Kunstrichter

[631] Kunstrichter.

Dieser Name kommt eigentlich nur demjenigen zu, der außer den Talenten und Kenntnissen des Kenners, wovon an seinem Orte gesprochen worden1 auch noch alle Kenntnisse des Künstlers besitzet, dem [631] es also, um ein Künstler zu seyn, nur an der Fertigkeit der Ausübung fehlet. Wie der Kenner beurtheilet er den Werth eines Kunstwerks; aber überdem weiß er noch wie der Künstler zum Zwek gekommen ist: er kennet alle Mittel ein Werk vollkommen zu machen und entdecket die nächsten Ursachen der Unvollkommenheit desselben. Sein Urtheil geht nicht blos auf die Erfindung, Anlage und die Würkung eines Werks, sondern auf alles was zum mechanischen der Kunst gehört, und er kennet auch die Schwierigkeiten der Ausübung.

Darum ist er der eigentliche Richter über alles, was zur Vollkommenheit eines Kunstwerks gehöret, und der beste Rathgeber des Künstlers; da der Kenner bloß dem Liebhaber zum Lehrer dienet. Wer mit Ehren öffentlich, als ein Kunstrichter auftreten will, muß sowohl den Kenner als den Künstler zurechte weisen können. Wenn jener mehr verlanget, als von der Kunst zu erwarten ist, muß er ihm sagen, warum seine Erwartung nicht kann befriediget werden, und wann dieser gefehlet hat, muß er ihm zeigen, wo der Mangel liegt und durch was für Mittel ihm hätte können abgeholfen werden. Wenn man bedenkt, wie viel Talente und Kenntnisse zu einem wahren Kunstrichter gehören, so wird man leicht begreifen, daß er eben so selten als ein guter Künstler seyn müsse.

Es ist wahr, die Künste sind ohne Hülfe der Kunstrichter zu einem hohen Grad der Vollkommenheit gestiegen. Aber dieses beweiset nicht, daß im Reiche der Künste, der Kunstrichter eine überflüßige Person sey. Der Geist des Menschen hat von der Natur einen keine Gränzen kennenden Trieb, nach immer höher steigender Vollkommenheit, zum Geschenke bekommen. Wer wird sich also unterstehen ihm Schranken zu setzen? So lange die Critik einen höhern Grad der Vollkommenheit sieht, kann niemand sagen, daß er über Kräfte der Kunst reiche.

Doch kann auch dieses nicht geläugnet werden, daß die Künste meistentheils ihrem Verfall am nächsten gewesen, wenn die Critik und die Menge der Kunstrichter aufs höchste gestiegen sind. Die Griechischen Dichter, die später als Aristoteles gelebt haben, scheinen weit unter denen zu seyn, die vor diesem Kunstrichter gewesen sind. Und wer wird sich getrauen zu behaupten, daß die Lateinische Dichtkunst nach Horaz, oder die Französische nach Boileau höher gestiegen sey, nachdem diese Kunstrichter das Licht der Critik haben scheinen lassen?

Aber dieses beweißt nichts gegen die Critik. Die fürtreflichsten Werke der Kunst mögen immer älter als sie seyn, so wie die edelsten Thaten, der Philosophischen Kenntnis der Sittenlehre können vorhergegangen seyn. Man hat große Heerführer und große Kriegesthaten gesehen, ehe man über die Kriegeskunst geschrieben hat, und vor der Philosophie gab es große Philosophen. Dieses beweißt blos, daß die Bestrebungen des Genies nicht von Theorien und Untersuchungen abhangen, sondern ganz andere Veranlassungen haben. Der Mangel des Genies kann durch die helleste Critik nicht ersetzt werden; und wenn auch dieses vorhanden ist, so wird es nicht durch Kenntnis der Regeln sondern durch innerliche Triebe, die von irgend einer Nothwendigkeit herkommen in Würksamkeit gesetzt. Der Mensch dem die Natur alles gegeben hat, sinnreich und erfinderisch zu werden, wird es doch erst dann, wenn ihn irgend eine Noth antreibet, seine Kräfte zusammen zu nehmen. Diese Bestrebung entsteht freylich nicht aus der Critik. Schon Aeschylus hat angemerkt, daß die Nothwendigkeit und nicht die Kenntnis der Kunst dem Genie seine Stärke giebt2. Aber diese Kräfte haben eine Lenkung nöthig, um den nächsten Weg einzuschlagen, der zum Zwek führet.

Man erkennet deutlich, warum nicht eher große Kunstrichter entstehen können, als bis große Künstler gewesen sind. Denn aus Betrachtung der Kunstwerke entstehet die Critik. Daß aber die Künste fallen, nachdem die Critik das Haupt empor hebt, muß von zufälligen Ursachen herkommen. Denn in der deutlichen Kenntnis der Kunst, kann der Grund von der Unthätigkeit des Genies nicht liegen.

Freylich kann eine falsche und spitzfündige Critik den Künsten selbst sehr schädlich werden, wie eine spitzfündige Moral einen sehr schlimmen Einfluß auf die Sitten haben kann. Es ist tausendmahl besser daß die Menschen von gutem sittlichen Gefühl nach ihren natürlichen und unverdorbenen Empfindungen, als nach Grundsätzen und Lehren einer Sophistischen Sittenlehre handeln. Und in diesem Falle sind auch Künstler von gutem natürlichen Genie in Beziehung auf eine spitzfündige Critik. Nur so lange als sie aus ächten Grundsätzen, ohne Zwang und Sophisterey natürliche Folgen zieht, wird sie unfehlbar dem Genie der Künstler nützlich werden. [632] Aber sie ist der Gefahr auszuarten, und den Künsten zu schaden, ausgesezt; so bald sie zu einem gewissen Grad des Flors und äusserlichen Ansehens gestiegen ist. Die ersten Kunstrichter widmeten ihr Nachdenken der Theorie der Künste, weil die Natur ihnen das besondere Genie zu Untersuchungen dieser Art gegeben hatte: was sie bemerkten und entdekten, hatte das Gepräg der Gründlichkeit, ob es gleich noch nicht allgemein und vollständig genug war. Nachdem einmal die Critik durch dergleichen Bemerkungen mit Säzen so weit bereichert worden, daß es der Mühe werth war, sie in ein System zu sammeln; so wurd sie zu einer Wissenschaft, die nun auch mittelmäßigen und seichten Köpfen in die Augen leuchtete. Nicht nur Männer von Genie, sondern auch bloße Liebhaber ohne Talente wiedmeten ihr ihre Zeit. Diese bildeten sich ein, man könne sie lernen, weil die Kunstsprache, und die einmal in die Wissenschaft aufgenommenen Säze sich leicht ins Gedächtnis fassen lassen. Was also im Anfang die Frucht des wahren Genies war, wurd nun zur Modewissenschaft, auf welche sich Leute ohne Genie und Talente legten. Jeder seichte Kopf, der sie ohne Verstand blos durch das Gedächtnis gefaßt hatte, versuchte sie mit seinen eigenen Säzen, mit neuen Wörtern, an denen das Genie keinen Antheil hatte, zu bereichern; und so wurd die Critik zulezt zu einem Gewäsche, in welchem man nur mit großer Mühe, die von den wahren Kunstrichtern gemachten Entdekungen noch wahrnehmen konnte. Wenn nun zugleich auch Menschen ohne natürlichen Beruf sich auf die Künste legen; so glauben sie dieselben aus den Theorien erlernen zu können: und so werden Künste und Critik zugleich verdorben. Dieses Schiksal haben unter den Griechen die Rhetorik und zugleich die Beredsamkeit gehabt. Aristoteles, der als ein Mann von Genie über diese Kunst geschrieben hatte, bekam tausend Nachfolger ohne Genie, welche nach und nach die Theorie der Kunst in einen beynahe leeren Wortkram verwandelten: so daß man zulezt in einem einzigen Worte aus der Ilias acht verschiedene rhetorische Figuren entdekte, deren jede ihren besondern Namen hatte. Und nun gab es auch schwache Köpfe, die aus den Rhetoriken die Beredsamkeit erlernen wollten. Auf diese Weise mußte die Kunst durch die Critik zu Grunde gehen. Dieses Schiksal haben die schönen Künste mit den Wissenschaften gemein: so ist es der Logik, der Metaphysik, der Sittenlehre, und überhaupt der ganzen Philosophie gegangen. Die schäzbaresten Erfindungen des menschlichen Genies werden allmählig verdorben, nachdem sie so weit gekommen sind, daß sie durch ihren äusserlichen Glanz die eitele Ehrsucht schwacher Köpfe reizen. Diese wollen denn das ihrige auch dazu beytragen; da es ihnen aber an Genie fehlt, so besteht ihr Beytrag in einem leeren Wortgepräng und einer Menge willkührlicher und sophistischer Säze, die sie für Wahrheiten ausgeben; und so fällt die ganze Erfindung in eine finstere Barbarey. Der, welcher zuerst auf die Gedanken gekommen ist, einen wilden Baume durch Verpflanzung in bessern Boden, durch Wartung und durch Beschneiden zu verbessern, war ein Mann von Genie, der Erfinder der Pflanzkunst; der aber, der endlich, um auch etwas Neues in dieser Kunst zu erfinden, den kindischen Einfall gehabt, dem Baume durch Beschneiden die Form einer Säule, oder eines Thieres zu geben, hat den Ruhm, der Kunst den lezten tödlichen Streich versezet zu haben.

Man muß es deswegen nicht der Critik selbst, nicht den Kunstrichtern von Genie, sondern den Sophisten, die aus dieser Wissenschaft ein Handwerk gemacht haben, zuschreiben, wenn die schönen Künste durch Theorien verdorben werden. Den ächten Kunstrichter wollen wir als den Lehrer des Künstlers ansehen, und diesem rathen auf seine Stimme zu horchen. Zwar scheinet es, daß der Künstler auch der beste Richter über die Kunst seyn sollte. Wenn man aber bedenkt, wie viel Zeit, Nachdenken und Fleiß die Ausübung erfodert; so läßt sich begreifen, daß ein zur Kunst gebohrnes Genie, (und ein solches muß der Kunstrichter seyn) das sich selbst mit der Ausübung nicht beschäftiget, in gar vielen zur Kunst gehörigen Dingen, noch weiter sehen muß, als der Künstler selbst.

1S. Künstler.
2Τεχνε δ᾽ ἀναγκαης ἀϑενεςερα μακρῳ Prometh. v. 513.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 631-633.
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