Der Gesang

[97] Der Gesang, 1) in dem ursprünglichen, weitumfassenden Sinne des Worts ist er eine nach einer abgemessenen Bewegung fortgehende Rede durch Töne (die sich sowohl durch Höhe und Tiefe als durch eine besondere Bildung von einander unterscheiden), wodurch der Mensch seine verschiedenen Empfindungen und leidenschaftlichen Gefühle äußert. Diese einzelnen Töne, wodurch der Gesang entsteht, liegen als Aeußerungen lebhafter Empfindungen in der Natur des Menschen selbst, so daß man es wohl sehr unwahrscheinlich aus der Nachahmung der singenden Vögel erklärt, wie der Mensch auf den Gesang gekommen sei. Vielmehr ist es leicht denkbar, wie sich der Mensch, der geneigt ist, sowohl den vergnügten als traurigen Empfindungen nachzuhängen und sich in denselben einzuwiegen, ursprünglich von selbst eine Reihe singender Töne gebildet habe, an denen er gleichsam als an etwas Körperlichen sich fest halten und seinen Gefühlen eine Fortdauer verschaffen konnte. Denkt man sich nun noch eine gleichförmig anhaltende Bewegung des Körpers hinzu, bei welcher man, wie die Erfahrung besonders bei rohen Menschen und Kindern lehrt, sich in seinen Empfindungen eine Zeit lang ungestört unterhält, und wodurch die Aufmerksamkeit auf einen und denselben Gegenstand fest gehalten wird, so sieht man hieraus den eigentlichen Gesang entstehen, dessen Ausbildung stufenweise immer mehr und mehr zunimmt. Auch liegt die wesentliche Kraft der [97] Musik eigentlich nur im Gesange; und in so fern der Zweck der Tonkunst dahin geht, Leidenschaften und Empfindungen darzustellen, ist er gewiß der wichtigste Theil derselben. Unter den drei Mitteln, wie der Mensch seinen Gemüthszustand an den Tag legt, der Rede, der Miene nebst den Gebehrden und den leidenschaftlichen Tönen, geht das letztere den übrigen wegen der Kraft, mit welcher es in das Innerste der Seele dringt, vor; und eben daher räumt man auch dem Gesange vor allen Werken der Kunst den Vorzug ein, um Leidenschaften zu erwecken. 2) Im engern Sinne nennt man nun auch den Gesang überhaupt die Melodie eines Tonstücks, wo eben nicht gerade die Töne von menschlichen Stimmen angegeben werden. So sagt man z. B. es ist ein leichter, fließender Gesang in diesem Tonstücke, wenn gleich menschliche Stimmen nichts dabei zu thun haben, bloß um die angenehme, fließende Melodie, welche darin herrscht, zu bezeichnen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 97-98.
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