Viertes Kapitel.

Zahlen.

[300] Eine große Volksmenge richtig abzuschätzen, ist sehr schwer; ein Heer wirklich zu zählen, selbst für den Kriegsherrn nicht so leicht, wie man denkt. Begnügt man sich, die Rapporte der Unterführer zu addieren, so ist das freilich sehr einfach, aber es fragt sich, ob diese Rapporte zuverlässig sind. Ein Organismus mit Kontrollen und Listenführung über Erkrankte, Verwundete, Beurlaubte, Abkommandierte und Nichtkombattanten ist nicht so kurzerhand zu schaffen und in Ordnung zu halten. Procop von Cäsarea, der uns die Kriegstaten Belisars überliefert hat, erzählt (bell. Pers. I, 18), daß die Perserkönige eine besondere Methode hätten, ihre Krieger zu zählen: wenn das Heer in den Krieg marschierte, so ziehe es Mann für Mann an dem König vorbei, der auf seinem Thron sitze und viele Körbe neben sich habe. Jeder Krieger werfe einen Pfeil in einen Korb, und die Körbe würden versiegelt. Komme nun das Heer aus dem Krieg zurück, so ziehe es abermals an dem König vorbei, und jeder Krieger nehme wieder einen Pfeil heraus. So erkenne man, welchen Verlust das Heer erlitten.

Das Geschichtchen, weniger phantastisch als die Hürden, in die nach der griechischen Legende Xerxes seine Millionen treiben ließ, illustriert nicht übel die Schwierigkeit eines zuverlässigen Stärkerapports und mag uns daher vorbereiten auf die Aufgabe, die uns gestellt ist, die Germanenheere der Völkerwanderung nach den Aussagen unserer Quellen abzuschätzen.

An Nachrichten fehlt es uns nicht.

Die Zahl der Goten, die im Jahre 267 in das römische Reich einfielen, gibt Trebellius Pollio auf 320000 Bewaffnete an. Die[300] Juthungen (ein Teil der späteren Allemannen) erklärten nach demselben Schriftsteller, als sie in Italien eingebrochen waren, dem Kaiser Aurelian, sie seien 40000 Mann zu Roß und 80000 Mann zu Fuß stark.

Kaiser Probus, Aurelians Nachfolger, schrieb selber an den Senat, er habe in dem Feldzug von 277 400000 Germanen getötet.

Als die Burgunder am Rhein erschienen, etwa 370, waren sie nach Hieronymus 80000 Mann stark.

Von den Westgoten haben wir schon gehört, daß sie bei ihrem Übergang über die Donau im Jahre 376 200000 Krieger stark gewesen sein sollten, nach Eunypius.

Ebenso stark waren nach Procop (III, 4) die Ostgoten, als sie in Italien einrückten, und mit 150000 Mann belagerte Witiges de Belisar in Rom.

Radagais führte im Jahre 404 nach Zosimus 400000, nach Marcellin 200000 Mann nach Italien; nach Orosius waren allein 200000 Goten in diesem aus verschiedenen Völkern zusammengesetzten Heer.

Mit 200000 Mann erschienen nach Jordanes die Franken im Jahre 539 unter König Theudebert in Italien, wichen aber, ohne zu schlagen, vor Belisar wieder zurück. Nach Procop (bell. Goth. II, 28) behaupteten fränkische Gesandte sogar, daß das Heer 500000 streitbare Männer stark sei.

Attilas Heer im Jahre 451 war nach Jordanis 500000, nach der historia miscella 700000 Mann stark.

Zu den Zahlen der Germanenheere, die noch um diese und jene vermehrt werden könnten, stimmt es, daß nach Zosimus (II, 15) Constantin ein Heer von nicht weniger als 90000 Mann zu Fuß und 8000 Mann zu Pferde nach Italien führte; er besiegte den Kaiser Maxentius an der milvischen Brücke, obgleich dieser nicht weniger als 170000 Mann zu Fuß und 18000 Mann zu Pferde hatte.

Die Schilderungen der Quellen stehen mit ihren Zahlen in Einklang.

Von den Allemannen schreibt Ammian (28, 59): »Es ist ein ungeheures Volk; von seinem ersten Auftreten an ist es durch alle[301] möglichen Niederlagen geschwächt; aber so schnell wächst immer eine neue Jugend heran, daß man glauben möchte, sie seien seit Jahrhunderten von keinem Unfall berührt.« Ähnlich schildert Ammian gleich darauf die Menge der Burgunder; später (31, 4) die der Westgoten, die er zahlreich wie der Sand am Meer nennt; dasselbe schreibt Nazarius um 320 von den Franken.187

Diesen Zahlen ist nun eine andere Reihe gegenüberzustellen, die ein sehr abweichendes Bild gewährt.

Wir selber haben bereits gefunden, daß die Allemannen bei Straßburg etwa 6000 bis höchstens 10000, die Westgoten bei Adrianopel vielleicht 12000 bis allerhöchstens 15000 Mann stark waren.

Kaiser Zeno, erzählt uns sein Zeitgenosse Malchus, schloß einmal mit dem Ostgoten Theoderich Strabo, dem Rivalen des großen Theoderich, einen Vertrag, wonach Strabo mit 13000 Mann, von ihm zu stellen, in den Dienst des Kaisers treten und Sold und Lebensmittel für sie empfangen sollte. Nach dem ganzen Zusammenhang waren diese 13000 Mann das Gros der Ostgoten.

Der Kirchenvater Sokrates erzählt uns, wie die Burgunder, von den Hunnen schwer bedrängt, den Christenglauben annahmen und durch die Kraft des neuen Gottes, nur 3000 Mann stark, die 10000 Mann starken Hunnen besiegten.

Als Geiserich mit seinen Vandalen nach Afrika übersetzte, ließ er nach Viktor Vitensis (I, 1) eine Volkszählung veranstalten, welche die Zahl 80000 ergab. Aber nur die Unkundigen meinten, fügt der Autor hinzu, das seien die Waffentragenden gewesen; in Wirklichkeit seien die Greise, Kinder und Sklaven in diese Zahl einbegriffen, und als noch nicht 100 Jahre später Kaiser Justinian den Belisar aussandte, den Vandalen Afrika wieder zu entreißen, war das Heer, das er ihm mitgab, nicht mehr als 15000 Mann stark, und diese kamen nicht einmal alle zur Verwendung. 5000 Reiter genügten, den Vandalen eine Niederlage beizubringen, von der sie sich nicht wieder zu erholen vermochten.188[302]

Dieser Zahlengruppe mögen wir noch hinzufügen, daß statt der 98000 Mann, von denen wir oben gehört haben, ein anderer Zeitgenosse dem Constantin an der milvischen Brücke kaum 25000 gibt.189

Es ist einleuchtend, daß die beiden Zahlengruppen, die wir zusammengestellt haben, sich gegenseitig ausschließen. Gab es im vierten und fünften Jahrhundert Heere von vielen Hunderttausenden, so konnten nicht Korps von 10000 bis 25000 Mann Entscheidungen erfechten, wie die an der milvischen Brücke und bei Adrianopel. Diese Unmöglichkeit haben die Historiker von je empfunden, sich aber, da nun einmal eine Wahl zu treffen war, nicht für die zweite, sondern für die erste Zahlgruppe erklärt.190 Die Zahlen der zweiten Gruppe schienen sich ziemlich leicht hinweginterpretieren zu lassen. Der Panegyriker, der Constantin weniger als 25000 Mann gibt, ist eben ein Panegyriker. Der Kirchenvater, der den Burgundern nur 3000 Krieger gibt, will beweisen, daß der Gott der Christen stark sei auch in dem Schwachen. Der Bischof, der behauptet, Geiserich habe mit seinen angeblich 80000 Kriegern geschwindelt, ist den Vandalen sehr feindlich gesinnt. Die 13000 Ostgoten Theodorich Strabos waren nur ein kleiner Teil. Endlich die 10000 Mann Goten, die dem Kaiser Valens gemeldet wurden, waren nicht das Heer, sondern nur ein Korps; überdies fügt Ammian ausdrücklich hinzu, daß die Meldung falsch war.

Wir unserseits haben uns bereits im entgegengesetzten Sinne entschieden.[303]

Die genauere kritische Betrachtung der überlieferten Quellen hat uns gezeigt, daß die Meldung, die Goten seien bei Adrianopel nur 10000 Mann stark, sich nicht auf ein einzelnes Korps bezogen hat, sondern daß die Römer in die Schlacht gegangen sind in der Meinung, daß das ganze ihnen gegenüberstehende gotische Heer diese Stärke habe. Der weitere Verlauf der Ereignisse hat uns gezeigt, daß, wenn diese Meinung auch irrtümlich war, der Irrtum jedenfalls eine sehr enge Grenze nicht überschritt.

Dieses Ergebnis ist uns doppelt bestätigt worden durch die strategischen Verhältnisse des Feldzuges. Wir haben den Weg feststellen können, auf dem die Goten marschiert sind, und ersehen, daß unter den obwaltenden Bedingungen auf diesem Wege unter keinen Umständen ein Heer von Hunderttausenden, ja sogar keines, das die Zahl von 10000 bis 15000 wesentlich überschritt, hätte anrücken können. Dasselbe besagt die Wagenburg, in die sich das Heer einschloß.191

Unsere Hauptquelle für die Schlacht bei Adrianopel, Ammianus Marcellinus, ist, wenn auch nicht unbedingt frei von Irrtum, doch sehr gut und eingehend unterrichtet und ein wahrhaftiger Mann.

Die Heereszahl, die wir gefunden haben, darf daher, bestätigt durch die von der Schlacht bei Straßburg, als eine innerhalb der gesteckten Grenzen unbedingt sichere angesehen werden. Das gibt die Entscheidung auch für alle anderen. Wenn Zahlen in der Weltgeschichte häufig so sehr unsicher überliefert sind, so haben sie dafür den Vorteil, daß sie sich gegenseitig kontrollieren. Die vielfach in die Geschichte eingeschwärzten phantastischen Zahlen fallen, sobald man eine einzige vergleichbare gefunden hat, die wirklich zuverlässig ist. Wenn die Goten bei Adrianopel höchstens 15000 Mann stark gewesen sind, so sind damit die sämtlichen in die Hunderttausende gehenden Zahlen der Heere der Völkerwanderung gestrichen. Denn es ist unzweifelhaft, daß die Westgoten eines der zahlreichsten und mächtigsten der germanischen Wandervölker[304] waren. Weder die Ostgoten, noch die Vandalen, noch die Burgunder, noch die Langobarden, weder Radagais, noch Odoaker können wesentlich stärker gewesen sein, ja sie müssen sogar meist erheblich schwächer gewesen sein.

Es ist möglich, daß an der Schlacht Teile des westgotischen Volkes nicht teilgenommen haben, ein Bruchteil war sogar nördlich der Donau zurückgeblieben. Diese aber wurden ersetzt durch die Ostgoten, die sich ihren Stammesgenossen angeschlossen hatten.

Jetzt wird es geboten sein, auch die anderen Zahlen der zweiten Gruppe, die der Historie bisher ziemlich achtlos beiseite gelassen hatten, näher ins Auge zu fassen.

Die 13000 Mann, mit denen der Ostgote Theoderich Strabo in den Dienst des Kaisers Zeno treten sollte, können unmöglich nur ein kleiner Teil des Gotenvolkes gewesen sein.192 Diese Auslegung ist nichts als ein Produkt der herrschenden Vorstellung von den großen Massen der Germanen. Der Vertrag war das Ergebnis einer schweren Bedrängnis des Kaisers, der die beiden rivalisierenden Gotenführer gegeneinander auszuspielen suchte. Als er nun mit dem einen abschloß, war dieser im Augenblick der bei weitem stärkere. Hätte er nur für einen kleinen Teil der Goten ge sorgt, so hätte die Masse sich sofort um den anderen Theoderich geschart und den Krieg fortgesetzt, statt sich abschieben zu lassen. Nur indem man die entschiedene Mehrzahl mit ihrem Führer befriedigte, konnte man hoffen, diese Barbaren, die mitten im Lande standen und es beliebig ausplünderten, zur Ordnung zurückzuführen. Blicken wir nun noch einmal auf die ohne Zweifel korrekt überlieferte Zahl 13000, so werden wir sie nicht nur nicht für ein beliebiges Detachement halten, sondern eher umgekehrt den Verdacht hegen dürfen, daß wir hier ein frühes Beispiel jener Erscheinung vor uns haben, der wir in der Landsknechtzeit immer wieder begegnen werden: daß nämlich die Condottieri die Zahl ihrer Söldner viel zu hoch angeben, um den Sold für das Manko selber einzustreichen.193 Es ist sehr wohl möglich, daß dieser Theoderich, da[305] ihm doch lange nicht alle Goten folgten, nur 6000-8000 wirklich gehabt hat, obgleich er über und für 13000 paktierte.

So betrachtet, dient uns diese Zahl nicht nur als eine abermalige, quellenmäßige Widerlegung der Vorstellung von den Hunderttausend-Heeren der Germanen, sondern steht auch in voller Harmonie mit den etwa 12000 bis höchstens 15000 Westgoten, die wir für die Schlacht bei Adrianopel berechnet haben.

Nachdem Theoderich der Amaler an die Spitze der Ostgoten getreten, kämpfte er mit Odoaker mehrere Jahre in Italien und die Heereszüge gingen hin und her. Einmal sammelte der Ostgote sein ganzes Volk bei Pavia. Hätte er 200000 Krieger gehabt, so hätte die ganze Masse etwa 1 Million Köpfe betragen. Die Historiker haben dabei kein Arg gehabt und sich damit getröstet, daß die Quellen ja nicht sagen, sie seien alle in der Stadt, sondern in einer Befestigung bei der Stadt gewesen.194 Wer eine Vorstellung davon gewinnen will, was es heißt, auch nur 200000 Mann auf einem Fleck mehrere Wochen lang zu ernähren, selbst mit allen modernen Hilfsmitteln an Fuhrwerk, Chausseen, Eisenbahnen, Geld, Intendantur, Lieferanten, der lese die Erinnerungen des Chefs der Verpflegungsabteilung Engelhard über die Versorgung unserer Armee vor Metz im Jahre 1870.195

Gehen wir über zu den Burgundern. Wir haben zu prüfen, ob, da die Nachricht, daß sie 80000 Mann stark gewesen seien, beseitigt ist, etwa die andere, daß sie nur 3000 Krieger gezählt hätten, als sie zum Christentum übertraten und die Hunnen besiegten, als richtig angesehen werden darf.

JAHN in seiner Geschichte der Burgunder hat mit jener ersten Zahl operiert und aus ihr seine Konsequenzen gezogen; BINDING,196 vorsichtiger, wagt sich über den Satz »es ist ein schwer Ding, sich in den romanisch-germanischen Reichen über die Zahlengröße der Germanen neben den Romanen eine klare[306] Vorstellung zu machen« nicht hinaus. Ohne eine klare Vorstellung über die Zahlen, zwischen 80000 und 3000 Kriegern schwankend, wird aber sehr vieles, sowohl in den Ereignissen wie in den Zuständnissen der Burgunder, unklar bleiben. Der Quellenwert der letzteren Nachricht, 3000 Mann, ist gewiß sehr gering. Die Tendenz des Kirchenvaters Sokrates, die Burgunder in seiner Erzählung möglichst schwach erscheinen zu lassen, liegt auf der Hand, und der Erzähler selber ist sowohl über das Volk wie über die Zeit des Ereignisses nicht sicher unterrichtet. Er schließt seine Erzählung, die außerhalb eines historischen Zusammenhanges steht, mit dem Satz, um dieselbe Zeit sei der arianische Bischof Barbas gestorben, im 13. Konsulat des Theodosius, im 3. des Valentinian, d.i. im Jahre 430. Das »um diese Zeit« ist auf jeden Fall unrichtig oder muß sehr weit gefaßt werden, da die Burgunder bereits sehr viel früher, schon bald nach 413, zum Christentum übergetreten waren.197 Bei dieser Unbestimmtheit der Chronologie ist es wenigstens als Hypothese erlaubt, anzunehmen, daß der Vorfall noch einige Jahre später, nämlich nach der großen Niederlage der Burgunder durch die Hunnen, 435, gespielt hat. Sokrates sagt selbst, daß sie vorher von den Hunnen viel hätten erdulden müssen und viele von ihnen getötet worden seien.

Nehmen wir nun an, daß es sich wirklich um einen Vorfall nach 435 handelt, von dem Sokrates gehört oder gelesen hat, so gewinnt die Zahl 3000 ein ganz realistisches Gesicht. Hätten wir es bloß mit der Phantasie eines Legendenerzählers zu tun, der den Sieg der wenigen Christen über die viel zahlreicheren Heiden feiern wollte, so muß man fragen, weshalb er nicht das umgekehrte Verfahren wählte, die Zahl der Gegner nach passender Abschätzung zu vergrößern. Dies Verfahren ist so sehr das vorherrschende bei den Tendenzschriftstellern jener wie aller Zeiten, daß das Umgekehrte auffällt. War das burgundische Volk wirklich, sagen wir 10000 Krieger stark: wer hätte etwas darin gefunden, wenn Sokrates diese 10000 über 30000 oder 40000 Hunnen siegen ließ? Daß er den Burgundern nur 3000 Mann gibt, läßt doch[307] wohl kaum eine andere Erklärung zu, als daß dieser Zahl eine positive Nachricht zugrunde liegt. Die Burgunder waren keine Völkergruppe sondern eine einzelne Völkerschaft. Sie haben zweimal, etwa im Jahre 290 durch die Goten und etwa im Jahre 435 durch die Hunnen Niederlagen erlitten, die in den Quellen rundweg Vernichtung genannt werden;198 daß namentlich die zweite Niederlage unter König Gunther sehr groß gewesen sein muß, wird auch bezeugt durch den Eindruck, den sie hinterlassen hat und der durch die Jahrhunderte hat fortleben können. Als dieser Volksstamm in die Landschaften einrückte, von denen noch heute ein Teil nach ihm den Namen führt, sagt unsere Quelle, daß es die »Überbleibsel« (reliquiae) des Volkes gewesen seien, die in die neuen Wohnstätten übersiedelten. Alles das wohl betrachtet, müssen wir sagen, daß ein positiver Grund, die Zahl 3000 anzufechten, nicht vorliegt; sind es mehr als 3000 Mann gewesen, so war jedenfalls der Unterschied nicht so sehr groß. Wenn wir sagen 5000, so wird das die höchste Grenze sein, bis zu der wir gehen dürften.

Unsere Untersuchung bildet eine interessante Annalogie zu derjenigen über das bellum gallicum. Auch hier fand sich, daß die Angaben Cäsars über die Größe der gallischen und germanischen Heere unter sich nicht übereinstimmten: auf der einen Seite stand freilich nur eine einzige Zahl, auf der anderen alle übrigen. Dieser großen Mehrzahl glaubte die Wissenschaft trauen zu müssen und ergriff zwecks Herstellung der Harmonie den Ausweg, an jener einen Stelle den Text zu ändern. Die sachliche Prüfung der taktischen und strategischen Vorgänge hat uns gelehrt, daß gerade umgekehrt Cäsar an jener einen Stelle (Buch V, Kap. 34) sich die Wahrheit hat sozusagen entschlüpfen lassen; daß gerade an diese anzuknüpfen und alle anderen als bewußte Übertreibungen abzuweisen sind.

In den Vorstellungen von Heereszahlen ist die Menschheit zu allen Zeiten dieselbe gewesen und ge blieben. Als Diebitsch 1829 den Balkan überschritten hatte, meldete ein zur Rekognoszierung abgeschickter Offizier dem Osman Pascha, »man könne eher die Blätter im Walde, als die Köpfe im feindlichen Heer zählen«. In Wahrheit hatte Diebitsch 25000 Mann. So erzählt uns[308] MOLTKE in seiner Geschichte des russisch-türkischen Feldzugs 1828/29, S. 345, S. 349.

Als die Westgoten die Donau überschreiten, malt uns Ammian ihre Menge, indem er an den Zug des Xerxes erinnert: es sei gewesen, als ob jene alten Zeiten wiederkehrten, wo der Perserkönig die Seinen nicht mehr einzeln zu zählen vermochte, sondern sie bei Doriskus nach Scharen abschätzen ließ; niemals seien seitdem so unermeßliche Mengen gesehen worden, die sich durch die Provinzen ausbreiteten und die Ebenen wie die Berge bedeckten. Da wir nun nachgewiesen haben, daß die Menge der Goten, die auf Ammian und seine Zeitgenossen einen so unermeßlichen Eindruck machte, nicht mehr als 15000, und mit allen Detachements vielleicht 18000 Krieger umfaßt hat, so dürfen wir doch auch vielleicht von unserem Standpunkt den Vergleich des Autors mit dem Xerxeszuge festhalten und schließen: so mögen denn auch die Krieger des Großkönigs weder 2100000 noch 800000 noch 500000 noch 100000, sondern nur 15000 bis 25000 Mann gewesen sein. Unsere Philologen sind ein gläubiges Geschlecht, aber da Ammian nicht mehr zu den Klassikern gerechnet wird, so sind bei ihm kritische Zweifel schon eher erlaubt, als bei Herodot, und wenn man sich erst an Ammian mit der Ungläubigkeit etwas eingeübt hat, fürchtet man sich schon weniger, ein Sakrileg zu begehen, indem man auch Herodot und seine Zeitgenossen mit dem kritischen und psychologischen Maßstabe der Menschenkinder anderer Epochen mißt.

Auch auf die für die germanischen Urzeiten gefundenen Zahlen wollen wir von unserem Ergebnis aus noch einmal zurückkehren und die Verbindungslinie zwischen den beiden Epochen herstellen. Man hat wohl angenommen, daß in diesen 400 Jahren ein großes Anwachsen der Germanen stattgefunden habe, und gerade in dieser Volksvermehrung den Anstoß zu den großen Verschiebungen der Völkerwanderung finden wollen. Wir haben gelesen, daß das durchaus unrichtig ist. Die Germanen waren auch in der Völkerwanderung noch immer sehr wenig zahlreich, und das ist auch das einzig Natürliche, da die wirtschaftlichen Verhältnisse dieselben geblieben waren. Die Germanen sind nach wie vor in erster Linie Krieger und nicht Bauern. Hätte sie sich in dieser Zeit wirtschaftlich[309] wesentlich entwickelt, so hätte sie auch Städte hervorbringen müssen. Sie sind aber auch immer ohne Städte, wie zur Zeit Armins, und haften nach wie vor nur lose am Boden, weil sie vorwiegend Viehzüchter und Jäger, nur in geringem Maße Ackerbauer sind. Da die Nahrungsproduktion sich nur wenig vermehrt haben kann, so kann auch die Volksmasse nicht bedeutend zugenommen haben. Die Menge der ganzen Rasse konnte sich vermehren durch die Ausdehnung des Gebietes bis an das Schwarze Meer, aber die einzelne Völkerschaft, die Volksdichtigkeit, kann sich nicht wesentlich gehoben haben, sie wird noch immer über 250 Seelen auf die Quadratmeile nicht weit hinausgegangen sein. Die natürliche Steigerung, gering wie sie bei barbarischen Völkerschaften ist – die große Fruchtbarkeit wird durch eine ebenso große Sterblichkeit aufgehoben –, wirkte nicht in der Richtung einer gesteigerten Kultur, sondern drängte fortwährend nach außen: Kriege mit den Nachbarn, Krieg gegen Rom, vor allem aber römischer Dienst verzehrten den Überschuß.

Für die Abschätzung der einzelnen Heere und Völkerschaften wirkt nun störend die Unsicherheit des Begriffes Völkerschaft. Für die Urzeit haben wir aus der Zahl der Völkerschaft zwischen Rhein und Elbe berechnen können, daß im Durchschnitt auf jede einzelne etwa 100 Quadratmeilen kamen. Aus einem solchen Gebiet kann der einzelne sich in einem Tagemarsch an den allgemeinen Versammlungsplatz begeben, und die Versammlung, etwa 6000 Männer, läßt noch eine einheitliche Verhandlung und Beschlußfassung zu. Es ist aber nicht gesagt, daß nicht schon in jener Zeit einzelne Völkerschaften existierten, die über ein erheblich größeres Gebiet und eine erheblich größere Seelenzahl verfügten. Die Einheit wurde dann durch die Versammlung der Fürsten und Hunni repräsentiert. Diese Einheit aber war eine sehr lockere; es war stets möglich, daß ein oder einige Geschlechter unter ihren Hunni oder eine ganze Gruppe unter Führung eines Fürsten sich loslösten und ihre eigenen Wege gingen, und ebenso konnten auch aus mehreren kleineren Völkerschaften oder Völkerschaftsbruchstücken wieder größere Verbände zusammengefügt werden. So ist es auch in der Völkerwanderung. Ein Teil der Ostgoten unter dem Fürsten Wedemir schloß sich den Westgoten an; ein[310] Teil der Rugier den Ostgoten; die Vandalen zerfielen in zwei Stämme, die Silingen und die Asdingen, und als sie nach Afrika übergingen, waren auch Alanen und Goten bei ihnen.

Irgend eine Durchschnitts- oder Normalzahl für die verschiedenen Völkerschaften, die uns begegnen, anzunehmen, ist daher unmöglich. Nur soviel ist gewiß, daß wir niemals über 15000 Krieger bei einem der wandernden Volksheere hinausgehen dürfen. 15000 Krieger setzen mit Weibern und Kindern wenigstens 60000, mit den Sklaven um die 70000 Köpfe voraus. Das ist eine Masse, die sich schon nicht mehr einheitlich bewegen kann; sie muß in verschiedene Staffeln oder auf verschiedene Wege verteilt werden, und da die Krieger von ihren Familien und Wagen nur vorübergehend abzutrennen sind, so bedarf es der höchsten Aufmerksamkeit und Umsicht der Führung, um sie für einen Schlachttag wirklich alle annähernd zu vereinigen und beisammen zu haben. Meist werden die Heere nur halb oder drittel so stark gewesen sein.

Die Bevölkerung des römischen Reichs gegen die Mitte des dritten Jahrhunderts haben wir auf 90 Millionen Menschen veranschlagt. Das ist eine Mindestzahl; es könnte wohl auch bis zu 150 Millionen angenommen werden. Ist es denkbar, daß eine solche Volksmasse dem Ansturm von Barbarenhorden erliegt, die nicht stärker als 5000 bis 15000 Mann waren?

Ich denke, es kann keine wichtigere Feststellung in der Weltgeschichte geben, als daß es wirklich so gewesen ist. Die legendarischen Übertreibungen in den Heereszahlen haben uns bisher diese Erkenntnis verhüllt, ja, in der unbestimmten Empfindung, daß hier noch ein Rätsel sei, hat man sogar in der entgegengesetzten Richtung nach einem Ausweg getastet und durch den Niedergang der römischen Bevölkerung ihre Niederlage zu erklären versucht. Aber so ist es nicht gewesen. Das römische Imperium war voller Menschen und voller kräftiger Arme, als es dennoch den ganz kleinen Babarenheeren unterlag. Vorwärts und rückwärts erhält die Weltgeschichte von dieser Stelle aus Licht.

Wir haben uns im ersten Bande überzeugt, daß auch die beste römische Veteranenlegion mit all ihrer Disziplin und taktischen[311] Fertigkeit es nicht weiter bringen konnte, als einer gleich starken Germanenschar ungefähr gleichwertig zu sein. Nur durch sehr große numerische Überlegenheit haben Marius und Cäsar die Germanen zu überwinden vermocht. Aber die numerische Überlegenheit allein gibt noch nicht den Sieg. Das erkennen wir jetzt. Auch im vierten und fünften Jahrhundert hätte das römische Reich noch mit Leichtigkeit Mengen von bewaffneten Männern aufstellen können, die den barbarischen Eindringlingen zehnfach überlegen gewesen wären. Es wäre vielleicht noch zu fragen, ob solche Heere mit den Mitteln der Naturalwirtschaft, wie sie jetzt eingesetzt hatte, zu ernähren gewesen wären, aber wir können davon absehen: es genügt, sich klarzumachen, daß, nachdem einmal das stehende Heer, die disziplinierten Legionen zugrunde gegangen waren, zusammengeraffte Aufgebote von Bürgern und Bauern schlechterdings die Barbaren nicht zu bestehen vermochten. Man kann sich das Wüten dieser Goten, Alemannen, Franken, Vandalen, Alanen, Sueven, Langobarden unter der friedlichen römischen Bevölkerung kaum entsetzlich genug vorstellen. Die alte Kultur sank in Asche, die Menschen wurden abgeschlachtet. Die Goten hackten den Bauern die Hand ab, die den Pflug führt, die rechte, die Langobarden schändeten die Nonnen auf dem Altar, erzählen uns die Römer. Aber die Männer, Väter, Brüder waren nicht imstande, weder ihr Eigentum, noch ihre Familienehre, noch den eigenen Leib zu verteidigen. Einige römische Große versuchten mit ihren aufgebotenen Bauern die Pyrenäenpässe zu sperren, als die Westgoten nahten.199 Die Bewohner der Auvergne verteidigten sich eine Zeitlang tapfer gegen den König Eurich.200 Als die Vandalen Afrika schon eingenommen hatten und Italien bedrohten, erließ Kaiser Valentinian Edikte, die die Römer aufforderten, sich selbst zu wehren, und uns in den Gesetzsammlungen erhalten sind. Das erste lautet dahin, daß es zunächst verspricht, die römischen Bürger sollten nicht zwangsweise in die Armee eingestellt werden, sie aber sowohl zum Mauerbau, wie zur Bewachung der Mauern[312] und Tore für verpflichtet erklärt. Bald darauf ein zweites Edikt, das mitteilt, der schreckliche Geiserich sei mit einer Flotte von Karthago ausgefahren; Hilfe werde nicht fehlen, der Kaiser habe vorgesorgt, Aëtius und Sigiswuld seien im Anmarsch; da man aber nicht wissen könne, wo der Feind landen werde, so möchten im Vertrauen auf ihre Kraft und ihren Mut, ihr Eigentum zu verteidigen, die Bürger, ohne die Bürgerordnung zu verletzen, selber zu den Waffen greifen und Land und Gut in treuem Zusammenhalten und Zusammenstehen schützen.201 Als Belisar in Rom von den Goten belagert wurde, ergriffen die Bürger freiwillig die Waffen und boten ihm ihre Unterstützung an. Belisar erkannte den guten Willen freundlich an, stellte sie aber doch nicht in die Gefechtstruppe ein, da er besorgte, sie könnten es mitten im Kampf mit der Angst bekommen und das ganze Heer anstecken. Er stellte sie daher an einen Platz, wo sie bloß zu demonstrieren hatten, um durch den Schein einer Truppe einen Teil der feindlichen Kräfte abzulenken.202 Diese Versuche sind so ziemlich die einzigen, von denen wir hören, daß Römer noch wagten oder auch nur aufgeboten wurden, gegen Germanen zu streiten. Man war sich von vornherein klar, daß vor dem wilden Ansturm eines germanischen Keils oder einer germanischen Reitermasse jede noch so große römische Übermacht auseinanderstieben würde. »Je dichter das Gras, desto leichter das Mähen«, antwortete Alarich den Römern, die ihn mit ihrer großen Volksmenge einschüchtern wollten.203[313]

Die Ängstlichkeit der Legionen Cäsars, die nicht gegen Ariovist ausrücken wollen, findet sozusagen ihre nachträgliche Rechtfertigung durch die Ereignisse der Völkerwanderung, und alle Ereignisse der folgen den Jahrhunderte werden immer wieder zu betrachten sein von dem Gesichtspunkte der unermeßlichen Überlegenheit von Berufskriegern über regellose Volksaufgebote, wie sie uns abermals die Völkerwanderung in ihren nunmehr festgestellten Heereszahlen gelehrt hat.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 300-314.
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