[543] Klemm, H. Kommissionsrat Heinrich Klemm wurde als Sohn eines Schneiders am 19. 9. 1818 zu Altfranken bei Dresden geboren. Früh zur Waise geworden, wurde er bei unbemittelten Leuten durch Hilfe seiner Heimatsbehörde für »6 Thaler jährlich« erzogen. Schon morgens um 3 Uhr sah man den kleinen Heinrich bei jedem Wetter mit seinem Semmelkorbe aufbrechen, um den Dorfbewohnern Punkt 6 Uhr ihr warmes Frühstück vorlegen zu können. Er besuchte die Dorfschule in dem nahen Pesterwitz und zeigte eine merkwürdige Vorliebe für Bücher; er stillte seinen Heißhunger nach ihnen bei dem Antiquar Helmert, der seine Bude auf dem Dresdener Altmarkte aufgeschlagen und bei dem Klemm auf seinen Gängen nach der Stadt niemals vorüberging. Bisweilen hatte der Knabe einen Pfennig oder gar einen Dreier, den er sein eigen nennen durfte; diese Ersparnis brachte er bei dem Trödler an und war glücklich, wenn ihm dieser ein altes Lesebuch oder wenigstens einen Posten Makulatur dafür abließ. Nach der Konfirmation mußte er, wie seine Brüder, laut Gemeindebeschluß das Schneiderhandwerk erlernen. 1847 befand er sich in Leipzig und hier mag ihn die buchhändlerische Umgebung auch zu seinen ersten schriftstellerischen Arbeiten, die in Aufsätzen über Mode, Aesthetik und Farbenlehre bestanden, angeregt haben. Die leichte, fließende Art der Darstellung bewogen den Kommissionsrat ⇒ B. F. Voigt in Weimar mit dem mittellosen Schneidergesellen in Verbindung zu treten und mit ihm einen Verlagsvertrag abzuschließen, der Klemm einstweilen sicher stellte.
Nachdem der Boden so geebnet war, dachte Klemm an die Begründung eines eigenen Verlagsgeschäftes, das 1850 ins Leben trat, vorläufig von ihm aber noch ohne Konzession betrieben wurde, einstweilen unter der Firma H. Klemms literarisch-artistische Anstalt und Verlagshandlung, bis ihm die Konzession 1860 erteilt wurde und er nunmehr mit dem Buchhandel unter der Firma H. Klemms Selbstverlag in Dresden in Verbindung trat. Großartigen Erfolg hatte Klemm, der inzwischen auch die Stellung eines Redakteurs der weitverbreiteten Modezeitung »Der Elegante« angenommen hatte, mit seinem ersten Verlagsartikel, mit dem bis heute in vielen Auflagen erschienenen »Handbuch der höheren Bekleidungskunst zum Selbstunterricht«.
In Gemeinschaft mit G. A. Müller rief Klemm ein Unternehmen ins Leben, das sich die Aufgabe stellte, reformierend auf[543] dem Gebiete des Herren-Modewesens thätig zu sein und thatsächlich fanden die Modezeitungen der »Expedition der Europäischen Modenzeitung« bald überaus günstige Aufnahme und weiteste Verbreitung. 1861 erfolgte der Ankauf des »Beobachters der Herren-Moden« aus dem Verlage von Starke, Ziegel und Schmidt in Leipzig. Friedrich Albert Schmidt wurde als Teilhaber aufgenommen. 1861 trat Carl Weiß als buchhändlerischer Leiter in das Geschäft ein.
Friedrich Carl Wilhelm Weiß wurde am 18. Oktober 1837 als zweiter Sohn des Bürgers und Schneidermeisters Weiß in Leipzig geboren, besuchte die Volksschule seiner Vaterstadt und trat, 14 Jahre alt, in die A. Wintersche Verlagsbuchhandlung als Lehrling ein. Nach Vollendung einer vierjährigen Lehrzeit und kurzer Gehilfenzeit in Leipzig führten ihn seine Wanderjahre nach Berlin, Landshut und Freising; im Jahre 1861 trat er dann in das Verlagsgeschäft von Müller, Klemm und Schmidt als buchhändlerischer Leiter ein. Nach dem im Jahre 1872 erfolgten Austritt von G. A Müller wurde er an dessen Stelle als dritter Teilhaber Mitbesitzer des Geschäftes, und nach dem Ableben des Teilhabers F. A. Schmidt ging das Geschäft in den alleinigen Besitz von Klemm und Weiß über.
1870 erwarb Klemm einen Teil des Verlages von J. L. Schrags Verlag (A. G. Hoffmann) in Leipzig (die Firma J. L. Schrag in Leipzig war 1857 entstanden durch Ankauf gewisser Verlagsartikel von der 1810 gegründeten Nürnberger Stammfirma Schrag durch Friedrich Brandstetter, der seinerseits dieses getrennt von dem seinigen geführte Geschäft 1859 an Hoffmann verkauft hatte) und firmierte für diese Erwerbung Schragsche Verlagsanstalt (Heinrich Klemm) in Dresden.
1858 rief Klemm die Europäische Modenakademie ins Leben, eine Schöpfung, die bestimmt war, die deutsche Mode unabhängig von der französischen zu gestalten. Seit Bestehen derselben fungierte Klemm als Direktor.
Nach und nach sammelten sich als Verlagserzeugnisse folgende Modezeitungen an: Europäische Modezeitung; Universal-Modezeitung; Beobachter der Herrenmoden; Phönix; Moden-Telegraph; Moden-Post; Modenbühne, große Ausgabe; Modenbühne, kleine Ausgabe; Le Parisien, grande édition; Le Parisien, petite édition; Der moderne Kleidermacher; Moderne Kindergarderobe; Moderne[544] Damen-Jackets und Damenmäntel; Panorama der Herrenmoden; Der practische Schneider; Die practische Schneiderin. Daran schloß sich eine umfangreiche Fachlitteratur: Vollständiges Lehrbuch der höheren Bekleidungskunst, 30. Aufl.; Maßnotizbücher; Buchführungsbücher für Herren-Bekleidungsgeschäfte; Sammlung von Zeichen-Vorlagen; C. Koehler, Die Trachten der Völker in Bild und Schnitt; Schule der Damenschneiderei; Lehrbuch der gesamten Kunstwäscherei; Versuch einer Urgeschichte des Costüms; Chemie des Kleidermachers; fast alle von Klemm selbst herausgegeben. Dazu kamen noch eine Reihe Schriften für Kunst, Industrie und Gewerbe wie Hofmanns Lexikon der chemisch technischen Präparate; Album für Industrie und Gewerbe usw.
Heinrich Klemm starb am 28. 11. 1886, ihm folgte am 12. 12. desselben Jahres Karl Weiß. Die Firma »Expedition der Europäischen Modenzeitung (Klemm & Weiß)« ging 1887 käuflich an Ottomar Lehmann über und befindet sich gegenwärtig im Besitze von Carl Georg Lehmann jr. (seit 1894) und Friedrich Martin Lehmann (seit 1896), während H. Klemms Verlag 1888 von O. Lehmann und Max Julius Burkhardt angekauft wurde.
In der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt aber wurde der Name Heinrich Klemm durch die Zusammenbringung seines Bibliographischen Museums, jener kostbaren Sammlung, die von der sächsischen Staatsregierung für 400000 M. angekauft und dem in Leipzig domizilierten deutschen Buchgewerbeverein überwiesen wurde. Die Grundsätze, die Klemm bei der Anlage dieser unschätzbaren Sammlung leiteten, legt er in seinem »beschreibenden Catalog« (Dresden 1884) wie folgt dar: »Das »Bibliographische Museum«, eine Errungenschaft vieler Jahre, hat sich also von vorn herein die Aufgabe gestellt gehabt, nur möglichst viele für das Typen-Studium zur Feststellung der Drucker erforderliche Werke, besonders Seltenheiten ersten Ranges, in schön erhaltenen Exemplaren zu sammeln und so zu vereinigen, daß man zum Zwecke einer zuverlässigen vergleichenden Autopsie nicht mehr nötig hat, das eine seltene Werk vielleicht in Paris, das andere in London oder Wien einzusehen, denn eben hierdurch sind so viele Irrtümer in unserer ganzen bibliographischen Litteratur herbeigeführt worden. Man glaubte oftmals genau dieselben Typen vor sich zu haben, die man schon anderwärts gesehen, während höchstens von einer Aehnlichkeit die Rede sein konnte... Ferner glaubte der Eigentümer dieser Sammlung durch[545] dieselbe auch instruktiv auf die Buchdruckerkunst der Jetztzeit wirken zu können, da nicht so leicht an anderen Orten die Gelegenheit zu finden sein dürfte, die verschiedenartigen älteren Typenformen in solcher systematischen Auf- und Zusammenstellung kennen zu lernen, worunter doch so viele sich befinden, die ein hohes künstlerisches Interesse erwecken und heute noch als mustergiltig zu betrachten sind. Aber auch in anderen Beziehungen bietet unser Museum eine Fülle authentischer Belege dar, die für eine künftige bessere Geschichtsschreibung von unschätzbarem Werte sind; denn über so manchen Drucker und Druckort verbreitet sich ein neues Licht, und was bisher als frühestes typographisches Erzeugnis einer Stadt oder eines Landes angestaunt, von allen Bibliographen deshalb eingehend beschrieben und im Handel mit hohen Summen bezahlt wurde, kommt nun auf einmal erst in zweiter oder dritter Linie zu stehen.« Auf eine Beschreibung der Schätze selbst kann hier leider nicht eingegangen werden, es muß dieserhalb auf den schon erwähnten »Beschreibenden Catalog« selbst hingewiesen werden. Wie sich die 1010 Drucke auf die 18 Druckstädte verteilen, wieviele darunter zu den Inkunabeln im engeren Sinne des Wortes, wieviele davon der Zeit vor 1471 angehören, wie das Einführungsjahr der Druckkunst nach Klemms Angabe festgestellt wurde, geht aus der nachfolgenden von C. B. Lorck im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (1886 Nr. 223) veröffentlichten Tabelle hervor:[546]
Schließlich sei noch erwähnt, daß Klemm die sogenannte Lutherbibliothek auf der Wartburg bezw. in Eisenach einrichtete, deren Zusammenbringung ihm viel Mühe und viele Kosten verursachte, was Großherzog Carl Alexander durch hohe Ordensverleihung anerkannte.
(bezüglich Ulm vergl. den Artikel ⇒ Hohenwang.)
Quellen: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1884, 1886, 1887; Schanz, Hch. Klemm u. sein bibliogr. Museum; Illustrierte Zeitung Nr. 2268; Beschreibender Catalog usw. (siehe oben), Dresden 1884; Verlagskataloge 1856, 1863, 1868, 1883.
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