Gedicht

[433] Gedicht.

Man hat schon von sehr langer Zeit her versucht, den eigentlichen Begriff des Gedichts festzusetzen, vermittelst dessen man das Werk der Dichtkunst von dem, was die Beredsamkeit hervorbringt, unterscheiden könnte; denn schon Aristoteles hat davon gesprochen. »Die gebundene und ungebundene Rede, sagt dieser Philosoph, unterscheiden den Geschichtschreiber und den Dichter nicht genug; denn wenn man auch die Geschichte des Herodotus in Versen vortragen wollte, so würde sie dennoch eine Geschicht und kein Gedicht seyn. Diese beyde Gattungen sind darin wesentlich von einander unterschieden, daß jene die Sachen erzählt, wie sie geschehen sind, diese, wie sie hätten geschehen können.«1 Seitdem der griechische Kunstrichter diese Frage, vielleicht zuerst, aufgeworfen, und so gut, als er konnte, beantwortet hat, ist sie tausendmal wiederholt, und jedesmal, wo nicht ganz, doch zum Theil unentschieden gelassen worden. Denn auch die genaueste und richtigste Erklärung des Begriffs, die, welche Baumgarten gegeben hat,2 bestimmt ihn nicht völlig, da in dem Begriffe des Vollkommenen noch immer viel unbestimmtes ist.

Es kann aber auch nicht anders seyn; denn die gemeine Rede, die, welche ein Werk des Redners ist, und die, die von der Dichtkunst erzeuget wird, sind Werke, die mehr durch Grade, als durch wesentliche Kennzeichen in verschiedene Arten abgesondert werden. In dergleichen Dingen aber lassen sich die Gränzen, wo die Arten aufhören oder anfangen, nicht unterscheiden. Wer kann das Jahr angeben, wo der Jüngling zum Mann, und der Mann zum Greis wird? Darum darf es uns nicht befremden, daß man Werke der redenden Kunst antrift, von denen man ungewiß ist, ob sie der Beredsamkeit oder der Dichtkunst zugehören.

Dessen ungeachtet aber ist weder die Eintheilung der redenden Kunst in gemeine Rede, Beredsamkeit und Dichtkunst zu verwerfen, noch die Versuche jede Art durch Kennzeichen zu bestimmen, zu tadeln. Die Baumgartensche Erklärung des Gedichts, daß es eine vollkommene sinnliche Rede sey, ist so richtig und so bestimmt, als sie seyn kann, ob sie gleich nicht in jedem Fall hinreicht, zu entscheiden, ob ein Werk der Beredsamkeit oder der Dichtkunst zuzuschreiben sey. Vielleicht wäre die Erklärung etwas bestimmter, wenn man sagte; das Gedicht sey eine sinnliche Rede, die jede Art der Vollkommenheit an sich hat, die ihr Inhalt verträgt. Aber dadurch würde keiner ungebundenen Rede der Name des Gedichts zukommen, weil jede Rede den Wolklang, der aus dem Vers entsteht, verträgt.

Wir wollen indessen versuchen, die gemeine Rede, die Beredsamkeit und die Dichtkunst, jede durch ihr zukommende Kennzeichen, zu unterscheiden.

Die gemeine Rede, ist gleichsam eine historische Erzählung dessen, was wir denken. Sie sucht ohne alle Veranstaltungen sich geradezu auszudrüken, und ist mit jedem Ausdruk zufrieden, wenn er nur bestimmt und verständlich ist. Die Beredsamkeit ist überlegter und künstlicher; da sie nicht blos die Absicht hat verständlich zu seyn, sondern durch das, was sie vorbringt, etwas besonderes auszurichten sucht, so überlegt sie genau, was sie zu diesem besondern Zwek zu sagen hat; sie sucht von den Vorstellungen, die sich ihr darbieten, die besten und schiklichsten aus, ordnet sie um ihnen mehr Kraft zu geben, wählet den besten Ausdruk, giebt der Rede auch durch den Ton und Abfall der Worte eine ästhetische Kraft, hat unaufhörlich den Zuhörer, auf den sie würken will, vor Augen. Die Dichtkunst [433] hat mehr den lebhaften Ausdruk des Gegenstands ihrer Vorstellung, als die besondere Würkung, die er auf andre thun soll, zum Augenmerk. Der Dichter ist selbst lebhaft gerührt und von seinem Gegenstand in Leidenschaft, wenigstens in Laune gesetzt: er kann der Begierde, seine Empfindung zu äussern, nicht widerstehen; er wird hingerissen. Seine Hauptabsicht ist, den Gegenstand der ihn rühret, lebhaft zu schildern, und zugleich den Eindruk, den er davon empfindet, zu äussern: er redet, wenn ihm auch niemand zuhören sollte, weil ihn seine Empfindung nicht schweigen läßt. Er überläßt sich den Eindrüken, die seine Materie auf ihn macht, so sehr, daß man aus seinem Ton und aus seinem wenig überlegten Ausdruk merkt, er sey ganz von seinem Gegenstand eingenommen. Dieses giebt seiner Rede etwas ausserordentliches und phantastisches, dergleichen Menschen annehmen, die bey starken Empfindungen sich selbst vergessen, und selbst in Gesellschaft so reden und handeln, als wenn sie allein wären.

Es scheinet, daß dieser sich mehr oder weniger äussernde phantastische Ton, den man in der Rede bemerkt, den eigentlichen Charakter des Gedichts ausmache, und daß die einigermaaßen schwermerische Gemüthsfaßung, in welche lebhafte Köpfe bey Erblickung gewisser Gegenstände gesetzt werden, die Quelle der Dichtkunst sey. Ohne merkliche Leidenschaft und Ueberwältigung von derselben, scheinet natürlicher Weise kein Gedicht entstehen zu können. Nur itzt, da die Poesie zu einer gewöhnlichen Kunst worden ist, thut die Nachahmung dieses natürlichen Zustandes das, was in dem Stande der bloßen Natur nur die starke Rührung thun würde. Daher sehen wir, daß die Dichter sich noch oft anstellen, als wenn sie auch wider ihren Willen getrieben würden, ihr Herz auszuschütten. Es ist damit, wie mit dem Tanz, der in seinem Ursprung nichts anders, als ein leidenschaftlicher, schwermerischer Gang ist. Wilde Völker, bey denen noch nichts zur Kunst geworden, tanzen nie, als wenn sie in Leidenschaft gesetzt sind: aber wo das Tanzen zur Kunst geworden, da tanzt man auch mit kaltem Geblüte. Doch stellt man sich immer dabey an, als wenn irgend ein kräftiger Gegenstand diese phantastische Gemüthslage hervorgebracht habe. Daß so wol Poesie, als Tanz eine solche Faßung zum Grund haben, wird auch noch dadurch offenbar, daß beyde die Unterstützung der Musik bedürfen. Diese unterhält die Empfindung, und reizet die schon aufgebrachte Einbildungskraft noch mehr. Sie wieget das Gemüth in seiner eigenen Empfindung ein, daß der Dichter und Tänzer sich völlig vergessen und blos dem nachhängen, was sie empfinden.

Aus dieser Entwiklung des Ursprungs der Poesie läßt sich der wahre Charakter des Gedichts bestimmen. Wer der Gemüthsfaßung, die eine so ausserordentliche Rede, als das Gedicht ist, natürlicher Weise hervorzubringen vermag, nachdenkt, wird finden, daß sie der Rede viel Eigenes und Charakteristisches geben müsse. Und eben darin wird das Wesen des Gedichts zu suchen seyn.

Zuerst wird der Ton der Rede den Charakter der Empfindung an sich haben. Sie kann nicht so zufällig und so ungebunden fliessen, als die gemeine Rede; denn da die Empfindung immer einerley ist, und sich immer gleichsam auf sich selbst herum dräht, so entsteht ganz natürlich etwas rhythmisches in der Rede., Wer vor Freude hüpft und springt, der wird, so lange die Empfindung währet, die einfach und immer einerley ist, dieselben Sprünge oft wiederholen; und so wird es auch mit den Sätzen der Rede gehen. Ihr Ton und Abfall ist eine Würkung der Empfindung, und da er zugleich auf die Sinnen würkt, so unterhält und stärkt er auch wiederum die Empfindung selbst. Hieraus läßt sich einigermaaßen der Ursprung des Verses begreifen, der freylich im Anfang sehr roh gewesen, aber nachher durch die Kunst seine Formen bekommen hat. Man kann also sagen, daß der Vers dem Gedichte natürlich sey.

Weil aber ein rythmischer Fall der Rede nur eine der verschiedenen Würkungen der poetischen Laune ist, und weil ohne den, durch die hinzugekommene Kunst, regelmäßig gemachten Vers, die Rede einen ungekünstelten Rythmus haben kann, so berechtiget uns der Mangel der regelmäßigen Versification noch nicht, einer die übrigen Kennzeichen des Gedichts habenden Rede, den Namen des Gedichts zu versagen. Doch ist unfehlbar in jeder Rede, die aus würklicher dichterischer Laune entstanden, das Periodisch? ganz anders, als in der gemeinen, oder auch in der blos beredten Rede. Also hat auch die so genannte poetische Prosa allemal etwas in ihren Abfällen, wodurch sie sich auszeichnet. Hieraus ist also klar, daß der regelmäßige Vers, nachdem die [434] Poesie zur Kunst geworden, bey jedem Gedicht sich finden sollte, jedoch der Mangel desselben, wenn nur sonst der Charakter des Gedichts vorhanden ist, es von den Werken der Dichtkunst nicht ausschließe.

Aber der Vers ist nicht das einzige, was zum Ton des Gedichts gehöret. Wer in voller Empfindung spricht, sucht Wörter aus, deren Klang ihr angemessen ist und sie unterhält: die Freude liebt volle und leichte Töne, die Traurigkeit gedähnte und eindringende. Daher wird der poetischen Sprach ein gewisser lebendiger Ausdruk eigen, der an sich, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verstühnde, die Gemüthslage des Dichters zu erkennen giebt. Diesen Ausdruk muß das Gedicht haben, es sey in gebundener oder ungebundener Rede verfaßt.

Noch zeiget sich eine dritte Eigenschaft der poetischen Rede, die wir auch noch zum Ton derselben rechnen können. Weil der Dichter ganz mit seinem Gegenstand beschäftiget ist, und nichts anders weder hört noch sieht, so ist ihm, wie einem Träumenden, jede Sache ganz gegenwärtig. Er macht zwischen dem Vergangenen und Zukünftigen, zwischen dem Gegenwärtigen und Abwesenden keinen Unterschied. Dieses giebt seiner Rede in Ansehung der Verbindungswörter, in Ansehung der Anordnung und der grammatischen Zusammensetzung, ein ganz eigenes Gepräge, das sich besser empfinden als beschreiben läßt. Anstatt der vergangenen oder zukünftigen Zeit, braucht der Dichter oft die gegenwärtige. Bald läßt er die Verbindungswörter weg, bald aber braucht er andre, die zukünftigen Dinge, als schon gegenwärtig vorstellen; itzt, anstatt hierauf: er redet oft in der zweyten Person, wo die gemeine Rede die dritte braucht. Dergleichen Abweichungen von dem gewöhnlichen Ausdruk, die dem poetischen Ton eigen sind, gehören nothwendig zum Ausdruk des Gedichts.

Dieses sey von dem Charakter des Gedichts, in Ansehung des Tones der Rede, gesagt.3

Zum poetischen Ausdruk aber gehören noch mehr Dinge, als die nur den Ton betreffen. Die Figuren und Bilder sind eine sehr natürliche Würkung der dichterischen Laune. Die mehr oder weniger erhitzte Einbildungskraft des Dichters giebt jedem Ding ein mehreres Leben und mehr Kraft, als eine ruhigere oder bedächtlichere Gemüthslage thut. Seine Hauptvorstellungen drükt der Dichter nie durch Wörter aus, die der Verstand erst in allgemeine Begriffe zu übersetzen hat. Seine Vorstellungen sind nicht allgemeine oder abgezogene, sondern einzele Fälle und würklich vorhandene Gegenstände. Er bekleidet alles mit Materie, und giebt jeder Materie ihre Farben, ihre Figur, und wo möglich, ihren Ton und andre fühlbare Eigenschaften. Daher entstehen die poetischen Farben4 und die poetischen Gemählde. Darin besteht, wie du Bos wol erinnert hat, der Hauptcharakter des Gedichts. »Diese poetische Sprache, sagt der Kunstrichter, ist es, die eigentlich den Dichter ausmacht, nicht der Abschnitt und der Reim. Man kann, wie Horaz anmerkt, ein Dichter in ungebundener, und ein gemeiner Redner in Versen seyn – – Dieses ist aber der wichtigste und schweerste Theil der Dichtkunst, die Bilder zu erfinden, die das, was man sagen will, schön mahlen; den eigentlichen Ausdruk, der den Gedanken ein sinnliches Wesen giebt, in seiner Gewalt zu haben; dieses ists, wozu der Dichter ein göttliches Feuer nöthig hat, nicht das Reimen – Nur ein zur Kunst gebohrner Kopf kann seine Verse durch Dichtung und Bilder beleben«5. Also zeiget uns die Sprache des Dichters überall einen Menschen, den sein Gegenstand so sehr eingenommen hat, daß er alles, was man sich sonst blos vorstellt, körperlich vor sich sieht, oder in seinem Gemüth, als gegenwärtig fühlt, und eben dieses Sehen und Fühlen auch in uns zu erweken sucht. Daher entsteht ganz natürlich die Würkung, daß wir durch das Gedicht in eben die Empfindungen gesetzt werden, die der Dichter hat. Diese Würkung erfolget, wenn gleich der Dichter sie nicht gesucht, sondern blos für sich selbst gedichtet hat.

Bis dahin ist angemerkt worden, wie das Gedicht durch Ton und Ausdruk sich von der gemeinen Rede unterscheide. Es hat aber auch seine ihm eigene Behandlung des Stoffs der Rede. Dieses verdienet eine besondere Betrachtung.

Jedes Gedicht ist eine empfindungsvolle, oder doch lebhafte launige Rede, die durch einen, dem Dichter vorschwebenden, Gegenstand veranlaset worden, wobey er nichts anders zur Absicht hat, oder zu haben scheinet, als das, was er fühlt, zu sagen; weil sein lebhaftes Gefühl ihm nicht zu schweigen verstattet. Hier zeigen sich zweyerley Fälle, die den Inhalt der Rede bestimmen. Entweder hängt der Dichter dem Gegenstand allein nach, betrachtet ihn von allen Seiten, und drükt durch die Rede das aus, [435] was er sieht; oder er hängt nicht so wol dem Gegenstand nach, der ihn rühret, als der Würkung, die er davon empfindet. Im erstern Fall mahlt der Dichter den Gegenstand, im andern seine Empfindung darüber. Eine dritte Art des Stoffs zum Gedicht, kann nicht erdacht werden. Nun müssen wir das Verfahren des Dichters, und wie er sich darin von andern Menschen, die auch von seiner Materie reden würden, unterscheidet, in Betrachtung ziehen. Wie er sich im Ausdruk unterscheidet, ist schon angemerkt worden; also ist noch die ihm eigene Art, seinen Stoff zu behandeln, anzuzeigen; denn auch diese giebt dem Gedicht ihren eigenen Charakter.

Wenn der Dichter sich mit Betrachtung des Gegenstandes abgiebt, so ist seine Absicht blos sich denselben so vorzustellen, wie er ihn nach seiner Gemüthslage am lebhaftesten rühret. Er will weder, wie der Philosoph, ihn näher kennen lernen, noch wie der Geschichtschreiber ihn so beschreiben, daß andre einen richtigen Begriff davon bekommen; nicht wie der Redner so, daß er unser Urtheil darüber zu lenken oder einzunehmen suchen sollte. Seine Einbildungskraft würkt da mehr, als der Beobachtungsgeist oder der Verstand. Auch ist dem Dichter nicht um die genaue Richtigkeit der Vorstellung zu thun: er bildet sich den Gegenstand so aus, wie er ihm am besten gefällt, eignet ihm alles zu, was er darin zu sehen wünscht, unbekümmert, ob die Sachen würklich so seyen; denn das Mögliche ist ihm eben so gut, als das Würkliche. Einiges vergrößert er, andere Dinge macht er kleiner, bis das Ganze so ist, wie er es am liebsten zu sehen wünscht. Darin handelt er wie jeder Mensch, der sich bey Vorstellung angenehmer Begebenheiten in süsse Träume der Phantasie einwiegen will. Alles wird nach seinem Gefallen angeordnet, hier werden Umstände weggelassen, dort andre hinzugesetzt; jede Person bekömmt ihre Gestalt und ihr Wesen, so wie jedes sich nach seiner Einbildung schiket. So macht es auch der Dichter mit jedem Gegenstand, den er zum Stoff seines Gesanges gewählt hat. Die Theile des Gegenstandes, die ihn vorzüglich rühren, sucht er auch mit vorzüglicher Lebhaftigkeit zu schildern; er sucht alles hervor, was irgend dienen kann, sie sichtbar oder hörbar zu machen. Daher entstehen bisweilen im Gedichte die umständlichsten Beschreibungen, die bis auf die geringsten Kleinigkeiten gehen, weil solche Beschreibungen am geschicktesten sind, den Gegenständen in der Einbildungskraft ein würkliches Leben zu geben.

An dieser Art zu verfahren erkennet man den Dichter sehr bald, wenn man auch den Ton und den Ausdruk ganz ändern wollte. Man übersetze den Homer so schlecht, als man wolle, wenn nur die Folge seiner Vorstellungen bleibet, so wird man den Dichter nie verkennen. Dies ist, was Horaz sagt:


Invenies etiam disjecti membra poëtæ.


Also muß jedem guten Gedichte, wenn ihm alle Kennzeichen, die es von der Sprache hat, benommen sind, etwas übrig bleiben, das den Dichter verräth. Was in der schlechtesten Uebersetzung gar alles Poetische verliert, ist nie ein Gedicht gewesen, das alle dem Gedichte nöthige Eigenschaften gehabt hat.

Hält sich der Dichter nicht so wol bey dem Gegenstand, als bey seiner Empfindung auf; so hat er auch da seinen, ihn bezeichnenden Gang. Bisweilen sagt er uns deutlich, was ihn in die Laune oder Leidenschaft gesetzt hat, die er äussert; andremal müssen wirs errathen: aber in beyden Fällen unterscheidet sich seine Rede von der, die nicht poetisch ist, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung oder der Laune. Man merkt gar bald, daß der Dichter sich nicht mehr besitzt; sein Vergnügen und sein Verdruß ist seiner Meister worden. Ueberlegung und Vernunft müssen der Empfindung weichen. Bald dräht er sich auf denselben Punkt der Empfindung herum, bald fällt er auf mancherley Nebenvorstellungen, schweift schnell weit aus, und macht uns, durch die anscheinende Unordnung in seinem Gemüthe, stutzen. Diese Unordnung aber ist immer mit großer Lebhaftigkeit der Vorstellung begleitet, bringet starke und kühne Gedanken und sehr lebhafte Bilder hervor, die den Zuhörer in Verwundrung setzen.

Dieses sind also die Hauptkennzeichen, wodurch sich das Gedicht von jeder andern Rede unterscheidet. Da sie von mancherley Art sind, jede Art aber viel Grade zuläßt, so entsteht daher eine große Mannigfaltigkeit in der Form und Beschaffenheit der Gedichte, bey einerley Inhalt.

Mehr oder weniger Züge von diesem Charakter müssen sich nothwendig in jedem Gedichte zeigen, das seinen Ursprung in einer poetischen Gemüthslage des Dichters hat. Da aber manches Gedicht blos aus [436] Nachahmung entstanden, und der Dichter sich durch Zwang in jene Gemüthsfaßung setzet, den Ton und die Sprache der natürlichen Poesie nach Regeln bildet, so geschieht es auch, daß bisweilen Werke hervorkommen, die nur den äusserlichen Schein der Gedichte haben; daß ein vermeinter Dichter einer ganz gemeinen Rede, etwas von dem Kleide der Dichtkunst anzieht. Dadurch aber werden solche Werke deswegen nicht zur Würde der Gedichte erhoben; sie sind vielmehr Mißgebuhrten, die zu gar keinen natürlichen Gattungen der Rede können gerechnet werden. Es wird auch dem schlauesten Kopf selten gelingen, wenn er würklich nicht in poetischer Faßung ist, seine Rede so zu verfertigen, daß sie alle natürlichen Kennzeichen des Gedichts an sich habe. Nur das Gedicht kann vollkommen werden, das von einem würklich dichterischen Genie, in wahrer, nicht zum Schein angenommener, poetischer Laune entworfen, und nach den Regeln der Kunst mit feinem Geschmak ausgearbeitet worden.

Es erhellet aber aus diesen über den Ursprung und die natürlichen Kennzeichen des Gedichts gemachten Anmerkungen, daß das, was wir die poetische Laune genennt haben, die eigentliche Quelle der Dichtkunst sey. Soll das Gedicht einigen Werth haben, so muß die poetische Laune eine merkwürdige Veranlasung haben; denn schwache Gemüther von lebhafter Einbildungskraft, werden oft durch kindische Veranlasungen in Laune gesetzt; aber wer giebt sich die Mühe darauf zu achten? Hiernächst aber muß diese Laune durch Beredsamkeit unterstützt werden; denn wer das, was er denkt oder fühlt, nicht mit Leichtigkeit sagen kann, der kann wol unser Aug, aber nie unser Ohr auf sich ziehen: also muß der Dichter auch ein beredter Mann seyn, er muß Leichtigkeit und Reichthum des Ausdruks haben. Endlich aber müssen beydes Laune und Beredsamkeit von Verstand und Genie unterstützt werden. Die launige und fließende Rede muß Gedanken und Empfindungen vortragen, die etwas ungemeines, wichtiges und großes haben, die, wie Horaz sich ausdrükt, des so weit geöffneten Mundes und des vollen Tones würdig seyen; digna tanto hiatu! Sonst wird der Dichter lächerlich; denn sein Ton und Ausdruk kündiget allemal etwas Merkwürdiges an. Dadurch giebt sich jeder Dichter für einen Mann aus, dem jederman ein aufmerksames Ohr leyhen soll, als einem Menschen, der etwas Wichtiges vorzutragen hat. Darum sagt Horaz mit dem größten Recht, daß weder Götter noch Menschen dem Dichter erlauben dürfen, mittelmäßig zu seyn; weil bey der großen Veranstaltung das Mittelmäßige höchst unerträglich wird. Betrügt er unsere Erwartung, indem er uns in seinem begeisterten Ton alltägliche Dinge sagt, so verdient er, daß man ihn von der Scene wegjage.

Dieses wird hinreichend seyn, den wahren Charakter des Gedichts fest zu setzen, und jedem Menschen von einigem Nachdenken die Grundsätze an die Hand zu geben, nach welchen ein Gedicht zu beurtheilen ist6. Man wird auch daraus abnehmen können, daß ein vollkommenes Gedicht nichts sehr gemeines, das man überall antrifft, seyn könne; weil nur die ersten und besten Köpfe einer Nation alles haben können, was von einem wahren Dichter kann gefodert werden. Mit diesen Grundsätzen versehen, wird ein verständiger Mann von den Gedichten, die bey einem Volke, wo die schönen Künste zur Mode geworden, in so reichem Ueberflus vorhanden sind, leicht die wenigen guten aussuchen, und die übrigen, wie niedriges Gesträuch, das um eine hohe Eiche herumsteht, aus dem Wege zu räumen und zum Verbrennen in Bündel zu fassen wissen.

Man hat verschiedentlich versucht, die mancherley Gattungen und Arten der Gedichte in ihre natürlichen Classen und Abtheilungen zu bringen, sich aber bis dahin noch nicht über den Grundsatz vereinigen können, der die Abzeichen jeder Art bestimmen soll. Von großer Wichtigkeit möchte auch die beste Eintheilung der Dichtungsarten nicht seyn, wiewol man ihr auch ihren Nutzen nicht ganz absprechen kann.

Einer der neuern französischen Kunstrichter7, der wegen seiner fließenden und artigen Schreibart in Deutschland vielleicht zu viel Eingang gefunden, stellt sich an, als ob die Eintheilung der Gedichte in ihre natürlichen Gattungen, die leichteste Sache von der Welt sey. Aber einer seiner deutschen Uebersetzer hat ihn auf dieser Stelle in seiner Blöße gezeigt8.

Die Alten haben sich hierüber eben nicht viel Mühe gegeben. So wie das Genie ihrer Dichter die verschiedenen Gattungen der Gedichte hervorgebracht hatte, gaben sie ihnen Namen, ohne sich viel darum zu bekümmern, die innerlichen Kennzeichen [437] jeder Gattung zu bestimmen. Einige Arten erhielten ihre Namen blos von der äussern Form, andre von dem Inhalt. Doch ist Aristoteles, nach seiner Art, hierüber subtil und methodisch, obgleich seine Eintheilung zu nichts dienen kann. Da er das Wesen des Gedichts in der Nachahmung setzt, so bestimmt er die Gattungen desselben aus der Beschaffenheit der Nachahmung, und bekömmt dreyerley Gattungen. Die erste wird durch die Instrumente der Nachahmung bestimmt; die andre durch den Gegenstand der Nachahmung, und die dritte durch die Art der Nachahmung.

Die Instrumente der Nachahmung sind die Sprache, die Harmonie und der Rhythmus, und der Philosoph bestimmt verschiedene Arten des Gedichts dadurch, daß sie eines oder das andre, oder mehrere Instrumente der Nachahmung brauchen. Die Epopee macht nach seinen Begriffen eine besondere Gattung aus, weil sie blos die Sprache zum Instrument der Nachahmung braucht. Die lyrische Art wird dadurch bezeichnet, daß sie Sprache, Rhythmus und Harmonie braucht u. s. f. Es ist aber hieraus schon hinlänglich abzunehmen, daß aus diesen Subtilitäten wenig Nutzen zu ziehen sey.

Vielleicht könnte man eine fruchtbarere Eintheilung der Gedichte in die Hauptgattungen, aus den verschiedenen Graden der dichterischen Laune hernehmen, und dann die untern Arten aus dem Zufälligen der Materie oder der Form der Gedichte. Man würde zum Beyspiel finden, daß das lyrische Gedicht allemal ein von gedachter Laune, sie sey sanft oder heftig, ganz durchdrungenes Gemüth voraussetzet, und daß es durchaus in einer Art von Schwermerey müsse gemacht werden. Die Heftigkeit der Schwermerey, würde ein Kennzeichen der hohen Ode, das Sanfte derselben, der Charakter des Liedes seyn können, u. s. f. Eine abwechselnde Faßung, die durch alle Grade durch abgeändert wird, die meiste Zeit aber nur mit mittelmäßiger Stärke anhält, macht den Charakter der hohen Epopee und der Tragödie aus. Allein, wie gesagt, es verlohnet sich vielleicht der Mühe nicht, dergleichen Eintheilung zu suchen.

Die Hauptgattungen der Gedichte sind die lyrischen, die dramatischen, die epischen und die lehrenden oder unterrichtenden Gedichte. Da aber jede Gattung wieder Arten von sehr verschiedenem Charakter unter sich begreift, so kann man in Bezeichnung der Hauptgattungen eben nicht sehr methodisch verfahren. Wir haben jede besondere Art unter den gewöhnlichen Benennungen derselben weiter einzutheilen, und ihren Charakter, so gut, als sich thun ließe, anzugeben versucht.9

1Arist. Poet.
2Poema est sensitiva oratio perfecta. vid Baumgart. Dissertatio de Poesi et Poemate.
3S. Ton.
4S. Farben.
5Reflexions Critiques sur la Poesie et sur la Peinture. T. I. Sect. XXXIII.
6S. Dichter, Dichtkunst, Gedanken.
7Batteux.
8S. Schlegels Abhandlung v. der Eintheilung der Poesie in dem II Th. seiner Uebersetzung des Batteux.
9S. Lyrisch; Heldengedicht; Lehrgedicht u. s. w.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 433-438.
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