Tragisch

[1167] Tragisch. (Schauspiehl)

Das Wort bedeutet etwas, daß der Tragödie eigen ist, oder sich für dieselbe gut schiket. In diesem Sinne sagt man, eine Handlung, eine Begebenheit, eine Leidenschaft sey tragisch. In etwas eingeschränkterm Sinne werden Zufälle, Begebenheiten oder Handlungen, wodurch beträchtliche Unglüksfälle veranlasset, oder hervorgebracht werden, tragisch genennt; weil man gewohnt ist, dergleichen in dem Trauerspiehl zu sehen. Wir nehmen hier das Wort in dem erstern, allgemeinen Sinne, von dem was sich zur Tragödie schiket, oder ihr eigen ist.

Der Hauptcharakter des Tragischen besteht in der innern Größe, oder Wichtigkeit der vorgestellten Gegenstände. Die Personen müssen entweder durch ihren innern Charakter, oder durch ihren Rang, ihre Würde und ihren Einflus auf die Gesellschaft darin sie leben, wichtig seyn: die Handlung muß nicht auf ein geringes, oder vorübergehendes Interesse gegründet seyn, sondern die Wolfarth, oder den gänzlichen Untergang großer Personen, oder gar ganzer Familien, oder Gesellschaften, entscheiden. Die Alten haben, wie bekannt ist, die Hauptpersonen niemals aus dem Privatstand genommen; und noch gegenwärtig kommt man durchgehends darin überein, daß die tragische Bühne Personen von hohem, öffentlichem Charakter erfodere. Man hat deswegen dem pathetischen Drama, dessen Hauptpersonen aus dem Privatstand genommen sind, den besondern Namen des bürgerlichen Trauerspiehls [1167] gegeben, dem noch verschiedene Kunstrichter, wir können nicht entscheiden, ob mit Recht oder Unrecht, den Rang der Tragödie streitig machen. Daß auch Privatpersonen durch die Größe des Gemüthscharakters in bloßen Privatangelegenheiten, in einem ganz merkwürdigen Licht erscheinen, oder von ausserordentlichen Unglüksfällen betroffen werden können, wird Niemand läugnen. Aber wenn ein großer Charakter sich gehörig entwikeln soll, so muß doch das Interesse, wodurch er in Würksamkeit gesezt wird, von Wichtigkeit seyn; und Begebenheiten die recht tragisch seyn sollen, müssen entweder viel Menschen zugleich, oder Personen von hohem Range betreffen.

Soll die tragische Bühne zu etwas wichtigerm, als zum bloßen Zeitvertreib dienen, so scheinet wenigstens so viel gewiß zu seyn, daß der Stoff dazu vorzüglich von öffentlichen und Nationalangelegenheiten zu nehmen sey. Es ist ohne Zweifel eine für jeden Staat wichtige Sache, daß der Bürger desselben jede Privatangelegenheit in Vergleichung des allgemeinen Interesse für etwas geringes halte: ohne diesen Geist kann keine Nation groß, vielleicht nicht einmal stark, und in ihrer Verfassung fest seyn. Durch öftere Vorstellung sogenannter bürgerlicher Trauerspiehle aber, würden die Zuschauer sich gewöhnen, an Privatangelegenheiten eben so starken und warmen Antheil zu nehmen, als an öffentlichen.

Wenn wir dem tragischen Schauspiehl sein eigenes Ziehl zu sezen hätten, so würden wir es so sezen, daß die Gemüther der Zuschauer dadurch gestärkt, zu großen und männlichen Gesinnungen geführet, und für die wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten zu außerordentlicher Anstrengung der Kräfte gereizt würden. Wir würden vorschlagen die Tragödie zu einem völlig männlichen großen Schauspiehl zu machen, und die Leidenschaften der zärtlichern Art auf die comische Bühne einschränken. Wir würden die Liebe zur Freyheit, die Begierde nach edlem Ruhme, den Eyfer für das allgemeine Beste, Abscheu und Wiedersezung gegen Gewaltthätigkeit; Verachtung des Privatinteresse, selbst des Lebens, wenn es auf den Dienst des Staates ankommt, und andre große heroische Gesinnungen zur Grundlage der tragischen Schaubühne vorschlagen. Freylich gewinnen die Trauerspiehle von zärtlicherm Inhalt fast durchgehends, besonders in Deutschland, den allgemeinesten Beyfall. Denn jeder Mensch ist zärtlich trauriger Empfindungen fähig, und geneigt, die Wollust eines unthätigen Mitleidens zu genießen. Vielleicht kommt es eben daher, daß fast durchgehends im Trauerspiehl die Tugend leidend und durch eine traurige Catastrophe besiegt vorgestellt wird. Sollte man es aber für die tragische Bühne weniger schiklich halten, daß die Tugend nach einem schweeren und wichtigen Kampf den Sieg davon trüge, und die ganze Handlung einen glüklichen, aber doch großen und bewundrungswürdigen Ausgang bekäme?

Es giebt Charaktere, Leidenschaften, Begebenheiten, Lagen, und Unternehmungen, die man vorzüglich tragisch nennen kann; weil sie sich sehr gut zur Tragödie schiken. Die finstere Grausamkeit eines Tyrannen; die Standhaftigkeit in höchsten Unglüksfällen, und überhaupt jede vorzügliche Größe der Seele, die sich bey wichtigen Gelegenheiten zeiget, sind tragische Charaktere. Zu tragischen Leidenschaften rechnen wir Haß, Zorn, Rachgierde, Eyfersucht, an Personen von großer Macht, oder wenn sie überhaupt sich unter großen und merkwürdigen Umständen zeigen. Die heftigste Liebe kann nur unter seltenen Umständen wahrhaftig tragischseyn.1 Aber väterliche, oder eheliche Zärtlichkeit kann große tragische Situationen hervorbringen. Tragisch sind die Begebenheiten und Unternehmungen vorzüglich zu nennen, wobey es auf die Rettung oder den Untergang ganzer Gesellschaften, ganzer Staaten ankommt. Dergleichen Gegenstände haben die wahre tragische Größe, wodurch die Zuschauer unwiederstehlich hingerissen oder erschüttert werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1167-1168.
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