Spizfündigkeit

[1097] Spizfündigkeit. (Schöne Künste)

Eine unzeitige Scharfsinnigkeit, die die Begriffe über die Nothdurft und über die Natur der Sachen entwikelt, und subtile, schweer zu entdekende Kleinigkeiten bemerkt, die kein Mensch wissen will, oder wenn er sie bemerkt, verachtet; weil sie auf nichts gründliches führen. Es fällt mir eben ein Beyspiehl hievon aus einer Tragödie des sonst so gründlichen und überall großen Sophokles ein. Folgende Stelle aus seinen Ajax scheint mir wenigstens, als ein Beyspiehl hieher zu gehören. Tekmessa hatte bemerkt, daß Ajax sich von seiner Raserey etwas erholt hatte. Dieses veranlasset zwischen dem Chor und ihr folgende Unterredung.

Der Chor. Aber wenn er wieder zu sich selbst gekommen ist, so ist es gut für uns.

Tekm. Was würdest du, wenn du die Wahl hättest, wählen? Wolltest du lieber deine Freunde betrübt sehen, und selbst vergnügt seyn, oder an ihrer Betrübnis Theil nehmen?

Chor. Das doppelte Uebel scheinet mir das Größere.

Tekm. Und dieses leiden wir izt, da uns selbst nichts fehlt.

Chor. Wie verstehest du das, ich begreife dich nicht.

Tekm. Da Ajax noch verrükt war, gefiel er sich selbst in dieser Krankheit, und wir, denen nichts fehlte, litten für ihn. Izt aber da er zu sich selbst gekommen ist, wird er von einer bösen Traurigkeit hingerissen, und wir leiden nicht weniger, als vorher.

Die Spizfündigkeit ist ein Fehler den die Redner am meisten begehen; ein besonderes Muster derselben, und auch der besten Art sie zu beantworten, hat uns Sextus Empiricus1 aufbehalten, in dem Proceß den ein Schüler des Redners Korax gegen seinen Lehrmeister angefangen, und der sich dadurch endigte, daß beyde Parthien von dem Richtstuhl weggejagt wurden.

Die Spizfündigkeit ist einer der schlimmsten Fehler des Geistes. Sie verleitet den Spizfündigen, sich überall mit Rauch und Nebel, anstatt würklicher [1097] und brauchbarer Begriffe und Gedanken zu beschäftigen, und sich gründlich zu dünken, wo er kaum die Oberfläche der Dinge berühret. Er hält sich überall an dem Schein der Dinge, und dünket sich groß damit.

Der spizfündige Wiz drechselt und schleift so lang an einem wizigen Einfall, bis er ihm eine nicht mehr sichtbare Spize gegeben hat, die kein Mensch mehr fühlt, und nur eine verworrene Phantasie noch zu fühlen glaubet. Aber nirgend ist diese Schwachheit oder Art von Narrheit gefährlicher, und Menschen von gerader Art zu handeln, anstößiger, als in praktischen Dingen, die unmittelbar auf Handlungen gehen. Denn da thut der Spizfündige nie, was die gerade gesunde Vernunft zu thun befiehlt; darum trift er nie auf den Zwek, auf den er doch immer zu treffen sich einbildet. Es sind unserm Denken und Nachforschen gewisse Schranken gesezt, die man nicht überschreiten kann, ohne sich ganz in Spizfündigkeiten zu verlieren. Wir müssen gar ofte bey klaren Begriffen, die wir unmittelbar als einfache Vorstellungen empfinden, stehen bleiben, wenn es uns gleich dünkt, als sollten wir darin noch etwas entwikeln müssen. Wer den unglüklichen Hang hat, da, wo sein Gefühl klar spricht, noch weiter nachzugrübeln, ob er auch recht fühle, der verfällt in Spizfündigkeiten. So sagt uns ein unmittelbares sehr klares Gefühl, daß wir dem der Noth leidet, zu Hülfe kommen sollen, und läßt keinen Zweifel übrig. Aber der Spizfündige findet da noch sehr vieles zu untersuchen und zu bedenken, und hilft entweder gar nicht, oder auf eine so künstliche Weise, daß es eben so viel, als Nichts ist.

In Werken des Geschmaks sagt uns ein sehr klares Gefühl gar ofte, daß etwas gut oder schlecht, oder daß gerade so viel zum Zwek hinreichend sey. Aber der Spizfündige sucht noch scheinbare, nicht mehr im Gefühl, sondern in einer verstiegenen Phantasie liegende Gründe, das Gute besser, das Hinlängliche noch stärker zu machen, oder das Schlechte zu vertheidigen.

Wir würden hier aber auch selbst nothwendig in Spizfündigkeit gerathen; wenn wir unternehmen wollten, anzuzeigen, wo man sich mit den klaren Begriffen der gesunden Vernunft, mit dem bestimmten Gefühl des Geschmaks und der Empfindung begnügen soll, ohne die Gründe der Sachen weiter zu entwikeln, und wo man ohne Gefahr die Untersuchung weiter treiben könne. Man muß auch hier die Schranken empfinden; weil sie sich nicht zeichnen lassen. Der einzige Rath den man denen, die noch Gefühl haben, geben kann, ist dieser, daß sie, wenn sie sich in Untersuchungen und in Zergliederung der Sachen vertieft haben, den Erfolg, oder die Schlüsse, die sie herausgebracht, wieder gegen das, was sie vor der Untersuchung, durch blos genaue Aufmerksamkeit auf ihr Gefühl, geurtheilt haben, halten, und bey dem geringsten Wiederspruch den sie zwischen beyden entdeken, eher dem Gefühl, als der subtilen Untersuchung trauen. Findet ihr, daß euch ein Kunstrichter etwas, das ihr bey guter Aufmerksamkeit auf alles dazu gehörige schlecht, oder anstößig, oder unschiklich gefunden habt, durch sehr künstliche Entwiklung als gut und schiklich angepreißt; so vergleichet das, was ihr von seinen Gründen klar fühlet, gegen das, was ihr vorher von der Sache gefühlt habet. Hat dieses noch mehr Klarheit, als jenes, so sezet ein Mißtrauen in das Urtheil des Kunstrichters; es könnte gar wol seyn, daß er ein bloßer Sophist wäre.

1Adv. Mathem Lib. 11.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1097-1098.
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