Lama

Fig. 195: Lama
Fig. 195: Lama

[305] Lama, heissen bei den Mongolen alle Geistlichen überhaupt; bei den Kalmücken nur die vornehmsten, und in Tübet allein der höchste Priester, der jedoch zum Unterschied von zwei andern, an Würde ihm nahen Geistlichen, Dalai-L. heisst; die beiden andern werden Tischu-L. und Taranant-L. genannt. Der Erstere ist das Oberhaupt aller Bekenner der L.-Religion, ihr sichtbarer, auf Erden weilender Gott; er ist der geistliche und weltliche Herrscher, der unumschränkte Gebieter von ganz Tübet, wo er seine Residenz in einem von zwei grossen Klöstern hat, welche nahe bei der Hauptstadt Lassa oder Lhasaa liegen, und die er, nach Sommer und Winter abwechselnd, bewohnt. Das Volk glaubt, er sei unsterblich, nur sein Körper altere, er aber verlasse denselben, um sogleich in den Körper eines Kindes einzugehen, welches nun die L.-Würde bekleidet, natürlich schon lange vorher dazu bestimmt und erzogen. Früher war seine Macht weit unumschränkter: er setzte nach eigenem Gefallen Könige ab und Könige ein; jetzt steht er in gewisser Hinsicht unter dem Kaiser von China, welcher in seinem Palast, eine Wache von 2000 Mann hält, und bei dem der L. selbst durch einen Nuntius repräsentirt wird. Dieser, wie der Dalai-L., sind eigentlich nur Gefangene des Kaisers; der Ober-L. führt ein trauriges, aller menschlichen Freude beraubtes Kerkerleben, lebt im Cölibat und hat zum Ersatz für alle Opfer nichts, als eine unbegrenzte stumme Verehrung, welche, wie man sagt, so weit geht, dass seine Excremente angebetet, ja wohl gar in Speisen genossen werden, was jedoch eine Erdichtung zu sein scheint. Wenn der neue Dalai-L. zur Regierung gelangt und noch nicht reif dazu ist, versieht der zweite, der Tischu-L., die Regentschaft; er steht überhaupt dem Dalai-L. an Macht und Ansehen, so wie in der Verehrung, welche er geniesst, am nächsten. Der Name Dalai-L. bedeutet die sehr grosse Mutter der Seele, und L. (Mutter) nennen sich die Priester der Mongolen, um damit anzudeuten, dass sie alle lebenden Geschöpfe durch Gebete und Segnungen glücklich zu machen streben, und sie so lieben, wie eine zärtliche Mutter ihre Kinder. - Die beiden Schlösser oder Klöster, welche das Oberhaupt von Tübet bewohnt, heissen Brepun und Ssera; wenn er von dem erstem zum zweiten zieht, so geht er mit dem Laufe der Sonne um die Stadt und bringt den ganzen Tag auf diesem Wege zu; wenn er Ssera verlässt, zieht er durch die Stadt, in einem solchen Gefolge von Geistlichen, dass er selbst gar nicht sichtbar ist; dennoch müssen von seinem Wege alle Weiber fortgeschafft werden. - Das Ansehen des Dalai-L. beruht auf der dem Buddhaismus eigenthümlichen Lehre von der Seelenwanderung, nach welcher man glaubt, die Seele des vorigen L. trete unmittelbar in den Körper des neuen über, und alle L.s sind von der nämlichen Seele (von der des Chomschim Bodhissadoa) bewohnt gewesen, daher sie auch als der verkörperte Gott betrachtet werden, welcher in ihnen allen nur verschiedene Hüllen angenommen hat. Der Dalai-L. ist der Mittler zwischen den Menschen und Gott, ist selbst allwissend, allgegenwärtig, höchst heilig und unbefleckt, liegt immerdar seinen religiösen Pflichten ob und befasst sich nur selten mit den Menschen; er ist eine reine Offenbarung der Gottheit, und in seiner Person hat die ganze Religion ihren Grund. Unsere Abbildung ist nach einer aus Messing getriebenen Statuette des Dalai-L. angefertigt.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 305.
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