|
Nicht als Parteimann will ich reden. Politik habe ich immer nur unter dem nationalen Gesichtspunkte angesehen, nicht nur die auswärtige, sondern alle Politik überhaupt. Danach allein orientierte ich auch meine Parteizugehörigkeit. Als ich zum erstenmal mit meinem Vater zur Wahlurne ging, gab er einen liberalen Stimmzettel ab und ich einen konservativen, – jetzt längst nicht mehr. Ich habe dem alldeutschen Verbande angehört und erhielt in der Kriegszeit ein Zirkular mit der Überschrift »Alldeutscher Verband«, welches mir (wie anderen) die Brandmarkung vor der Nachkommenschaft ankündigte. Ich überlasse diesen guten Leuten und schlechten Musikanten die Sorge für unsere Unsterblichkeit, halte es aber für richtig, scharf Farbe zu bekennen2.
Es herrscht jetzt viel Gerede von »innerer Einigung«. Das soll doch heißen: Einigung unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt einer nationalen auswärtigen Politik. Gut! Es hat Zeiten gegeben, wo man Sympathien für ein Zusammengehen mit England hatte, deshalb, weil man liberal war. Nun, das ist jetzt für immer vorbei. Ebenso aber hat es Parteien gegeben, die Rußland würdelos umschmeichelten, weil sie konservativ waren. Die »Kreuzzeitung« hat über Olmütz gejubelt und den Einmarsch der Heere des Kaisers NIKOLAUS ersehnt. Die Polizeidienste, die wir ohne jegliches politische Entgelt der russischen Regierung leisteten, haben in Rußland uns den Haß der Liberalen und – selbstverständlich – die Mißachtung der reaktionären Kreise eingetragen, wie jeder aus der Presse sich überzeugen konnte. Ist auch diese innerpolitische Sympathie mit Rußland jetzt vorbei? Ich glaube ganz und gar nicht. Mit Eifer bieten[157] sich manche Berliner Politiker den Russen an, obwohl die russische Presse, gerade auch die reaktionäre, diesem Liebeswerben nur Hohn und Spott entgegensetzt. Dabei sind rein innerpolitische Gründe im Spiel. Nicht einmal, sondern Dutzende von Malen trat mir in Berlin die Äußerung entgegen: »Keine Verständigung mit England, denn das führt zum Parlamentarismus«, oder: »Wie denken Sie sich aber die innere Politik, wenn wir wirklich Belgien räumen sollten?« Und leider haben derartige Erwägungen auch in die U-Boot-Kriegsfrage hineingespielt, wie wir alle wissen. Denn ohne dies hätte jeder sich gesagt, daß es ein Frevel ist, den schwer kämpfenden Truppen draußen vorzureden: es gäbe ein Mittel, den Krieg in einigen Monaten zu beenden. Männer, die innerpolitische Antipathien in unserer Kriegs- und Friedenspolitik mitsprechen lassen, sind für mich keine nationalen Politiker, und von einer inneren Einigung mit ihnen kann gar keine Rede sein.
Unsere besondere internationale Lage und unsere Außeninteressen allein haben unsere Außenpolitik zu bestimmen.
Welches sind nun diese unsere Außeninteressen und welches ist unsere besondere Lage? Davon will ich reden und mich dabei ganz kühl und akademisch nicht an das Gefühl, sondern nur an das politische Denken wenden.
Unsere Außeninteressen sind zum erheblichen Teil rein geographisch bedingt. Wir sind ein Machtstaat. Für jeden Machtstaat bildet die Nachbarschaft eines anderen Machtstaates ein Hemmnis in der Freiheit seiner politischen Entschließungen, weil er auf ihn Rücksicht nehmen muß. Für jeden Machtstaat ist es wünschenswert, von möglichst schwachen Staaten oder doch von möglichst wenigen anderen Machtstaaten umgeben zu sein. Unser Schicksal nun hat es gefügt, daß nur Deutschland an drei große Landmächte, und noch dazu die stärksten nächst uns, und außerdem an die größte Seemacht als unmittelbarer Nachbar angrenzt und ihnen also im Wege ist. Kein anderes Land der Erde ist in dieser Lage.
Daraus folgt erstens die Notwendigkeit besonders starker Rüstung. Auch der extremste Pazifist bei uns wird das heute nicht mehr bestreiten. Aber es folgt daraus allerdings auch, daß wir unsere Politik mit unserer geographischen Lage in Einklang bringen müssen. – Was heißt das?
Das heißt zunächst, daß wir Politik nicht – wie BISMARCK sagen würde – durch Einwerfen von Fensterscheiben betreiben dürfen, daß[158] wir, heißt es, nicht, um unsere Gefühle auszutoben, Feindschaften auf uns nehmen dürfen um solcher Objekte willen, für welche wir unsere Machtmittel nicht einsetzen können oder wollen. Bei dem heute üblichen Schelten auf unsere Diplomatie wird immer das eine vergessen: daß auch die beste Diplomatie gar nichts leisten kann, wenn die Politik einer Nation darin falsch orientiert wird. Die erste, lange nachwirkende schwere und dabei ganz nutzlose Niederlage, welche die deutsche Politik sich zugezogen hat – es muß einmal daran erinnert werden –, ist durch die törichte Gefühlspolitik in der Burenfrage herbeigeführt worden. Die Nation, unter der Führung ganz der gleichen Kreise, die jetzt die »Fronde« betreiben, nicht die Diplomatie, machte den Fehler. Es war eine ganz planlose Gefühlspolitik oder – was dafür nur ein anderes Wort ist – eine alldeutsche Politik, die uns das zugezogen hat. Und es war nur einer von zahlreichen Fällen.
Es bedeutet weiter: daß wir nur eine sachliche Politik und keine Politik des Hasses treiben dürfen. Ich spreche nicht gegen Haß und Zorn als solche. Man kann das Große nicht wahrhaft lieben, wenn man das Niederträchtige nicht hassen kann. Deutscher Haß, einmal fest eingewurzelt, ist nachhaltig. Gewiß wäre es von England töricht, wenn es durch Fortsetzung seiner bisherigen Politik gegen uns sich einen Todfeind auf 100 Jahre schüfe. Denn in der Tat kann es dann unter Umständen für unsere Politik unmöglich werden, darüber hinwegzukommen. Aber das ist Englands Sache. Töricht wäre es jedenfalls von unserer Seite, wollten wir jetzt unsere politischen Ziele abgrenzen nicht nach politischen Gesichtspunkten, sondern aus dem Gefühl eines noch so begreiflichen Hasses. Gegen uns ist der Haß am stärksten in Frankreich. Bei uns dagegen richtet sich der Haß ganz ausschließlich gegen England, ganz ebenso, wie er sich in Österreich ausschließlich gegen Italien richtet. Mag er nun in beiden Fällen menschlich noch so begreiflich sein, so sind doch die einzigen wirklichen Fehler, die – vielleicht! – in diesem Kriege gemacht worden sind, aus der Unsachlichkeit eben dieses Hassens geboren worden.
Sachliche Politik bedeutet weiter: keine Politik der Eitelkeit, des renommistischen Redens und Auftrumpfens, sondern eine Politik des schweigenden Handelns. Wie aber ist bei uns Politik gemacht worden? Vergleicht man etwa den Kolonialerwerb Deutschlands mit dem anderer Staaten in der gleichen Zeitspanne, so ist er wahrhaftig[159] lächerlich bescheiden. Denkt man aber dann an den Lärm, der bei uns diesen bescheidenen Erwerb begleitete, als wenn es sich darum handelte, die halbe Welt zu verschlingen, – und vergleicht man damit das ruhige Schweigen der anderen, so wirkt das politisch für uns tief beschämend. Das war ein Produkt politischer Unerzogenheit der Nation, wiederum: ein alldeutsches Produkt. Genau die gleiche Erscheinung: die gleichen alldeutschen Renommistereien, bei der Flotte. Und noch jetzt im Kriege erleben wir ja genau das gleiche. Man hat von dem »Ende des englischen Weltreichs« als Kriegsziel gefabelt, – als ob das englische Weltreich auf dem Besitz etwa des Suezkanals und ähnlicher Dinge und nicht vielmehr auf der nationalen Gemeinschaft der Angelsachsen beruhte, die nun einmal mehrere Kontinente teils ganz, teils halb besiedelt haben und die doch nun einmal von dort nicht durch uns herausgejagt werden können. Oder man hat von dem Ende der englischen Seemacht geredet. Und doch liegt es auf der Hand, daß auch bei gleich starker Flotte es für uns unmöglich wäre, den Hafen von Liverpool ebenso zu blockieren, wie für England den von Hamburg. Die geographische Lage Großbritanniens rein als solche erleichtert ja die Blockade Hamburgs und behindert die von Liverpool. Und der Besitz von ein paar Kanalhäfen würde daran gar nichts ändern. »Ja, wozu brauchen wir dann unsere Flotte!«, bin ich daraufhin allen Ernstes gefragt worden. Es ist ein Glück, daß die ruhmvolle Seeschlacht beim Skagerrak angesichts dieses Unsinns auch jedem Laien gezeigt hat, wofür wir Schlachtschiffe brauchen. Ohne sie hätten wir die englische Landung in Dänemark. Wir brauchen sie auch, um England im Angriffsfall so schädigen zu können, daß es sich zweimal besinnt, uns anzugreifen. Und das wird es künftig tun. »Vernichten« aber können wir einander nun einmal nicht. In England wie bei uns sollte man dies prahlerische Gerede abstellen.
Wenn wir BISMARCKS »Gedanken und Erinnerungen« aufschlagen, so werden wir finden, daß zu den nicht sehr zahlreichen gesperrt gedruckten Worten im Text auch die Warnung gehört, uns zu einer Politik der »Eitelkeit« und dazu verleiten zu lassen, aus den geographischen Bedingungen unseres Daseins heraustreten zu wollen. Das gilt auch heute noch. Denn am allerwenigsten dürfen wir, in unserer geographischen Lage, eine Politik der Eroberereitelkeit treiben wollen. Es ist öffentlich bekannt, daß eine Denkschrift mehrerer Interessentenverbände unter alldeutschem Einfluß seinerzeit die Einverleibung – oder noch Schlimmeres: die Unterwerfung ohne Gewährung[160] von Bürgerrecht! – für ganz Belgien und Nordfrankreich bis zur Somme gefordert hat. Wenn jemand diese, nach meiner Meinung unglaublich törichte Ansicht hatte, – nun, so war es gewiß sein Recht, sie zu vertreten. Dazu stand ihm das Mittel der Eingabe an die politischen Instanzen und daneben der Erörterung mit den politischen Parteiführern zu Gebote. Den Weg zu diesen hatten gerade diese Herren nicht weit. Was aber geschah? In so zahlreichen Exemplaren wurde die Denkschrift gedruckt verschickt, daß nach kurzer Zeit ihr Inhalt Gemeingut aller ausländischer Zeitungen war: das also waren die deutschen Kriegsziele. Ich habe es von Anbeginn an als einen Fehler des Reichskanzlers angesehen, daß er diesem Unfug nicht scharf entgegentrat und den Ausdruck »Faustpfand« für Belgien nicht alsbald erneut unterstrich. Alldeutsche Einflüsse stellten sich ihm in den Weg. Als sich dann für jedermann deutlich herausstellte, daß keinerlei deutsche Autorität hinter den Plänen jenes Machwerks stand, war infolgedessen das Echo des Auslands: »Deutschland wird billiger«, es fühlt sich also wohl schwach. Aber damit nicht genug: die Demagogie dieser Eitelkeitspolitiker – ich will ganz davon absehen, daß dahinter sich zum Teil materielle Interessen verbargen – ging nun dazu über, den Ehrenpunkt auszuspielen: »Wer Belgien herausgibt, der ist besiegt.« So etwas ist doch auch rein menschlich unerträglich. Wenn die Armee draußen sich auf den Standpunkt stellte: »Wir haben diese Gebiete erobert, wir wollen nicht, daß sie herausgegeben werden«, – nun, so würden wir immer noch für uns in Anspruch nehmen zu sagen: »Bedenkt, es ist vielleicht nicht klug.« Bliebe sie dann dabei, – gut. Wenn aber Daheimgebliebene, im Kontor oder auf dem Katheder oder wo immer sie sitzen mögen, – wenn die unseren Truppen, die draußen für Deutschlands Ruhm und Ehre das Unerhörte getan und unvergängliches Gedenken an ihre Fahnen geheftet haben, die Freude an dem ungeheuren Erfolg zu verderben und ihnen zu sagen sich herausnehmen: »Wenn nicht die Landkarte so und so verändert wird, dann habt ihr umsonst gefochten«, – dann kann ich nur hoffen, daß sich noch deutsche Fäuste finden, um solchen Burschen auf den Mund zu schlagen. Das sind nicht die Leute, die in ernsten Stunden der Nation das Wort zu führen haben. Und dann noch eins: wir führen einen gemeinsamen Bundeskrieg. Jeder Admiral weiß, daß er im Geschwaderverband sich nach dem langsamsten Schiff richten muß. Wenden wir das einmal auf die Politik an. Für sachliche Lebensfragen eines Verbündeten werden alle beliebig[161] lange weiterkämpfen. Nicht aber für eitle Erobererinteressen, für ein deutsches Belgien die anderen so wenig wie wir etwa für ein österreichisches Venedig.
Unsere Politik hat sachliche Politik zu sein, auch in der Aufregung des Krieges. Was folgt nun positiv daraus?
Zunächst folgt aus unserer geographischen Lage die Notwendigkeit weitsichtiger Bündnispolitik. Heute kann keine Weltmacht, auch nicht Rußland oder England, der Bündnisse für die Weltpolitik entbehren. Wir noch weniger als andere. Verteidigen können wir uns gegen eine Welt von Feinden auch allein. In der Welt mitreden nicht. Denn man könnte nicht etwa wegen Samoa gegen eine Weltkoalition wie diese in einen Krieg gehen. Die Nation hätte nicht so dahintergestanden wie jetzt. Jede Bündnispolitik aber hat eine unumgängliche sachliche Voraussetzung: die möglichste Erhaltung der Wahlfreiheit. Bündnisse kann man um so zweckmäßiger schließen, je mehr Möglichkeiten man sich vorher, durch seine Politik, offengehalten hat. Und da war und ist nun für uns durch unsere historische Lage folgendes gegeben.
Es bestand eine absolute Schranke unserer Wahlfreiheit schon bisher: Frankreich. Es war für jeden Gegner gegen uns zu haben, und es war niemals für uns zu haben. Unsere ganze internationale Lage seit 1871 war dadurch bestimmt.
Eine neue Schwierigkeit, das wollen wir uns nicht verhehlen, ist jetzt hinzugetreten: die Sprengung des Dreibundes, dessen ausschließlicher Sinn im letzten Jahrzehnt die Erhaltung der Wahlfreiheit war. Dadurch ist unsere Wahlfreiheit wiederum eingeschränkt. Sehr verstärkt ist dadurch die Notwendigkeit, in unserer Gesamtpolitik wählen zu müssen zwischen den beiden größten Weltmächten: England und Rußland. Nicht notwendig in der Form eines Bündnisses, – das würden wir nur bei sehr gewichtigen Vorteilen abschließen. Wohl aber in der Form der Verständigung. Absolut notwendig aber ist, um eine zweckmäßige Politik nach dem Kriege zu ermöglichen, die Fernhaltung jeder weiteren nutzlosen Beschränkung unserer Wahlfreiheit, solange dies möglich ist. Jedenfalls dürfen wir sie uns nicht durch eine unsachliche Politik beschränken lassen. Es ist gewiß nicht wünschenswert, daß wir in Zukunft etwa auch Rußland uns für immer zum Gegner machen. Ebensowenig aber, statt Frankreich allein, nun: Frankreich und England. Denn in diesem Fall könnte uns Rußland die Bedingungen jeder Verständigung einseitig vorschreiben.[162] Es hätte uns in der Tasche, wir würden sein Werkzeug. Unglaublicherweise ist aber in der letzten Zeit in der alldeutsch beeinflußten Presse sogar die Parole aufgetaucht: »Wir sind für Verständigung mit Rußland, und deshalb für den U-Bootkrieg.« Das heißt: wir wollen die ganze Welt gegen uns in die Schranken rufen, damit Rußland uns in der Tasche hat. Solch törichtes Gerede nennt man bei uns: nationale Politik.
Jede Verständigungspolitik nach dem Kriege muß von unseren sachlichen Interessen ausgehen. Welches also sind diese? Was liegt zwischen uns und unseren Feinden, – nach Ausscheidung aller Gefühls-und Eitelkeitsfragen?
Man hat gesagt: wirtschaftliche Gründe haben den Krieg bedingt. Ist das wahr? Wo sind sie bei Frankreich? Wo bei Italien? Bei Serbien? Bei Rumänien? Schön, sagt man, aber bei England: eben deshalb, weil da wirtschaftliche Gründe vorliegen, sei es unser »natürlicher Feind«. Wirklich? Und Rußland weniger?
Fast jede Handelsvertragsverhandlung mit Rußland hat doch zu Kriegsdrohungen Rußlands gegen uns geführt. Gewiß: England war unsere industrielle Konkurrenz sehr im Wege. Vor allem: die Preispolitik mancher Kartelle: hohe Preise im Inland, Schleuderpreise im Ausland, das sog. »dumping«. Rußland andererseits verlangte: das Opfer unserer Landwirtschaft. In beiden Fällen ist aber aus diesen Gründen kein Krieg entstanden, wäre er nicht entstanden und wird er künftig erst recht nicht entstehen. Denn das ist ein einfaches Rechenexempel. Nehmen wir einmal an, England könne uns wirklich 2 bis 3 Millarden von unserem Überseehandel dauernd gewaltsam abnehmen. Nehmen wir weiter an, daß an Unternehmergewinn und reinem Arbeitslohn dabei für England 400 bis 500 Millionen mehr jährlich herauskämen, – das ist gut gerechnet. Die Verzinsung der diesmaligen englischen Kriegskosten aber wird schon jetzt mehr als 3 Milliarden jährlich betragen. So schlecht rechnet dort niemand.
Aber, könnte man sagen: der Interessengegensatz im Orient: der Kampf gegen die Linie Berlin – Bagdad. War das ein rein wirtschaftliches Problem? Und war dies unausgleichbar? Die Erfahrung hat gelehrt: nein. Gewiß: wenn dadurch die Orientstellung Englands politisch bedroht werden sollte, dann freilich trug diese Interessenkonkurrenz den Keim des Krieges in sich. Sonst nicht. Wie aber stellt sich denn unser Interesse zu dem Rußlands? Da handelt es sich nicht[163] um Bagdad, sondern um Konstantinopel selbst! Die Erfahrungen des tripolitanischen Krieges, die Bankerotte in Odessa, als damals die Dardanellen gesperrt wurden, haben das wirtschaftliche Interesse Rußlands an Konstantinopel gewaltig in den Vordergrund gerückt. Rußland ist die schlechthin einzige Macht, die an dem, was wir politisch nicht zulassen wollen: am Untergang der Türkei, wirtschaftlich interessiert ist und vorläufig bleibt. England und Frankreich dagegen hatten seit alters ganz ebenso wie wir das entgegengesetzte Interesse. Erst jetzt, aus politischen Gründen, haben sie sich anders gestellt. Unsere eigenen rein wirtschaftlichen Interessen in der Türkei sind [nicht] bedeutend. Immerhin muß man doch bedenken: wenn man den Reinertrag der dortigen Unternehmungen für uns nach Abzug der Kosten berechnet, so könnten von den Renten vielleicht 50000 bis 60000 von den 70 Millionen Deutschen bescheiden existieren. Sehr wichtige politische, nicht aber wirtschaftliche Gründe bestimmen also letztlich unser Verhalten zur Türkei. Eine wirtschaftliche Verständigung mit den Westmächten über den Orient wäre wahrscheinlich sofort möglich, wenn der politische Gegensatz nicht mehr bestände. Eine Verständigung darüber mit Rußland ist politisch und wirtschaftlich schwer, solange nicht die unbedingte politische Integrität der Türkei als Grundlage anerkannt ist. Die vielberedete Ablenkung auf Persien bedeutet für Rußland keinerlei Ersatz für Konzessionen an den Dardanellen. Und was schließlich das national-türkische Interesse selbst anlangt, so muß man sich doch nüchtern klarmachen, daß nach dem Kriege die Türkei neben unserm Geldmarkt auch den der Westmächte wieder wird suchen wollen. Wir sind gewiß für die Türkei der naturgemäße, weil notwendig politisch uneigennützige Freund. Aber sie wird uns schwerlich das absolute Monopol einer wirtschaftlichen Freundschaft gewähren wollen oder auch nur können.
Und schließlich findet sich in unserer Lage gegenüber Rußland noch ein wirtschaftliches Element, welches bei den Westmächten gänzlich fehlt: der russische Volksimperialismus, wie ein österreichischer Sozialdemokrat es genannt hat: die Expansionstendenz durch den Landhunger der russischen Bauern. Der ist Folge des Kulturzustandes, er wird irgendwann schwinden, aber er wird vorläufig zunehmen.
Alles in allem also entscheidet die wirtschaftliche Interessenkonstellation, rein aus sich, keinesfalls zugunsten einer Verständigung[164] mit Rußland. Indessen, die wirtschaftlichen Gründe waren ja nicht die wirklichen Kriegsgründe. Diese waren, wie fast immer, politischer Natur. Welche waren sie?
Zunächst für Frankreich: Vor allem natürlich unsere Existenz als benachbarter Machtstaat an sich. Aber Frankreich wird uns sowenig aus der Welt schaffen wie wir Frankreich. Dann ein Einzelgrund: das Elsaß. Diese Frage war vor 15 Jahren auf dem Punkt, sich allmählich von selbst zu erledigen, und wäre längst erledigt, wenn nicht ein Grundfehler der BISMARCKschen Politik dort einen Zustand geschaffen hätte, der in den Augen der Franzosen und auch der Elsässer selbst nur ein Provisorium bedeuten konnte. Es ist eine der allerwichtigsten Friedensgarantien, daß dieser Zustand unbedingt ein Ende nimmt. Nur ein großer Staat ersetzt den Elsässern Frankreich. Das Elsaß kann finanziell nur gedeihen durch Anschluß an einen Bundesstaat, der groß genug ist, um die künftig unvermeidliche jährliche Mehrausgabe von etwa 40 Millionen nicht scheuen zu müssen. Würde diese Lösung etwa durch Eifersüchteleien der Regierungen verhindert, so trügen diese die furchtbare Verantwortung, wenn in der Tat der Krieg nutzlos geführt ist. Aber in den letzten Jahren war nun ein weiterer ganz entscheidender Kriegsgrund hinzugetreten: seit Einführung der dreijährigen Dienstzeit betrachtete die gebildete Schicht in Frankreich wie ein Mann den Krieg als unvermeidlich. »Wir werden Barbaren, wenn wir alle wirklich drei Jahre in der Kaserne liegen; wir brauchen den Krieg bis aufs Messer. Entweder wir brauchen nachher die starke Armee nicht mehr, oder – sie lohnt sich nicht mehr.« Das sagte mir ein Jahr vor dem Kriege ein gebildeter Franzose. Nun, dieser Kriegsgrund wird fortfallen. Die Finanzen der Staaten auf der einen Seite, die Notwendigkeit der Ausbildung jedes Mannes auf der anderen werden automatisch in allen Ländern die Abkürzung der Dienstzeit erzwingen. Nicht ein Bündnis, aber eine friedliche Beziehung zu Frankreich wird dann möglich sein.
Nun zu England: Nicht die deutsche Konkurrenz war der entscheidende Kriegsgrund, sondern die vermeintliche Bedrohung durch unsere Flotte. Der englische Spießbürger fürchtete die Gefahr einer Landung. Der englische Weltpolitiker aber fand den Zwang unerträglich, die ganze englische Flotte in der Nordsee zu konzentrieren; das bedeutete eine Einschränkung der weltpolitischen Handlungsfreiheit und zwang zu Opfern an andere, die England sonst nie gebracht hätte. Ist da eine Änderung möglich? Nach dem Geschehenen[165] gewiß nicht leicht. Aber eine Verständigung ist ja seinerzeit versucht worden unter Beteiligung des Staatssekretärs v. TIRPITZ. Woran scheiterte sie? Nicht an der Formel. Sondern einmal daran, daß kein Teil dem anderen traute, dann aber auch daran, daß sie zu spät versucht wurde, als England schon zu fest engagiert war. Da Deutschland nur eine Verteidigungsflotte braucht, ist künftig eine Änderung dieser Lage nicht ausgeschlossen. Vorbedingung ist freilich: einmal eine Änderung des Seerechts von Grund auf. Dazu wird sich England früher oder später ohnedies verstehen müssen, sonst droht ihm bei jeder künftigen kriegerischen Verwicklung auch der Krieg mit neutralen Großmächten. Denn niemals würden wir uns das gefallen lassen, was jetzt Amerika und andere Neutrale sich von England bieten lassen. Und auch Amerika wird, wenn es erst seine Kriegs- und Handelsflotte hat, es sich nicht mehr bieten lassen. Und ferner: daß auf kolonialpolitischem Gebiet England zu dem Grundsatz: »Leben und leben lassen« sich bekennt. Wir brauchen statt unseres Streubesitzes gewiß keine Welteroberung, aber eine arrondierte Interessensphäre, wie andere Länder sie auch haben, ohne daß jemand dadurch gefährdet wird. Nun ist seit dem Krieg die belgische Frage zwischen uns getreten. Der Kriegsgrund war unser Einmarsch in Belgien nicht, das wissen wir ja. Aber daß über Belgien ein Einvernehmen hergestellt wird, ist allerdings Vorbedingung einer ehrlichen dauernden Auseinandersetzung. Die dauernde Besetzung Belgiens durch uns in Verbindung mit unserer Flotte bedeutet für England die Notwendigkeit, außer der größten Flotte auch ein sehr großes Landheer zu halten, und das erklärt die Hartnäckigkeit des Krieges. Eine dauernde Kriegsgefahr gegenüber Frankreich und England, wie sie die Eroberung Belgiens bedeuten würde, hätte aber für die Zukunft die Folge für uns: daß wir uns nicht auf gleichem Fuß mit Rußland verständigen könnten, sondern ihm preisgegeben wären. – Wie steht es nun angesichts dessen mit unseren eigenen Interessen an Belgien?
Zunächst: Was war der Sinn unseres Durchmarsches? Eroberungsabsicht? Kein Deutscher hat an so etwas vor dem Krieg auch nur im Traum gedacht. Sondern das Fehlen der effektiven Neutralität auf belgischer Seite. Da waren nicht die verdächtigen Verhandlungen Belgiens mit unseren Feinden das letztlich Entscheidende. Die folgten erst aus der Lage, in welche Belgien sich gebracht hatte. Entscheidend war: daß Belgien zwar seine Grenze gegen uns verteidigungsfähig[166] gemacht hatte, sich aber außerstande gesetzt hatte, seine Grenze gegen Frankreich und England überhaupt zu schützen. Das war in der Tat »papierne«, nicht effektive Neutralität. Bei einem französisch-englischen Angriff befand es sich in der Lage Griechenlands. Wenn uns freilich England seine eigene Neutralität zusagte, dann war der Durchmarsch dennoch überflüssig. Das tat Herr GREY aber bekanntlich nicht, und damit war der Garantievertrag, den ja die nunmehr kriegführenden Mächte abgeschlossen hatten, ein wertloser Fetzen Papier geworden. Ein neutraler Staat, wie Belgien sein wollte, hatte die Pflicht, sich in den Stand zu setzen, alle seine Grenzen verteidigungsfähig zu erhalten. Den Belgiern war diese Lage auch gut bekannt. Durch die ganze Presse war die Äußerung des Deutschen Kaisers bei den Schweizer Manövern gegangen: »daß wir an unserer anderen Flanke« (in Belgien also) »ungedeckt« seien. Die Schweiz und Holland schützten ihre Neutralität effektiv. Holland tat das bekanntlich gegen Englands Widerspruch. Belgien allein tat es nicht.
Welches Interesse haben wir nun jetzt, nach dem Einmarsch, an Belgien? Nach meiner Ansicht kein wirtschaftliches. Wenn man nämlich das wirtschaftliche Interesse national versteht und nicht als ein Profitinteresse einzelner Unternehmer. Antwerpen bleibt immer eine nichtdeutsche Stadt. Die belgische Industrie wird immer welsches Volkstum tragen. Wir haben kein Interesse daran, für den Profit einiger deutscher Reeder, Bankiers und Unternehmer unseren Arbeitern die Konkurrenz eines Fremdvolkes auf den Hals zu hetzen. Haben wir etwa ein Interesse an einer deutschen Verwaltung Belgiens? Sie wäre ein Unding. Man braucht die Verhältnisse nur auszudenken, die entstehen würden. Sie sind jetzt trotz der Tüchtigkeit unserer Beamten nur haltbar, weil eben das Kriegsrecht dahintersteht. Und ganz undenkbar ist eine Kastration Belgiens durch eine dauernde deutsche Vormundschaft. Wer an so etwas denkt, unterschätzt die Wirkung des Würde- und Ehrgefühls zivilisierter Völker. Wir haben ein Kulturinteresse daran, daß das flämische Volkstum nicht verwelscht, ein politisches daran, daß es nicht rein französisch beeinflußt wird. Aber die Flamen denken gar nicht daran, die deutsche Beherrschung für die französische eintauschen zu wollen. Die Revolte in Belgien würde in Permanenz sein, und wir würden im Westen niemals wieder die Hände frei bekommen. Wir wären Rußland preisgegeben.
[167] Unser Interesse ist ein rein militärisches: Belgien darf kein Einfallstor unserer Feinde werden. Daß es das werden müsse, wenn wir es nicht zum Klientelstaat erniedrigen, – das ist ein Irrtum. Die Belgier wollen unabhängig sein. Jetzt freilich und in der nächsten Zukunft wirkt der Haß gegen uns. Garantien sind also nötig. Welcher Art sie sein müssen, das allein ist die Frage. Wenn von »realen« Garantien die Rede ist, so heißt es wohl: militärisch wirksame Garantien. Und zwar so lange, bis sie überflüssig werden. Sie wären schon jetzt überflüssig, wenn ein festes Neutralitätsbündnis Belgiens mit Holland denkbar wäre. Leider ist das augenblicklich sehr wenig wahrscheinlich. Also muß die Änderung der gesamtpolitischen Situation den Zeitpunkt ergeben. Je früher, je besser.
Die englischen Minister verlangen ihrerseits »Garantien« von uns. Was sie sich darunter denken, sagen sie nicht. Was der Sinn unserer Garantien ist, wissen sie dagegen. Jedenfalls ist der Sinn beiderseits, wenn man sachliche Politik treibt: Garantien, bis sie überflüssig werden. Also: auf Zeit.
Demgegenüber nun Rußland: Die wirklichen, d.h. die politischen Kriegsgründe, waren hier einerseits das Machtinteresse der Bürokratie und der Großfürstenschaft. Andererseits die panslawistische Legende. Diese ist nun in diesem Kriege – das ist ein wichtiges Ereignis – durch die Haltung vor allem der Bulgaren und Polen zerbrochen worden. Und der Traum von der Zertrümmerung Österreichs und der Herrschaft der russischen Bürokratie über alle Slawen wird nun, hoffentlich, damit ausgeträumt sein. Für uns allein wäre eine Verständigung für die Gegenwart vielleicht – ich weiß es nicht – möglich. Wir hätten freilich auch dabei zu bedenken, daß nicht die slawische Frage allein im Wege steht: auch die Ostseefrage: die Frage der Ålandsinseln, liegt heute zwischen uns. Indessen die wirklichen Schwierigkeiten liegen anderswo. Zunächst und vor allem darin, daß wir Bundesgenossen haben und haben müssen. Wir haben sie nur im Osten, nicht im Westen. Im Osten, nicht im Westen fing der Krieg an. Mit großem Nachdruck muß daran erinnert werden: uns [dort] durch Annexion zu arrondieren, unsere Bundesgenossen aber an ganz entscheidenden Punkten – etwa: Armenien – Provinzen abtreten zu lassen, würde uns in die Unmöglichkeit versetzen, in Zukunft Bündnispolitik zu treiben. Wir können nur eine Verständigung annehmen, die unseren östlichen Bundesgenossen annehmbar ist.
[168] Weiter: die Bedrohung von Osten her nimmt, infolge der Volkszunahme Rußlands, in Zukunft zu. Das ist im Westen nicht der Fall. Und vor allem: Die Bedrohung von Rußland her ist die einzige, die sich gegen unsere Existenz als nationaler Machtstaat überhaupt richtet. England kann wohl unseren Seehandel lahmlegen, – unseren gesamten Außenhandel überhaupt schon nur bei einer solchen Koalition wie jetzt. Frankreich kann uns ein Stück Land wegnehmen. Ein siegreiches Rußland kann unsere Selbständigkeit vernichten. –
Jedenfalls also: eine Verständigung mit Rußland ist nicht leicht. Sie ist, deutlich gesagt, nur möglich im Falle eines Desinteressements Rußlands zum mindesten an der serbischen und polnischen Frage. Denn beide sind Existenzfragen für Österreich und uns. Und sie ist nur möglich bei dauernden Garantien, weil die Bedrohung dauernd, und bei sehr starken Garantien, weil sie im Wachsen ist. –
Nun aber etwas Letztes: Rußland bedroht nicht nur unsere staatliche Stellung, sondern unsere ganze Kultur und darüber hinaus die Weltkultur, solange es so geartet ist wie jetzt. In dieser Art trifft das für keine andere Macht zu. Unter universalgeschichtlichen Gesichtspunkten werden künftig die Streitpunkte im Westen, wegen Belgien, als Lappalien erscheinen gegenüber den Entwicklungen im Osten, welche Weltentscheidungen bedeuten.
Und auch wir selbst: im Osten, nicht aber (nach Lösung der Flamenfrage) im Westen, werden wir außerhalb unserer Grenzen Kulturaufgaben haben. Kulturaufgaben? Der moderne deutsche sog. »Realpolitiker« zuckt darüber die Achseln. Es ist eigentümlich: andere Nationen treiben Realpolitik und schwatzen nicht darüber. Der Deutsche aber muß auch aus der Realpolitik sich eine Phrase machen, an die er dann mit der ganzen Inbrunst eines – ich möchte sagen – femininen Gefühls glaubt. Wie steht es denn mit der realpolitischen Bedeutung der »Kultur«? (Wir wollen hier der Einfachheit wegen unter »Kulturgemeinschaft« jetzt einmal nur die durch die Sprache begründete Gemeinschaft verstehen, die »Nation« als im Sinne von Sprach- und Literaturgemeinschaft.) Der Krieg hat den Nimbus des Staates gewaltig gehoben: »Der Staat, nicht die Nation«, ist die Parole. Ist sie richtig? Erkundigen Sie sich bei österreichischen Offizieren einmal über die fundamentale Schwierigkeit, die dadurch gegeben ist, daß der Offizier nur 50 deutsche Kommandoworte mit seiner Mannschaft gemein hat. Wie soll er im Schützengraben mit ihr Gemeinschaft pflegen? Was soll er tun, wenn etwas Unvorhergesehenes,[169] nicht durch jene Worte Gedecktes, geschieht? Vollends im Fall einer Niederlage? Blicken Sie noch weiter östlich auf das russische Heer, das zahlreichste der Erde: 2 Millionen Gefangene sprechen eine deutliche Sprache dafür, daß der Staat zwar vieles kann, daß er aber nicht die Macht hat, die freie Hingabe des einzelnen an sich zu erzwingen, ohne welche die innere Wiedergeburt Deutschlands zu Beginn dieses Krieges unmöglich gewesen wäre.
Diese Bedeutung der Kultur hat aber für uns auch negative Konsequenzen, die wir uns rückhaltlos klarmachen müssen. Jede Politik jenseits unserer Ostgrenze ist, gerade wenn sie Realpolitik ist, unvermeidlich westslawische Politik und nicht nationaldeutsche Politik. Daß dies das Schicksal des Krieges ist, ist eine ganz zentrale Einsicht, die wir die sittliche Selbstzucht haben müssen, uns nicht zu verhehlen. Auch einige hunderttausend deutscher Kolonisten in Kurland würden daran gar nichts ändern. Ihren gefühlspolitischen Wert verkenne ich nicht, – realpolitisch aber bedeuten sie schlechterdings nichts. Würden wir im Osten deutsche Nationalitätspolitik treiben, so würden wir die 15 Millionen dazwischensitzender Slawen für alle Zeit zu [unseren] Todfeinden und [zu] Parteigängern Rußlands machen. –
Was folgt nun aus dem Gesagten? Zunächst: daß alle Friedensziele töricht sind, die jedem Hunde der feindlichen Meute ein Stück vom Schwanz abhacken würden. Das hat BISMARCK 1866 weislich vermieden. Dann: daß für die Gegenwart zwar eine Verständigung mit England gefühlspolitisch und infolge des einmal bestehenden Mißtrauens schwierig ist, daß aber für die Zukunft die größere Schwierigkeit Rußland gegenüber besteht, weil es der dauernd gefährlichere Nachbar bleibt und weil es immer stärker wird. Daß wir im Westen nur zeitweilige, im Osten aber dauernde und auch stärkere Garantien brauchen als im Westen. Daß eine dauernde Verständigung mit Rußland gewiß möglich ist, aber nur bei starken Änderungen in den Grundlagen seiner Politik: Einschränkung seines Eroberungsdranges oder Änderung seines Expansionszieles. – Feststeht aber natürlich eins: verständigen werden wir uns nach dem Krieg unter allen Umständen mit dem, der uns die besseren Garantien gibt; er sei, wer er wolle. Dem können auch wir alle denkbaren Freundschaftsgarantien geben. Unabhängig aber muß diese Frage bleiben von unsachlichen Motiven: von Haß, von Eitelkeit und unabhängig vor allem auch: von innerpolitischen Sympathien.
[170] Ich habe bisher allein von unseren Gegnern gesprochen. Von unseren Beziehungen zu unseren Verbündeten enthält verwickelte Probleme nur unser Verhältnis zu Österreich-Ungarn. Eins freilich ist selbstverständlich: Solange nicht die Politik dieser unserer großen Nachbarmonarchie uns ein anderes Verhalten absolut aufzwingt – und das ist nicht zu erwarten –, kann unser Interesse stets nur dahin gehen: das Bündnis immer noch inniger zu gestalten. Wir denken dabei an das glänzende Buch unseres Freundes NAUMANN3. Seine Intuition allein hat bei uns und drüben das starke Stimmungskapital geschaffen, mit dem jetzt die Politiker diesseits und jenseits wirtschaften können. Rein sachliche politische Erwägungen müssen nun den Weg zum Ziele bestimmen. Die Schwierigkeiten sind natürlich nicht ganz gering. Wirtschaftliche Momente können auch hier nicht den Ausschlag geben. Ein »gutes Geschäft« ist die engere zollpolitische Verbindung für uns durchaus nicht sicher. Aber die entscheidenden Probleme sind natürlich auch hier politische. Die beteiligten Dynastien und auch die Völker werden ihre Bewegungsfreiheit sich nicht gern beschränken lassen. Ganz einfach ist dabei die Lage gerade für uns nicht. Ein enger Verband mit zwei souveränen Staaten belastet uns mit allen Konsequenzen von deren äußerer und innerer Politik und Wirtschaftspolitik. Und gerade der Versuch, eine wirtschaftliche Einigung herbeizuführen, belastet, wenn er gelingt, die gegenseitige Beziehung mit all jenen Verstimmungen, welche aus dem wirtschaftlichen Wettbewerb folgen. Man muß sich jedenfalls ganz klarmachen: daß der Inhalt der Militärkonvention für beide Teile bei weitem das Wichtigste von allem ist, weit wichtiger z.B. als alle Zollfragen. Die beiden Heere müssen, wenn die neue Entwicklung einen Fortschritt im Vergleich mit der Gegenwart bedeuten soll, in ihren inneren Einrichtungen und im Kriege im Kommando so ineinandergreifen können, als ob sie Verbände eines einheitlichen Heeres wären. Und doch muß dabei die beiderseitige Militärhoheit gewahrt bleiben. Eine solche Konvention ist schwerlich auf der Grundlage eines kündbaren Bündnisses möglich. Und jeder derartige Versuch erfordert von beiden Seiten vor allen Dingen ein ganz ungeheures Maß von Vertrauen. Beide Teile dürfen nicht enttäuscht sein, wenn er nicht sofort in allen Einzelheiten ihren Idealen entspricht. Wird er in die richtige, für alle Teile zweckmäßige Bahn gelenkt, so führt[171] das Schwergewicht der Tatsachen weiter als der formelle Inhalt. In den siebziger Jahren kam einmal bei BISMARCK die Rede auf die Verhandlungen über den Eintritt Bayerns in das Deutsche Reich. Schräg gegenüber dem Reichskanzler saß der bayerische Bundesratsbevollmächtigte, um beide herum [saßen] Abgeordnete der nationalliberalen Partei. Die heikle Frage der bayerischen Reservatrechte, die Enttäuschung, welche sie anfänglich erregt hatten, wurde berührt. Der Reichskanzler sagte etwa: Gewiß, die Stimmung in Deutschland und auch in Bayern selbst war unter der Einwirkung des Krieges so, daß wir von der bayerischen Regierung durch einen scharfen Druck wohl mehr hätten erreichen können. »Aber«, fuhr er fort, indem er die Hand über den Tisch nach dem bayerischen Gesandten hinreckte, »wenn ein Freund seine Hand in meine gelegt hat, so werde ich sie doch nicht zerquetschen«, – und er ballte sie zusammen. Ich sprach Anwesende gleich nachher; der Eindruck war gewaltig: es war der grandiose Stil der deutschen Politik jener Tage. Ich denke: das, was BISMARCK sagte, ist gehalten worden: – Bayerns Dynastie und Volk haben ihr Vertrauen nicht zu bereuen gehabt, und die Einrichtung genügte trotz ihrer Mängel. Nun ist aber freilich die Frage eines Bündnisses unter mehreren gleich mächtigen Großstaaten eine andere als die zwischen dem Norddeutschen Bund und auch einem starken deutschen Einzelstaat. Da mußte nur Bayern das Vertrauen haben, nicht vergewaltigt zu werden. In diesem Falle müssen beide Teile es haben. Auch wir. Und damit komme ich denn zuletzt auf den wichtigsten Punkt, an dem sich das zeigen muß und wird. Gemeinsam erobert sind Serbien und Polen. Die Probe unserer Bundestreue ist: daß über Serbien nur so disponiert werden wird, wie es Österreich und Ungarn verlangen. Die Probe der Treue unserer Bundesgenossen ist: daß über das eroberte Polen nur so disponiert werden kann, wie es unsere Lebensinteressen erheischen. Die polnische Frage reicht bei uns bis vor die Tore der Reichshauptstadt. Jede Landkarte ergibt, daß das Schicksal Kongreß-Polens über Schlesien entscheidet und uns unendlich näher berührt als Österreich. Niemand wird erwarten, daß wir uns als Resultat des Krieges ein Serbien vor die Tür setzen, welches durch sein Schwergewicht die Nachbarmonarchie gegen uns beeinflussen könnte. Eine wirklich glatte, sowohl für uns wie für Österreich und für die Polen befriedigende Lösung der polnischen Frage gibt es nicht. Rein politisch war der Zustand vor dem Kriege für unser Interesse so lange erträglich, als Rußland nicht – wie es im Begriff stand – Polen als[172] Operationsbasis gegen uns ausbaute. Jetzt ist dieser Zustand von vor dem Kriege nicht mehr möglich. Polen wurde russisches Einfallstor, die Polen selbst [wurden] sämtlich Parteigänger der Einigung unter russischer Oberherrschaft. Es ist nun bekannt, daß die Polen Galiziens und vielleicht anfangs ein Teil der Kongreß-Polen die Angliederung an Österreich wünschten. Die wäre aber allerdings nur möglich, wenn wirklich zwischen uns und Österreich-Ungarn ein ewiger unzerreißbarer Staatenbund, das heißt: neben dem ewigen Militärbündnis eine volle Wirtschafts-, Zoll-, Bank- und Währungsgemeinschaft derart geschaffen würde, daß die drei Staaten trotz ihrer Souveränität einen für alle Zeit unzerreißbaren Verband bildeten. Bloße Verabredungen tun das nicht. Für uns wäre eine Befriedigung solcher Wünsche vielleicht politisch so ratsam, daß wir sogar jenes sehr starke politische und wirtschaftliche Opfer zu bringen uns entschließen könnten: ich lasse das hier unerörtert. Denn unsere Bundesgenossen müssen zuerst entscheiden, ob sie das können und wollen. Die preußischen Polen und eine wachsend starke Partei Kongreß-Polens wünschen die Angliederung an uns als verbündeter, aber selbständiger Staat. Das wäre die einfachere Lösung. Wirtschaftlich brauchten wir von diesem Staate nur die Meistbegünstigung. In allen anderen Dingen wäre absolut entscheidend nur: nichts zu versprechen, was wir nicht halten können, alles loyal zu halten, was versprochen ist. Das aber können wir. Wir sind in der Lage, jene Forderungen der Polen selbst, welche sie 1905 während der Revolution an Rußland stellten, weit zu überbieten. Die Nation würde die volle Selbstregierung haben. Nur militärisch müssen wir – das verkennen die Polen selbst am wenigsten – die Garantien für unsere Nordostgrenze angesichts der russischen Übermacht in eigener Hand haben.
Nun hat man gesagt, und auch Parteiführer der Rechten haben das getan: was gehen denn uns die Polen an? Ja, ich wiederhole, die Polen reichen bis vor die Tore Berlins. Ich galt für einen Polenfeind. Ich verwahre noch einen mit Namen unterzeichneten Brief aus Lemberg von vor 20 Jahren, der das Bedauern aussprach, daß mein Urahne nicht von einem mongolischen Schwein gefressen sei, – davor hätten mich die Polen bewahrt, und nun bewähre ich mich schlecht. Gewiß: gegen die Nationalitätenkonkurrenz nach dem System der billigeren Hand, Unterbieten im Arbeitslohn durch ausländische Arbeiter, habe ich mich gewandt und trat aus dem Alldeutschen Verband aus, weil er das Interesse der Großgrundbesitzer an billigeren[173] slawischen Arbeitskräften über das der Nationalität stellte. Die alldeutsche, törichte und unwirksame Sprachenpolitik gegen die Polen habe ich niemals mitgemacht. Jetzt aber ist – innen und außen – die Lage völlig verändert, genau so, wie ich es alldeutsch beeinflußten Kollegen vor dem Kriege voraussagte. Im Innern muß eine ehrliche Verständigung mit den Polen, die wie alle anderen ihre Pflicht taten, stattfinden. Jenseits unserer Grenze aber können wir, in Polen und im Osten überhaupt, nachdem einmal dieser Krieg gekommen ist, keine großdeutsche Politik treiben. Sondern es ist unser Schicksal, daß dieser Krieg die Westslawenfrage aufrollt, und daß wir im Osten Befreier der kleinen Nationen selbst dann sein würden, wenn wir es nicht wollten. (Der inzwischen im preußischen Abgeordnetenhaus eingebrachte Antrag zur Polenfrage und die Reden der Politiker der Rechten dazu sind – von anderem abgesehen – das vernichtendste Zeugnis gegen deren politische Urteilsfähigkeit oder Urteilswilligkeit; denn daß dieser Schritt bevorstand, wußten die Führer so gut wie andere mindestens seit mehreren Monaten.)
Als eine der Phrasen unserer Gegner wurde ja das Problem der »kleinen Nationen« aufgeworfen. Wenn sie wirklich auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips Frieden schließen wollten, nun, das könnten wir – sagen wir das doch mit lauter Stimme vor der ganzen Welt! – jeden Tag. Aber: »Que Messieurs les assassins commencent!« Der Friedensvertrag hätte dann also zu besagen, daß Irland, Malta, Gibraltar, Ägypten, Indien, die Buren, Indochina, Marokko, Tunis, die Araber in Algier, die Polen, Ukrainer, Litauer, Letten, Esten, Finnländer, Kaukasusvölker, – daß, sage ich, diese 350 Millionen Fremdvölker, wel che unsere Gegner ungefragt beherrschen, ausbeuten, in unsere Maschinengewehre jagen, in einer – sagen wir – durch den menschenfreundlichen Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten zu kontrollierenden freien Abstimmung sich zu äußern hätten, ob sie einen eigenen Staat bilden wollen oder nicht. Wir wollen dabei gern unsern Gegnern zugestehen, daß man kein Prinzip bis zum Unsinn treiben kann. Die drei rationalen Komponenten einer politischen Grenzabsteckung: militärische Sicherheit, ökonomische Interessengemeinschaft, nationale Kulturgemeinschaft, harmonieren nun einmal auf der Landkarte nicht, und solange es Staaten mit Armeen und Wirtschaftspolitik gibt, sind Kompromisse zwischen jenen Prinzipien unvermeidlich. Mehr als das militärisch Unentbehrliche besitzen an fremdvölkischem Land wir selbst weder im Westen noch im Osten,[174] wo ja innerhalb unserer Grenzen Deutsche und Polen dörferweise durcheinander und benachbart auf demselben Boden sitzen, so daß eine Grenzziehung gar nicht möglich ist. Eine reinliche Scheidung der Nationalitäten Österreich-Ungarns in selbständige reine Nationalstaaten ist teils schon geographisch unmöglich, teils würde sie zum politischen oder wirtschaftlichen Unsinn in der Staatsbegrenzung führen. Hier ist für immer nur die Nationalitätenföderation in einem übernationalen Staatswesen möglich. Unsere Gegner aber können gar nicht daran denken, ihrerseits mit dem Nationalitätenprinzip Ernst zu machen. Das französische ebenso wie das russische und englische Weltreich wären ja damit von vornherein gerichtet. Wir dagegen müssen damit Ernst machen im eigenen Interesse. Nicht wir waren es, die das Prinzip des Machtstaates über die Schranken der Nation hinaustrugen. Wir besitzen keine Kolonie, deren Einwohner wie die Inder, Birmanen, Cochinchinesen, Araber, Litauer, Ukrainer, Georgier, Finnen eine eigene und zum Teil uralte Kultur und, mindestens Rußland gegenüber, eine weit überlegene Kultur besäßen.
Aber freilich: ein Machtstaat sind auch wir. Und daß wir das sind, das ist der letzte entscheidende Kriegsgrund. Gelänge es, uns zu vernichten, so hätten alle unsere Gegner für die Teilung der Welt freie Hand und brauchten dafür nur die Hälfte ihrer jetzigen Heere zu halten. Das ist wahr an dem Gerede über den Kampf gegen den Militarismus. Warum sind wir eigentlich ein Machtstaat geworden?, fragen wir also zuletzt. Sind denn Nationen, die keine großen Machtstaaten bilden, sind die »kleinen« Nationen, die Schweizer, Holländer, Dänen, Norweger, Schweden etwa um deswillen weniger wert? Keinem Deutschen ist es in den Sinn gekommen, derartiges zu behaupten.
Im geschichtlichen Dasein der Völker haben die Machtstaaten und die äußerlich kleinen Nationen beide ihre dauernde Mission. Ein großer Machtstaat von 70 Millionen kann gewiß vieles, was ein Schweizer Kanton oder ein Staat wie Dänemark nicht kann. Aber er kann auch in manchem weniger als diese. Auf dem Kulturgebiet sowohl wie auch bei den ganz eigentlich politischen Werten. Nur in den kleinen Staaten, wo die Mehrzahl der Bürger einander noch kennt oder kennenlernen kann, – wo, auch wenn man nicht mehr das ganze Volk wie in Appenzell auf einem Platz versammelt, doch wenigstens die Verwaltung so von jedem übersehen werden kann wie in einer mittelgroßen Stadt, nur da ist die echte Demokratie, nur[175] da ist aber auch die echte, auf persönlichem Vertrauen und persönlicher Leistung ruhende Aristokratie überhaupt möglich. Im Massenstaat wandeln sich beide bis zur Unkenntlichkeit: die Bürokratie statt der vom Volk gewählten oder ehrenamtlichen Verwaltung, die gedrillte Armee statt der Volkswehr wird unvermeidlich. Das ist das unentrinnbare Schicksal des im Massenstaat organisierten Volkes. Darum hat der Schweizer JACOB BURCKHARDT in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« die Macht als ein Element des Bösen in der Geschichte gewertet. Jeder von uns wird es als eine Fügung des Schicksals preisen, daß einem Teil unseres Volkstums: den Deutsch-Schweizern, es vergönnt ist, die Tugenden der Klein staatsexistenz zu pflegen und ihre Blüten hervorzubringen. Wir jedenfalls sind objektiv genug, diese Sonderlage und den Sonderwert der Schweizer anzuerkennen, trotz so manchem recht törichten und zugleich unangenehm pharisäischen Wort aus ihrem so sorgsam »neutralen« Mund über unseren »Militarismus«. Grenzenlos unverständlich sind solche Reden. Denn warum begaben wir selbst uns in den Bann dieses politischen Machtverhängnisses? Aus Eitelkeit nicht. Sondern unserer Verantwortung vor der Geschichte wegen. Nicht von den Schweizern, den Dänen, Holländern, Norwegern wird die Nachwelt Rechenschaft fordern über die Gestaltung der Kultur der Erde. Nicht sie würde sie schelten, wenn es auf der Westhälfte unseres Planeten gar nichts mehr geben würde als die angelsächsische Konvention und die russische Bürokratie. Und das mit Recht. Denn nicht die Schweizer oder Holländer oder Dänen konnten das hindern. Wohl aber wir. Ein Volk von 70 Millionen zwischen solchen Welteroberungsmächten hatte die Pflicht, Machtstaat zu sein. Wir mußten ein Machtstaat sein und mußten, um mitzusprechen bei der Entscheidung über die Zukunft der Erde, es auf diesen Krieg ankommen lassen. Wir hätten es selbst dann tun müssen, wenn wir hätten fürchten müssen, zu unterliegen. Weil es uns Schande vor Nach- und Mitwelt gebracht hätte, wenn wir uns dieser Pflicht feig und bequem entzogen hätten. Die Ehre unseres Volkstums gebot es. Um Ehre, nicht um Änderungen der Landkarte und des Wirtschaftsprofits – das wollen wir nicht vergessen – geht der deutsche Krieg. Er geht nicht nur um unsere eigene Existenz. Im Schatten unserer Macht leben die kleinen Nationen um uns herum. Was würde aus der Selbständigkeit der Skandinavier, was auch aus der Hollands und was aus dem Tessin, wenn Rußland, Frankreich, England, Italien unser Heer nicht zu scheuen hätten?[176] Nur das Gegengewicht der Großmächte gegeneinander verbürgt die Freiheit der Kleinstaaten.
Gewiß, nicht nur diese Verantwortlichkeit steht jetzt im Krieg in Frage. In der letzten Stube des letzten Arbeiters würde man noch bei unseren Enkeln es gefühlt haben, wenn wir unterlegen wären. Diese Einschränkung, diese Not, die das Durchhalten im Kriege jetzt über Hunderttausende brachte und noch bringen wird, diese selbe beengte Existenz würde dann das dauernde Schicksal der Masse der Deutschen sein. Denn die Welt wird voller, der Vorteil der Auswanderung versagt. Mit der Demokratisierung der Kultur wird die Sprachgemeinschaft auch in den Massen exklusiv, die nationalen Gegensätze [werden] notwendig schärfer, mit dem ideellen und wirtschaftlichen Interesse der Massenschriftstellerei in den einzelnen Volkssprachen fest verknüpft. Ein durch den Verlust des Krieges wirtschaftlich ruiniertes Deutschland würde deutsche Ware als Schleuderware, deutsche Arbeitskräfte als Kulis auf den Weltmarkt werfen; das würde erst die wirkliche »deutsche Gefahr«, den Deutschen aber die Pariastellung bringen. Das hängt für uns am Siege.
Wollten wir diesen Krieg nicht riskieren, nun, dann hätten wir die Reichsgründung ja unterlassen und als ein Volk von Kleinstaaten weiter existieren können. Freilich, so wenig uns der französische Besitz des Elsaß Ruhe vor den Franzosen, so wenig hätte uns das Ruhe vor dem Krieg als solchem gebracht. Den Krieg hätten wir auch dann gehabt: die einen hätten als Rheinbundstaaten für französische, die anderen als russische Satrapie für russische Interessen fechten oder dafür, wie früher stets, den Kriegsschauplatz abgeben dürfen. Nur die Weihe eines deutschen Krieges, die hätten wir dann nicht kennengelernt. Daß wir nun einmal nicht ein Volk von sieben, sondern von 70 Millionen sind, das war unser Schicksal. Das begründete jene unentrinnbare Verantwortung vor der Geschichte, der wir uns nicht entziehen konnten, selbst wenn wir wollten. Das muß man sich immer wieder klarmachen, wenn heute die Frage nach dem »Sinn« dieses endlosen Krieges gestellt wird. Die Wucht dieses Schicksals, das wir bestehen müssen, führte die Nation empor, an Abgründen und Gefahr des Untergangs vorbei, auf der steilen Bahn der Ehre und des Ruhmes, auf der es keine Umkehr gab, in die klare harte Luft des Waltens der Weltgeschichte, der sie in ihr grimmiges, aber gewaltiges Angesicht schauen mußte und durfte, späten Nachfahren zu unvergänglichem Gedächtnis.[177]
1 Dieser in einem Sonderheft der »Hilfe« (22. Jg. 1916, S. 735-741) erschienene Aufsatz gibt den Inhalt eines Vortrags wieder, den der Verfasser am 27. 10. 1916 in München gehalten hat. Mit Rücksicht auf die Zensur wurden s.Zt. beim Abdruck die Ausführungen gegen die Demagogie in rein militärischen Fragen fortgelassen.
2 Siehe die Ergänzungen unten im Anhang 1.
3 »Mitteleuropa« (1915).
Buchempfehlung
Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.
640 Seiten, 29.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro