Gemeinsinn

[370] Gemeinsinn (koinê aisthêsis, sensus communis, common sense) bedeutet bald die Wahrnehmung des den verschiedenen Sinnen Gemeinsamen, bald den »inneren Sinn« (s. d.), bald den gesunden Menschenverstand, bald den socialen Sinn.

Nach ARISTOTELES werden Bewegung, Ruhe, Gestalt, Größe, Zahl, Einheit von den Sinnen gemeinsam empfunden (De an. III 1, 425 a 15). Tôn de koinôn êdê echomen aisthêsin koinên, ou kata symbebêkos. ouk ar' estin idia... ta d' allêlôn idia kata symbebêkos aisthanontai ai aisthêseis, ouch hê autai, all' hê mia, hotan hama genêtai hê aisthêsis epi tou autou (l.c. 425a 27 squ.). Zugleich nehmen wir auch wahr, daß wir wahrnehmen (aisthanometha hoti horômen kai akouomen l.c. III 2, 425b 12; De memor. 1; De somn. 2). Ein Bewußtsein unserer selbst schreiben dem Gemeinsinn auch die Stoiker zu hoi Stôikoi tênde tên koinên aisthêsin entos haphên prosagoreuousi, kath' hên kai hêmôn autôn antilambanometha, Stob. Ecl. I, 50; Floril. IV, 237). – AVICENNA rechnet den Gemeinsinn zu den inneren Sinnen (s. d.) als die Fähigkeit, »quae omnia sensu percepta recipit« (bei STÖCKL, II, 37). Ähnlich SUAREZ (De an. III, 30) u. a. DESCARTES erklärt: »Sensus communis, id est potentia imaginatrice cognoscere« (Med. II). Die schottische Schule bezeichnet als »common sense« den gesunden Menschenverstand, die Quelle apriorischer Wahrheit, des Sittlichen, der Religion (BEATTIE u. a.). Der Gemeinsinn ist die Grundlage der Philosophie (REID, Inquir. I, 4). KANT nennt Gemeinsinn das allgemein-subjective Princip der Geschmacksurteile (Krit. d. Urt. § 20 ff.), bezw. deren subjectiven Notwendigkeit (l.c. § 22). Der Gemeinsinn sagt, daß jedermann mit unserm ästhetischen Urteil zusammenstimmen solle (ib.). Nach ESCMENMAYER sind alle specifischen Sinnesarten »gleichsam nur verschiedene Refractionen eines Gemeinsinns«. Der Gemeinsinn ist »das Identische« aller Differenzen der Einzelsinne: »Empfinden heißt, die einzelne Fraction eines Sinnes in die Identität des Gemeinsinns aufnehmen« (Psychol. S. 38). Vgl. innerer Sinn, Gemein empfindungen.[370]

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 370-371.
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