
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