Schiklich

[1032] Schiklich. (Schöne Künste)

Man nennt in überlegten Handlungen und Werken dasjenige schiklich, was zwar nach der Natur der Sache nicht ganz nothwendig, aber doch so natürlich erwartet wird, daß der Mangel desselben, als eine Unvollkommenheit würde bemerkt werden. Es ist eben nicht nothwendig, aber schiklich, daß verschiedene Stände und Alter der Menschen auch in der Kleidung etwas unterscheidendes haben; unschiklich [1032] ist es, daß eine alte Matrone sich wie ein junges Mädchen kleide.

In Werken der Kunst muß das Schikliche überall mit Sorgfalt und guter Beurtheilung gesucht, und eben so sorgfältig alles Unschikliche vermieden werden. Denn außer den besondern Absichten in denen solche Werke gemacht werden, müssen sie überhaupt auch dienen unsern Geschmak feiner und richtiger zu bilden. Zu dem ist ein Werk das untadelhaft wäre, wo aber Dinge, die schiklich gewesen wären, weggelassen worden, nie so vollkommen, als das, wo diese noch vorhanden sind. Da noch über dem der Künstler sich in allem, was er macht, als einen scharfsinnigen und sehr verständigen Mann zeigen muß; so gehört es auch zur Kunst, daß er genau überlege, nicht nur, ob in seinem Werke nichts Unschikliches sey, sondern ob auch nichts Schikliches darin fehle.

So muß der Baumeister sich nicht blos vor der Unschiklichkeit in Acht nehmen, an dem Haus eines Privatmannes, nichts anzubringen, was sich nur für Palläste schiket; sondern auch überlegen, ob er dem Gebäude, das er entwirft, alles Schikliche würklich gegeben habe. Denn ganz schiklich ist es, daß jede Art der Gebäude, durch das, was sich vorzüglich dazu schiket, sich von andern Arten auszeichnen. So ist es schiklich, daß an einem Zeughaus Kriegstrophäen, an einer Kirche hingegen Zierrathen, die andächtige Vorstellungen erweken, angebracht werden.

Die Beobachtung des Schiklichen und Vermeidung alles Unschiklichen ist eine Gabe, die nur den ersten Künstlern in jeder Art gegeben ist, die, außer dem nothwendigen Kunstgenie, auch den allgemeinen Menschen- Verstand und allgemeine Beurtheilungskraft in einem vorzüglichen Grad besizen. Zur Vermeidung des Unschiklichen giebt Horaz dem Dichter viel fürtrefliche Regeln, und seine Ars poetica sollte, auch blos in dieser Absicht, das tägliche Handbuch jedes Dichters seyn.

Die größte Sorgfalt über diesen Punkt erfodert die Behandlung der Sitten im epischen und dramatischen Gedicht, besonders, wenn der Dichter fremde Sitten zu schildern hat. Es wird mehr, als glükliche Einbildungskraft, erfodert, jeden Menschen gerade so handeln und sprechen zu lassen, wie es sich für seinen Gemüthscharakter, seinen Stand, sein Alter und für die Umstände, darin er sich befindet, schiket.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1032-1033.
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