Wahrheit

[1261] Wahrheit. (Schöne Künste)

Ist Richtigkeit unsrer Vorstellungen. Diese sind wahr, wenn das, was wir für möglich oder würklich halten, in der That so ist; falsch und irrig sind sie, wenn das, was wir für möglich oder würklich halten, es nicht, oder nicht in der Art ist, wie wir es uns vorstellen. Wahrheit ist also Vollkommenheit, Irrthum Unvollkommenheit unsrer Erkenntnis: durch jene bekommen unsre Begriffe, Gedanken und Urtheile die Realität, Würklichkeit oder Währung1, die den Probierstein aushalten; durch diesen sind sie schimärisch, eingebildet, ungegründet, oder gar wiedersprechend. Wahrheit wird auch von der Vollkommenheit einer Schilderung, Abbildung oder Beschreibung gebraucht. Beyde Bedeutungen kommen im Grund nur auf eine. Denn unsre Vorstellungen sind auch Abbildungen aus einer möglichen, oder würklichen Welt. Daher nennt Leibniz die Begriffe und Gedanken, Abbildungen des Zusammengesetzten in dem Einfachen.

Ehe wir von dem Verhältnis der Wahrheit gegen die schönen Künste sprechen können, müssen wir sie in ihrem allgemeinen Verhältnis gegen den Geist betrachten. Von unsern Vorstellungen hängen die meisten, wenigstens die wichtigsten unsrer Empfindungen ab, und unsre Handlungen bekommen ihre Richtung von ihnen. Irrthum oder falscher Wahn erzeuget eitele, wie von leeren Phantomen verursachte Empfindungen; Vergnügen und Verdruß, die sie mit sich führen, sind vergeblich; und verlohren sind die Handlungen, die von Irrthum ihre Richtung bekommen. Umsonst und eitel ist Freud und Traurigkeit, die von Aberglauben und falschem Wahn erzeuget wird, wie die Freud eines Dürftigen, der im Traume reich geworden; Handlungen und Unternehmungen, die von Irrthum geleitet werden, sind mühesame Reisen nach eingebildeten Ländern, sie führen nicht zum Zweke. [1261] Höchst wichtig, vielleicht allein wichtig ist also die Wahrheit dem Menschen, und seinem wahren inneren Interesse kann nichts mehr entgegen seyn, als Irrthum. Keine Wolthat ist größer, als den Irrenden zurecht zu weisen; keine Missethat strafbarer, als Menschen in Irrthum zu verleiten. Der Geist des Menschen kennet kein anderes Gut, als Wahrheit; und Irrthum ist das einzige Uebel, das ihn betreffen kann. Alles sittliche Elend hat seinen Ursprung darin.

Weil die Wahrheit das einzige Gut des menschlichen Geistes, seine würkliche Nahrung ist; so muß auch alles, was die schönen Künste dem Verstand und der Einbildungskraft vorlegen, auf Wahrheit gegründet seyn. Der unmittelbare Zwek der schönen Künste ist Lebhaftigkeit, oder Stärke der Vorstellung; durch die Bearbeitung des Künstlers bekommen unsre Vorstellungen Kraft, Leben und Würksamkeit. Wären sie falsch, oder ziehlten sie auf Irrthum ab; so würden sie um so viel schädlicher, je lebhafter wir sie gefaßt haben. Darum macht Kenntnis und Liebe der Wahrheit eine wesentliche Eigenschaft eines rechtschaffenen Künstlers, und sehr richtig urtheilte jener Sparthaner, der einem Sophisten, welcher sich rühmte seinen Zuhörern alles glauben zu machen, was er wollte, antwortete: Beym Himmel! es giebt keine Kunst, und es wird nie eine Kunst seyn, deren Grund nicht Wahrheit sey!2 Der Künstler, der die Wahrheit nicht kennt, oder sie gering schäzt, ist ein desto gefährlicherer Mensch; weil das, was er uns sagt, oder vorhält, starken Eindruk auf uns macht.

Je größer die eigentlichen Kunsttalente sind, je wichtiger ist es, daß der Künstler die Wahrheit erkenne und liebe. Zwar liegt die Erforschung und Entdekung der Wahrheit außer der Kunst; sie ist der Zwek der Philosophie; aber wichtige Wahrheiten fühlbar zu machen, ihnen eine würkende Kraft zu geben, sie dem Geist unauslöschlich einzuprägen, dies ist die edelste Anwendung der Kunst. Es ist noch zweifelhaft, ob der Philosoph, der wichtige Wahrheiten entdeket, oder der Künstler, der sie der Menge fühlbar macht, und sie zum Gebrauch ausbreitet, dem menschlichen Geschlecht einen wichtigern Dienst leiste. Die Werke der Kunst, die Irrthum, falsche Meinungen oder Vorurtheile über wichtige Gegenstände begünstigen, gleichen einer äußerlich schönen und Lüsternheit erwekenden Frucht, die vergiftet ist; den Künstler aber, der seine Talente auf einen schimärischen, nicht auf Wahrheit, oder Realität gegründeten Stoff verwendet; der seine Vorstellungen aus einer nicht würklichen, sondern blos eingebildeten Welt nihmt, und ihnen keine Beziehung auf die würkliche giebt, können wir in keinen höhern Rang stellen, als den, den wir den Dienern der Ueppigkeit anweisen, die die Tafeln der Reichen mit Früchten versehen, die aus Wachs gemacht sind.

Damit wollen wir dem Künstler den blos erdichteten aus einer nur in seiner Phantasie vorhandenen Welt genommenen Stoff, keinesweges verbiethen. Er kann uns Scenen aus einer Feenwelt schildern, kann Thiere reden lassen, kann ein Elysium und einen Tartarus, ein Paradies und eine Hölle bilden, wie es seine Phantasie verlangt; aber unter dieser äußern Schale muß Wahrheit liegen; wir müssen in dem Bilde der erdichteten Welt, die wahre sehen können. Nur der Stoff ist schimärisch und ohne Wahrheit, in dem wir nichts von der Beschaffenheit der wahren Welt erkennen; der ein bloßer Traum, ohne Deutung ist. Dieses bedärf keiner umständlichen Erklärung; denn für den Künstler, der hieraus noch nicht merken kann, was wir durch einen erdichteten, aber sich auf Wahrheit beziehenden Stoff verstehen, ist dieses Werk nicht geschrieben.

Wahrheit muß also bey jedem Werke der Kunst zum Grunde liegen; und je wichtiger, je brauchbarer diese Wahrheit ist, je schäzbarer ist sein Stoff. Der Künstler also, der auf die Hochachtung der Welt einen Anspruch machen will, frage sich selbst, so oft er ein Werk an den Tag legt, was wirst du nun damit ausrichten? Wozu wird das, was du andern so lebhaft in den Geist und in die Phantasie einprägest, dienen? Ueber welche Angelegenheit werden die Menschen nun richtiger, oder würksamer denken, als vorher; welchen nüzlichen Begriff werden sie sich nun lebhafter vorstellen, welche heilsame Empfindung, wird ihnen gewöhnlicher werden? Was wirst du überhaupt in den Vorstellungen der Menschen berichtiget, oder aufgeklärt, oder würksam gemacht haben? Ist der Künstler ein Mann von Verstand und Kenntniß, so werden dergleichen Untersuchungen ihm über den Werth seiner Arbeiten das nöthige Licht geben.[1262] Wahrheit auch ohne Rüksicht auf ihre Brauchbarkeit in so fern sie Vollkommenheit der Schilderung oder Vorstellung ist, gehört zum ästhetischen Stoff; weil sie Vergnügen würkt. Ein an sich gleichgültiger in der Natur vorhandener Gegenstand, den ein Mahler nach der völligen Wahrheit geschildert hat, macht allemal Vergnügen; und es ist um so viel größer, je schweerer es ist die Wahrheit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr Talent, mehr Vollkommenheit im Künstler erfodert wird. Wenn es also Vergnügen macht eine Landschaft in der völligen Wahrheit der Natur von dem Mahler geschildert zu sehen, und wenn das Vergnügen noch größer ist, einen lebenden Menschen, nicht blos in seiner äußern Gestalt, sondern nach seinem Charakter, und mit seinen Gedanken im Gemählde zu erbliken, so muß das größte Vergnügen daraus entstehen, wenn die redenden Künste schweere, sehr verwikelte Begriffe, und schweer zu entdekende Wahrheiten, leicht und einleuchtend darstellen; denn dazu scheinen die größten und wichtigsten Talente erfodert zu werden. Wenn wir gewisse sehr verwikelte Gegenstände der sittlichen Welt lange mit Aufmerksamkeit und Nachforschen betrachtet und untersucht haben, ohne ihre wahre Beschaffenheit erkannt zu haben, oder ohne daß es uns geglükt hat, unser Urtheil darüber auf eine befriedigende Weise festzusezen; so macht es uns ein ausnehmendes Vergnügen, wenn ein tiefer denkender und glüklicher forschender Kopf uns auf einmal den Gegenstand in einem hellen und faßlichen Lichte zeiget. Kein Künstler hat es so wie der Redner und Dichter in seiner Gewalt uns durch Entdekung oder Vortrag der Wahrheit, mit Lust und Vergnügen zu durchdringen.

Mich dünkt, daß man den Dichtern, die uns abstrakte oder speculative Wahrheiten, deren Entdekung selbst dem Philosophen die größte Mühe macht, sehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wiederfahren läßt. Nach meinen Begriffen ist Pope in seinem Versuch vom Menschen kein geringerer Dichter, als Homer in seinen mit Recht bewunderten Schilderungen der Menschen und der Sitten. Man muß bedenken, was für erstaunliche Schwierigkeit es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen philosophischen Speculationen über die sittliche Beschaffenheit der Welt sind, sich einfach, hell und höchst faßlich vorzustellen. Wir treffen ofte bey Pope, Haller, Juvenal, Horaz und andern Dichtern kurze Denksprüche, Lehren und Bilder an, die uns eine Menge Gedanken, die wir lange sehr unbestimmt, verworren, dunkel und schwankend gefaßt hatten, in einem überaus hellen Licht und in der höchsten Einfalt darstellen, und die wir für bewundrungswürdige Schilderungen der Wahrheit halten müssen. Daß sie als ästhetische Gegenstände weniger geschäzt werden, als poetische Schilderungen sichtbarer Gegenstände, kommt blos daher, daß weniger Menschen im Stande sind, ihre Wahrheit einzusehen, als die Wahrheit dieser andern Schilderungen bekannterer Gegenstände.

1 Währung bedeutet auch die völlige Richtigkeit des Inhalts der Metalle und Münzen. Währung, Wahrheit, und Gewähre, sind Wörter von einer Stammwurzel.
2Plutarch. Apopht.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1261-1263.
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1261 | 1262 | 1263
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