Krisen

[482] Krisen sind Störungen und Erschütterungen des wirtschaftlichen Lebens, die sich meist als Folgen einer ungesunden Entwicklung darstellen. Die Ursachen der Krisen sind verschiedener Art. Plötzlicher Preissturz infolge von Vermehrung des Angebotes und Verminderung der Nachfrage bei den Bedarfsgegenständen der Handels- und der Gewerbetätigkeit, ferner äußere Erscheinungen, wie Kriege, Revolutionen, Mißernten, Überspannung des Kredits, unsolide Geldwirtschaft u.s.w. Derartige Vorgänge beeinflussen auch die Eisenbahnen, deren Bau und Betrieb, im allgemeinen. Es gibt aber auch K., die durch die ungesunde Entwicklung des Eisenbahnwesens hervorgerufen oder in ihren Wirkungen verstärkt werden. K., die allerdings ausschließlich unter der Herrschaft des Privatbahnsystems vorkommen, und solche K. kann man als Eisenbahnkrisen bezeichnen. Sie äußern sich zunächst in einer Überspekulation in Bahnen. Bahnen werden gebaut, die in absehbarer Zeit nicht im stande sind, ein Erträgnis zu liefern. Der bei den neuen Bahnen zu erwartende Verkehr wird absichtlich überschätzt und es wird daher nicht mit genügender Sparsamkeit gebaut. Konkurrenzlinien werden neben bereits bestehenden Bahnen angelegt, ohne daß auf den späteren teueren Betrieb (namentlich bei Hochgebirgsbahnen) und darauf Bedacht genommen wird, daß das Anlagekapital hoch verzinst werden muß.

Die Triebfeder für neue Pläne ist nicht das Bedürfnis des Verkehrs, sondern die Aussicht auf den Gründergewinn. Um das Kapital anzulocken, wendet man nicht immer die lautersten Mittel an; die Vorteile des Unternehmens werden mit übertriebenen Farben geschildert, Ertragsberechnungen angestellt und Kostenvoranschläge gemacht, die jeder gesunden Grundlage entbehren u.s.w.

Ist mit solchen Mitteln das Eisenbahnnetz ungesund erweitert, so entstehen K. Infolge ungenügender Betriebsergebnisse und des Zusammenbruchs einzelner Unternehmungen bemächtigt sich ein allgemeines Mißtrauen der beteiligten Kreise, das Publikum entäußert sich seines Besitzes an Eisenbahnpapieren, ihr Kurs sinkt, u.zw. nicht allein der der Aktien der Eisenbahnen, die nur des Gründergewinns willen gebaut sind, sondern auch der besseren Bahnen; die Aktien der ersteren werden nachgerade unverkäuflich. Auf diese Art erleiden die Besitzer von solchen Werten nicht nur einen vorübergehenden Zinsenverlust, sondern auch eine Einbuße an Kapital, die Unternehmungslust schwindet, geplante Projekte werden aufgegeben, unvollendete Eisenbahnen werden nicht fertig gebaut, begonnene Unternehmungen im Stich gelassen, Konzessionen verfallen, Bahnen werden unter ihrem Werte von anderen, häufig den im Wettbewerbe stehenden Bahnen oder vom Staate angekauft.

Solche K. haben auch Einfluß auf die Unternehmungen, die mit dem Eisenbahnbau im Zusammenhang stehen, insbesondere auf die Eisenindustrie und den Kohlenbergbau.

Die Frage, ob bei K. die Staatsgewalt helfend eintreten oder ob sie die Heilung der K. dem Organismus selbst überlassen soll, läßt sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Meistens greift mit Rücksicht auf die hohe allgemeine wirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahnen der Staat ein, indem er Unterstützungen gewährt oder durch Betriebsübernahme, finanzielle Beihilfen u. dgl. bedrängte Unternehmungen aus ihrer kritischen Lage zu befreien sucht.

Derartige K. sind in fast allen Ländern teils gleichzeitig (z.B. in fast ganz Mitteleuropa unter dem Einfluß der revolutionären Bewegung des Jahres 1848), teils zu verschiedenen Zeiten vorgekommen.

In Preußen bereitete sich schon Ende der Dreißigerjahre eine K. vor. Nachdem das Publikum anfänglich den Eisenbahnen gegenüber ganz zurückhaltend gewesen war, änderte sich die Stimmung infolge der guten Erfahrungen mit den ersten Unternehmungen, es trat eine Überstürzung in der Vorbereitung neuer Eisenbahnen, der Beschaffung der Geldmittel durch Aktienzeichnungen ein, und als die erhofften Erfolge nicht sogleich sich verwirklichten, fielen die Aktien im Kurse, der Bau der in Angriff genommenen Bahnen stockte und es fand sich kein Geld für neue Bahnen. Die Regierung sah sich genötigt, zur Fortsetzung des Eisenbahnbaues mit Gewährung von Zinsbürgschaften (1842) einzugreifen. – Im Jahre 1848 gingen infolge der Revolution die Kurse der Eisenbahnpapiere so tief herunter, daß die Regierung den Plan faßte, alle vorhandenen Eisenbahnen zu billigem Preise für den Staat zu erwerben, ein Plan, der nicht ausgeführt worden ist. Eine weitere[482] K. fällt in die Jahre nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges. Der in den Jahren 1872 und 1873 einsetzende allgemeine Aufschwung des Verkehrs regte zum Bau von Eisenbahnen an und die Regierung erteilte eine Menge von Konzessionen an Privatbahnen, ohne das Bedürfnis genauer zu prüfen. Bei der Beschaffung der Gelder wurden wiederholt bedenkliche Mittel angewendet, die Ausführung des Baues in General-Entreprise (System Stroußberg) bewährte sich nicht und die Einnahmen entsprachen nicht den Erwartungen. Die Enthüllungen des Abg. Lasker (1873) über diese Vorgänge hatten einen Zusammenbruch dieses Systems zur Folge und einzelne Bahnen wurden notleidend und mußten von der Regierung unterstützt oder erworben werden. (Hinterpommersche Bahn, Berliner Nordbahn, Berlin-Dresdener Bahn u.s.w.) Eine Gesundung der Eisenbahnverhältnisse erfolgte erst, nachdem der Übergang zum Staatsbahnsystem beschlossen war (s. preußisch-hessische Eisenbahnen).

In Österreich waren Ende der Dreißigerjahre die Verhältnisse ähnlich wie in Preußen.

Die Regierung war nicht geneigt, die notleidenden Bahnen durch Gewährung von Zinsbürgschaften zu unterstützen, sondern entschied sich für den Ausbau des Eisenbahnnetzes durch den Staat und die Einlösung der Privatbahnen. Mit Ausnahme der Nordbahn, die sich durch eigene Kraft und durch die uneigennützige Unterstützung des Hauses Rotschild über die schwierige Lage hinausgeholfen hatte, wurden fast alle anderen Bahnen vom Staat angekauft, nachdem insbesondere die Handelskrisis des Jahres 1847 und das Jahr 1848 mit seinen Folgen ihre Lage noch ungünstiger gestaltet hatten. Eine zweite große, nach Beendigung des Krieges von 1866 einsetzende Eisenbahnspekulationsperiode fand im Jahre 1873 ein jähes Ende und jahrelang stockte die Entwicklung des Eisenbahnwesens.

Erst das Gesetz vom 11. Dezember 1877, betreffend die Regelung der Verhältnisse garantierter Eisenbahnen, durch das die Regierung ermächtigt wurde, notleidenden Bahnen Vorschüsse zur Deckung der Mindererträge zu gewähren, anderseits garantierte Bahnen unter bestimmten Voraussetzungen in Betrieb zu nehmen, leitete eine Gesundung der Eisenbahnverhältnisse ein. Auf Grund dieses Gesetzes wurden allmählich die meisten aus der Spekulationsperiode herrührenden Bahnen (Rudolf-Bahn, Vorarlberger Bahn, Gisela-Bahn, Albrecht-Bahn u.s.w.) in Staatsbetrieb übernommen.

Auch in Ungarn erkannte man in der Verstaatlichung die beste Gewähr gegen die Wiederkehr ähnlicher Mißstände, wie sie die Spekulationszeit der Siebzigerjahre zutage gefördert hatte.

Frankreich machte anfangs der Vierzigerjahre die erste Spekulationsperiode durch. An Stelle des früheren Mißtrauens war eine sanguinische Auffassung über die Rentabilität der Eisenbahnen getreten, die eine allgemeine Beteiligung des Publikums an der Spekulation in Aktien und Promessen der neuen Gesellschaften zur Folge hatte. Ein Umschlag ließ nicht lange auf sich warten. Die Gesellschaften waren Bauverpflichtungen eingegangen, die sie nicht erfüllen konnten. So bereitete sich eine K. vor, die noch durch andere widrige Zufälle, insbesondere die schlechte Ernte des Jahres 1846 verschärft wurde und bereits im Jahre 1847 die Regierung nötigte, einzelne Erleichterungen und Unterstützungen zu gewähren. Mitten in diese Schwierigkeiten fiel die Februarrevolution, womit ein Zusammenbruch mancher Gesellschaft und ein vollständiger Stillstand der Bautätigkeit eintrat.

Anfangs der Fünfzigerjahre begann sich der Unternehmungsgeist wieder zu beleben und der von der kaiserlichen Regierung geförderte Zusammenschluß der Eisenbahnen zu sechs großen Netzen stärkte das Vertrauen des Publikums. Die Handelskrisis von 1857 führte wiederum eine Hemmung der Bautätigkeit herbei. Die Eisenbahnen wandten sich an die Regierung um Hilfe, und diese gestand ihnen in dem Gesetz vom 11. Juni 1859 durch Gewährung von Zinsbürgschaften eine Unterstützung zu. Die Konzessionierung verschiedener kleinerer Bahnen auf Grund des Lokalbahngesetzes von 1865 gab Anlaß zu einer nochmaligen K. Die Bahnen wurden durch den Wettbewerb der mächtigen großen Linien bedrängt, wurden notleidend und einzelne gerieten in Konkurs. Ein Teil dieser Bahnen wurde im Jahre 1878 vom Staate angekauft und aus ihnen wurde das Staatsbahnnetz gebildet. Die Überstürzung des Eisenbahnbaues durch den Staat infolge des Programmes Freycinet vom Jahre 1879 hatte neue Schwierigkeiten für den Staat zur Folge, die durch die Verträge mit den großen Gesellschaften im Jahre 1883 unter Gewährung neuer Zugeständnisse beseitigt wurden.

Die Schweiz hatte ebenfalls mehrere K. zu bestehen. Nachdem durch Gesetz vom 25. Juli 1852 die Konzessionserteilung den Kantonen überlassen war, wetteiferten diese in der Konzessionierung ungesunder Linien, die sie teils durch Darlehen, teils durch Übernahme von Aktien unterstützten. Die Mehrzahl der Gesellschaften kam in schwierige Lage;[483] der Ertrag reichte vielfach nicht einmal zur Deckung der Obligationenzinsen aus; die zur Bauvollendung nötigen Gelder wurden oft unter sehr lästigen Bedingungen aufgenommen. Einzelne Gesellschaften gerieten in Konkurs und die Rettung wurde insbesondere durch Fusionen gesucht und vielfach gefunden. Das Bundesgesetz vom 23. Dezember 1872, das die Konzessionierung dem Bunde übertrug, brachte nur vorübergehende Abhilfe. Seit 1873 wurden wieder zahlreiche überflüssige und kostspielige Linien von großen Gesellschaften sowie von kleinen selbständigen Unternehmungen gebaut. 1876 stellte sich eine neue schwere K. ein. Die Aktienkurse sanken auf 1/3, ja bis auf 1/10 der Kurse von 1872. Einzelne Bahnen kamen in Konkurs und wurden um einen Bruchteil des Anlagekapitals veräußert. Die Dividenden sanken z.B. bei der Jura-Simplon-Bahn von 1∙97% im Jahre 1872 auf 0∙55% im Jahre 1878, die Nordostbahn, die 1872–1875 8% Dividende gezahlt hatte, stellte die Dividendenzahlung 1877–1879 ganz ein u.s.w. Erst Mitte der Achtzigerjahre erfolgte eine Gesundung.

England hatte die größte K. in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu bestehen, die durch die vorausgegangene Eisenbahnbauwut verursacht war und zur Folge hatte, daß schon Ende 1847 die Vollendungstermine zahlreicher bereits konzessionierter Bahnen vom Parlament verlängert und eine Anzahl von Konzessionen (für mehr als 2500 km) für verfallen erklärt wurden.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind sozusagen das klassische Land der Eisenbahnkrisen. In keinem Lande kommen so häufig, wie in den Ver. Staaten, K. einzelner Eisenbahnen vor, die zum Bankerott führen. Mit wenigen Ausnahmen haben alle größeren Eisenbahnen solche kritische Zeiten durchgemacht. Hauptgründe dafür sind die unsolide Finanzgebarung und die maßlosen, sich zu heftigen Tarifkriegen wiederholt steigernden, mit starken Einbußen in den Verkehrseinnahmen verbundenen Wettbewerbe. Außerdem sind wiederholt allgemeine wirtschaftliche K. durch die Eisenbahnverhältnisse herbeigeführt worden und umgekehrt haben die Eisenbahnen unter wirtschaftlichen K. gelitten, die zu Eisenbahnkrisen Anlaß gegeben haben.

Seit dem Jahre 1876 – seit dem regelmäßige statistische Aufzeichnungen veröffentlicht werden – bis Ende 1913 sind 754 Bahnen mit einer Länge von 145.176 Meilen und einem Kapital von 8.262,453.699 $ in Konkurs verfallen und 994 Bahnen mit einer Länge von 121.026 Meilen und einem Anlagekapital von 7.392,978.502 $ zwangsweise versteigert worden. Bei diesen Zahlen ist zu beachten, daß viele Bahnen wiederholt in Konkurs verfallen und versteigert worden sind und daß nicht alle Konkurse zu Zwangsverkäufen führen. In jedem statistischen Jahresberichte des Bundesverkehrsamtes muß über Bankerotte und Zwangsversteigerungen berichtet werden (s. Konkursrecht, z.B. die Zusammenstellung im Archiv f. Ebw., Jahrg. 1910, S. 444 ff.). Das schlimmste Jahr für die Eisenbahnen war 1893, wo 132 Eisenbahnen mit einer Länge von 29.340 Meilen und einem Anlagekapital von 1781 Millionen Dollar in Konkurs verfielen. Abgesehen von diesem Jahre, in dem die Eisenbahnkrise in nahem Zusammenhang stand mit der Überspannung und demnächstigen Abflauung der wirtschaftlichen Verhältnisse infolge der Weltausstellung in Chicago waren schlimme Krisenjahre die Jahre 1857 (allgemeine Weltkrisis), 1873 (Überspannung des Kredits, Zusammenbruch des Welthauses Jay Cook und der Northern-Pacific-Railway) 1887 (erste Kämpfe der Überlandbahnen gegeneinander, Überstürzung des Eisenbahnbaues). Es folgten verhältnismäßig ruhige Zeiten, die Zusammenschlüsse der großen Bahnen, Einschränkung des Eisenbahnbaues. Eine Folge und Begleiterscheinung der Geldkrisis im Herbste 1907 war Anfang 1908 eine schwere Eisenbahnkrisis. In den ersten 10 Wochen dieses Jahres waren Eisenbahnen in einer Länge von 9600 km und einem Anlagekapital von 4 Milliarden Mark genötigt, ihre Zahlungen einzustellen. Die Zahlungseinstellungen der St. Louis and San Francisco und der New York-Newhaven and Hartfort-Eisenbahn in den Jahren 1913 und 1914 haben größere allgemeine wirtschaftliche Krisen nicht zur Folge gehabt.

Literatur: Die an den betreffenden Stellen verzeichneten Werke über die geschichtliche Entwicklung der Eisenbahnen. Außerdem: Offenberg, Konjunktur und Eisenbahnen. Berlin 1914. – Insbesondere für Amerika: van Oss, American Railroads as investments. London u. New York 1883. – Swaine, Economic aspects of Railroad receiverships. (New York 1898.) – Daggett, Railroad reorganisation. Boston u. New York 1908. Hierzu Besprechung von v. der Leyen, Göttinger Gelehrte Anzeigen. 1908, S. 922 ff. – Edwards, Das Anlagekapital der nordamerikanischen Eisenbahnen und seine Beziehungen zum Reinertrag. Arch. f. Ebw. 1913, S. 885 ff, 1222 ff.

v. der Leyen.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 6. Berlin, Wien 1914, S. 482-485.
Lizenz:
Faksimiles:
482 | 483 | 484
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon