Gesichtspunkt

[470] [470] Gesichtspunkt. (Zeichnende Künste)

Der Ort, aus welchem man eine Landschaft oder jede andre Scene sichtbarer Dinge übersieht; man nennt ihn auch die Lage des Auges. Eine Stadt, oder ein Garten zeiget sich ganz anders, wenn man von einer nahen Höhe darauf herunter sieht, als wenn man weit davon entfernt, oder weniger hoch steht. Also verändert der Gesichtspunkt die anscheinende Gestalt der Dinge. Es kömmt also bey Gemählden und Zeichnungen sehr viel darauf an, daß man für jede Scene einen vortheilhaften Gesichtspunkt annehme. Die schönste Landschaft könnte aus einem Gesichtspunkt gezeichnet werden, in dem sie ihre Schönheit verlöre.

Aber außer dieser allgemeinen Vorsichtigkeit, sich in den vortheilhaftesten Gesichtspunkt zu stellen, die man dem Geschmak des Mahlers überlassen muß, giebt es noch besondere Regeln zu der guten perspektivischen Zeichnung der Gemählde, denen zufolge der Zeichner den Gesichtspunkt, aus welchem das Gemählde muß angesehen werden, bey der Zeichnung festsetzet. Nach diesem Punkt richtet sich alles Perspektivische der Zeichnung, und sie wird, wenn auch alle Regeln der Perspektiv genau beobachtet werden, gut oder schlecht, nach der guten oder schlechten Wahl des Gesichtspunkts. Damit alles, was hierüber anzumerken ist, seine völlige Deutlichkeit habe, müssen wir hier vorläufig einige Grundbegriffe der Perspektiv feste setzen.

Gesichtspunkt

Man stelle sich eine waagerechte Fläche A B C D vor, auf welcher die Gegenstände, die man Zeichnen will, stehen, und o p q r stelle die Tafel vor, auf welche die Zeichnung gemacht werden soll; i sey der Gesichtspunkt, oder die Stelle, wo das Aug ist, das die auf der Fläche A B C D liegenden Gegenstände sieht. Nun sollen sie auf der Tafel so gezeichnet werden, daß es dem in i stehenden Aug einerley ist, ob es die Sachen selbst, oder die auf der Tafel gemachte Zeichnung, sehe.

Hier ist sehr leicht zu sehen, daß so wol der Ort, wo jeder Gegenstand in der Zeichnung zu stehen kömmt, als auch seine Figur und Größe, sich durch den veränderten Gesichtspunkt verändern würde. Dieser Punkt könnte so schlecht gewählt werden, daß kaum eine Sache eine kennbare Gestalt behielte, und auch so, daß in der Lage der Sachen sich alles verwirren würde.

Es ist also hier, wo von der besten Lage des Auges die Rede ist, auf drey Dinge zu sehen. Auf den Abstand des Auges vom Gemählde i s, auf seine Höhe über die Grundfläche i x, und auf seine Richtung.

Nun bedenke man zufoderst, daß der Winkel tiu , unter welchem die Breite der Tafel ins Aug fällt, lediglich von der Entfernung des Auges von der Tafel abhänge. Ist diese Entfernung halb so groß, als die Breite der Tafel, so fällt die ganze Tafel unter einem Winkel von 90 Graden in das Aug. Wenn man nun als einen Grundsatz annihmt, daß man auf einem Gemählde nicht mehr vorstellen soll, als das Aug auf einmal mit unverwandtem Blik übersehen kann, so folget daraus, daß der Winkel tiu nicht könne über 90 Grade seyn1: deswegen kann der Gesichtspunkt zur perspektivischen Zeichnung nicht näher an die Tafel gerükt werden, als die halbe Breite der Tafel beträgt.

Es ist aber nicht einmal rathsam, den Gesichtspunkt so nahe an der Tafel zu nehmen, weil die äussersten Gegenstände bey dieser Nähe noch zu sehr würden verstellt werden. Allzu groß aber muß man die Entfernung des Auges auch nicht nehmen; weil dadurch die allmählige Verkleinerung der, sich vom Vordergrund entfernenden, Theile nicht mehr merklich genug, und also überhaupt die ganze Scene, oder das ganze Gemähld flach werden würde.

Die Höhe des Gesichtspunkts bekömmt ihre Einschränkungen auf eben die Art, wie seine Entfernung.[471] Es ist aus dem vorhergehenden klar, daß der Winkel siz nicht wol kann 45 Grade groß seyn; weil in diesem Falle die nahe an der Grundlinie liegenden Gegenstände nicht deutlich in das Aug fallen. Es ist also allemal nothwendig, die Höhe des Gesichtspunkts geringer zu nehmen, als den Abstand desselben von der Tafel.

Indessen kömmt es dabey auch auf die Höhe der vorzustellenden Gegenstände an. Wenn z. E. ein hoher Thurm abzuzeichnen wäre, dessen Spitze sich sehr hoch über die Linie des Horizonts erhebte, so muß auch die von der Spitze des Thurmes in den Augenpunkt gezogene Linie mit der Horizontallinie keinen Winkel machen, der über 45 Grade groß wäre. Wenn also sehr hohe Sachen vorzustellen sind, deren oberste Höhe deutlich in die Augen fallen soll, so muß der Gesichtspunkt eine ihnen dergestalt angemessene Höhe haben, daß sie nicht undeutlich werden. Dieses aber ist bey der geringsten Kenntnis der Geometrie so leicht, daß es nicht nöthig ist, die Sache hier besonders auszuführen.

Endlich ist die Richtung des Auges zu betrachten, oder die Richtung der Linie is . Man übersieht eine Scene am deutlichsten, wenn man so gerade davorsteht, daß die Richtung des Auges mitten in dieselbe geht. Eine Schaubühne z. E. und alles, was darauf vorgeht, fällt am besten ins Gesicht, wenn man gerade der Mitte der Bühne gegenüber steht. Daher liegt auch der Augenpunkt in den meisten Gemählden mitten in der Tafel, welches bey allen den Gemählden nothwendig ist, auf denen die Hauptsachen mitten auf der Tafel gezeichnet sind. Es giebt aber auch verschiedene Fälle, wo dieser Punkt aus der Mitte gegen das eine oder andre Ende der Tafel herausgerükt wird.2

Dieses ist also, was der Zeichner bey der Wahl oder Festsetzung des Gesichtspunkts zu überlegen hat.

Ein Gemählde zeiget sich nur alsdenn in seiner Vollkommenheit, wenn das Aug dessen, der es betrachtet, gerade in dem Gesichtspunkt, auf den sich seine perspektivische Zeichnung gründet, steht. Daher kömmt es, daß Kenner, um ein Gemählde recht zu beurtheilen, dasselbe, wo es möglich ist, allemal aus dem wahren Gesichtspunkt betrachten. In Gallerien aber, wo die Gemählde aufgehangen sind, geht es selten an.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 470-472.
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470 | 471 | 472
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