Drittes Kapitel.

Schlacht bei Laupen.

21. Juni 1339.

[587] Als das große Haus der Zähringer ausstarb (im Jahre 1218), fiel ein Teil seiner Herrschaft an das Reich zurück, und da die Reichsgewalt sich eben damals unter dem letzten Staufen, Friedrich II., auflöste, so wurden in diesen Gebieten, an den Grenzen des Herzogtums Schwaben und des Königreichs Burgund eine Reihe von kleinen und kleinsten Herrschaften und Städten reichsunmittelbar und selbständig, darunter auch die erst kurz vorher von dem letzten Zähringer begründete Stadt Bern. Unausgesetzte Nachbar-Fehden waren die Folge des Verschwindens jeder höheren, übergeordneten obrigkeitlichen Gewalt in dem Gebirgsland, und in diesen Fehden hatte die Stadt Bern im Laufe des Jahrhunderts mancherlei Erfolge errungen, bäuerliche Gemeinden von sich abhängig gemacht und Edelleute gezwungen, mit ihrem Gebiet und ihrer Burg sich in den politischen Körper der Stadt aufnehmen zu lassen. Die Stadt hatte eine Verfassung, die für eine Eroberungspolitik besonders geeignet war: ein aristokratischer Rat, der mit dem politischen Instinkt und Herrschaftssinn der Aristokratien regierte, aber umgeben war mit einem weiteren Rat der, ohne der eigentlichen Demokratie Spielraum zu geben, doch die Regierung volkstümlich genug erhielt, um die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit an die Politik der Regierung zu fesseln und alle Kräfte in ihren Dienst zu stellen.

Das kecke und erfolgreiche Umsichgreifen der Stadt brachte endlich ihre Hauptrivalin, die nur vier Meilen entfernte Stadt[587] Freiburg, ebenfalls eine Zähringische Gründung, dazu, sich mit den umliegenden kleinen Dynasten, den Grafen von Greyerz, Neuenburg, Valengin, Nidau, Waadt, Aarburg und anderen zusammenzuschließen, um Bern zunächst das Städtchen Laupen an der Sense, nahe der Saane, wieder zu entreißen.

Den Bernern war gegenüber der großen Koalition nicht wohl zu Mute; auf ihrer Seite stand nur die Stadt Solothurn, aber ihre weitausschauende Staatskunst wußte Rat. Die bernische Erwerbspolitik war bereits in dem Oberland bis über den Brienzer See vorgedrungen und in Berührung mit Unterwalden und Uri. Seit ihrem Siege bei Morgarten genossen die Waldstätte weithin des höchsten kriegerischen Ruhmes, und Bern hatte freundliche Beziehungen zu ihnen angeknüpft; an sie wandte sich die Stadt jetzt um Hilfe und zwar um Hilfe gegen Sold; irgend ein politisches Interesse hatten die Waldstätte an der Fehde um Laupen nicht.545 Der Laupener Krieg ist daher der erste Vorläufer des später zu so großer Bedeutung emporgewachsenen schweizerischen Reisläufertums noch innerhalb der Grenzen der Schweiz selbst. Uri erhielt nach einer zufällig erhaltenen Urkunde nach dem Siege 250 Pfund Pfennige ausgezahlt. Die Stadt mit ihrer Kapitalkraft, die, wenn auch gewiß noch sehr klein, doch durch die entschlossene Regierung zum äußersten angespannt wurde, nahm die erprobte kriegerische Kraft der Bauern, die sich selber ein politisches Ziel nicht zu setzen vermochten, in ihren Dienst. Einen tieferen politischen Hintergrund,[588] wenn er auch im wesentlichen wohl nur dekorativ verwendet wurde, erhielt die Fehde dadurch, daß Bern Ludwig den Bayern nicht als Kaiser anerkennen wollte und sich zur päpstlichen Seite hielt. Ein Leutpriester, Diebold Baselwind, benutzte das, das Volk in seinem Kampfesmut zu bestärken und anzufeuern.

Über den Verlauf der Fehde und der Schlacht haben wir offenbar aus dem Kriese dieses Priesters eine ausführliche Erzählung, den Conflictus Laupensis, die sehr lebendig und anschaulich, aber freilich mit Unrecht gerühmt worden ist, daß sie auch eine hohe Leistung der kriegshistorischen Literatur sei.546 Die militärisch entscheidenden Züge sind nur ziemlich unsicher und mittelbar daraus zu entnehmen, und da die spätere Überlieferung in Justingers Berner Chronik, 80 Jahre nach dem Ereignis aufgezeichnet, offenbar stark legendarisch überwachsen ist, und von der andern Seite jedes Zeugnis zur Kontrolle fehlt, so kann man über die Schlacht bei Laupen doch schließlich nicht mit der Sicherheit sprechen, die man angesichts der großen kriegsgeschichtlichen Bedeutung, die ihr zweifellos beiwohnt, wünschen möchte.

Die Verbündeten belagerten und bestürmten das mit 600 Bernern besetzte Laupen, als endlich am zwölften Tage die Berner mit ihren Bundesgenossen zum Entsatz heranrückten (21. Juni 1339). Die Stärke des Belagerungsheeres wird im Conflictus auf 16000 Mann zu Fuß und 1000 zu Pferde, bei Justinger gar auf 30000 Mann angegeben; diese Zahlen haben natürlich nicht den geringsten Wert. Wenn die verbündeten Dynasten und die Stadt Freiburg zusammen 4000 Mann ins Feld gestellt haben, so wäre das schon recht viel; das bernische Heer wird im Conflictus auf 6000 Mann im ganzen, darunter 1000 Waldstätter, angegeben. Diese Zahl erscheint ganz glaublich,547 und auf jeden Fall ist anzunehmen, daß Bern mit seinem großen Gebiet und dem Zuzug der Waldstätte ein größeres Heer ins Feld stellen konnte als die Gegner, wo nur Freiburg mit einem gewissen Massenaufgebot auftreten konnte, während die ihm verbündeten Grafen nur mit ihren Rittern und Kriegsknechten erschienen, was immer sehr kleine[589] Zahlen sind.548 Die Siegeszuversicht dieses Heeres beruhte naturgemäß nicht in der Zahl, sondern in der kriegerisch-ritterlichen Tüchtigkeit gegenüber dem Bürger- und Bauernvolk.

Als die Berner aus dem Walde zwischen ihrer Stadt und Laupen heraustraten, auf der Höhe des Bramberges, sahen sie unter sich die Verbündeten, die ihnen ein Stück entgegengezogen waren. Obgleich die Entfernung des Schlachtfeldes von Laupen nur 2 bis 21/2 Kilometer beträgt, so konnten die Belagerten die Vorgänge von der Stadt aus doch nicht beobachten.

Die Berner schritten nicht sofort zum Angriff, sondern nahmen auf der Höhe Stellung, offenbar in dem Wunsch, die Gegner, im besondern die Ritter, ihrerseits anlaufen zu lassen und irgendwelche Terrainhindernisse für sich auszunutzen. Sie durften darauf rechnen, daß die Verbündeten entweder angreifen oder die Belagerung von Laupen aufgeben mußten, denn wenn sie die Belagerung fortsetzten, ohne erst das so nahe Entsatzheer fortgeschlagen zu haben, so setzten sie sich einem Überfall aus. Die Lage ist also ähnlich wie bei Nikopolis.

Das bernische Heer stand vermutlich in drei Gevierthaufen, die Vorhut gebildet von den Waldstättern, 1000 Mann stark, etwa 30 Mann breit und 30 Mann tief, der Gewalthaufe 3000 Mann stark, etwa 50 Mann breit und 50 Mann tief, die Nachhut 2000 Mann stark, 40 Mann breit und 40 Mann tief, vor jeden Haufen ausgeschwärmt eine Anzahl Schützen,549 dazwischen die Ritter und ihr berittenes Gefolge, die, wenn auch nur in geringer Anzahl, vorhanden waren.550[590]

Die Verbündeten trugen Bedenken, die Berner in ihrer vorteilhaften Stellung direkt anzugreifen und schickten eine Abteilung aus, eine Umgehung zu machen, während die Ritter vor der feindlichen Front paradierten und junge Herren zu Rittern geschlagen wurden. Es wurde fast Abend, bis die Umgehung vollzogen war, vor der die Nachhut der Berner sofort die Flucht ergriff. Der Gewalthaufe aber hielt dem Angriff in der Front, der nunmehr losbrach, und den die Freiburger ausführten, stand, empfing sie mit den Bolzen der Schützen und einem Steinhagel und stürzte sich dann, zur Offensive übergehend, auf sie. Vor der Wucht dieses Anpralls stoben die Freiburger auseinander. Gleichzeitig mit dem Gewalthaufen war auch die Vorhut vorgestürmt, wurde aber, sobald sie von der Höhe herunterkam, von den Rittern gepackt, zum Stehen gebracht und bald von allen Seiten eingeschlossen. Vermochten die Ritter auch nicht in den festgeschlossenen »Igel«, der ihnen allenthalben die Spieße entgegenstreckte, einzudringen, so wären die Waldstätter doch verloren gewesen, sobald die Ritter ihre Schützen heranbrachten. Aber mittlerweile hatte der Gewalthaufe der Berner bereits gesiegt; die Waldstätter hatten das Ihrige getan, indem sie die Ritter auf sich zogen, so daß die Berner es allein mit den Freiburgern zu tun gehabt hatten. Sobald sie mit diesen fertig waren, kehrten sie um, wandten sich gegen die Ritter und fielen ihnen in den Rücken. Diese konnten sich nur noch durch die Flucht retten; eine große Anzahl wurde erschlagen. Jene Abteilung der Verbündeten, die ihrerseits den Haufen der bernischen Nachhut geworfen hatte, griff nicht weiter ins Gefecht ein. Vermutlich waren die Mannschaften zu wenig in der Hand ihrer Führer oder hatten überhaupt keine wirkliche Führung und jagten den Flüchtigen nach, um Gefangene zu machen und zu plündern.

Die Schlacht bei Laupen zeigt auf Seite der Berner so viel strategische und taktische Überlegung und Führung, daß man wohl fragen mag, wer der Feldherr gewesen ist, der diese Tat getan. Die Einnahme der drohenden Defensiv-Stellung und der Übergang aus der Defensive in die Offensive erinnern wieder an Marathon, und merkwürdigerweise existiert über den bernischen Feldherrn eine ganz ähnliche Überlieferung wie über Miltiades. Die zeitgenössische Quelle, der Conflictus, erwähnt einen Feldherrn[591] allerdings überhaupt nicht, aber diese Erzählung entbehrt des militärischen Sinnes. Die Erzählung Justingers hingegen, in der freilich Sage und Geschichte nicht mehr ganz voneinander zu scheiden sind, berichtet, daß der Ritter Rudolf von Erlach den Oberbefehl geführt habe. Dieser, ein sehr reicher und angesehener Mann, war gleichzeitig Vasall eines der verbündeten Gegner, des Grafen von Nidau, und Bürger von Bern. Als die Kriegswolke heraufzog, löste er sich von seinem Lehnsherrn und stellte sich den Bernern zur Verfügung. Schon sein Vater hatte einmal die Berner im Treffen am Dornbühl (1298) kommandiert, und er selbst hatte sich in sechs »Feldstreiten wohl bewiesen«; in ihm glauben die Berner den rechten Feldherrn gefunden zu haben, »daß er sie weise und lehre, wie sie ihre Sachen anfangen und enden sollten«, »sider in kriegen wisheit besser ist denne stärki«. Erlach aber weigerte sich anfänglich, den Oberbefehl anzunehmen, weil die Bürger zu selbstbewußt seien, und der Befehlshaber, der mit Strenge durchgreifen wolle, nachher von ihrer Rache Schaden und Schande zu besorgen habe. Endlich, nach langem Bitten, kam man überein, daß die ganze Gemeinde ihm schwur, gehorsam zu sein in allen Sachen, und wenn der Hauptmann einen Ungehorsamen schlüge, sei es auch, daß er ihn dabei verwundete oder gar totschlüge, so dürften weder die Stadt noch die Freunde des Geschlagenen ihn deshalb zur Verantwortung ziehen oder Rache nehmen.

So führte Erlach den Oberbefehl, der sonst in der Hand des Schultheißen (Bürgermeisters) lag. Dieses Amt bekleidete damals Johann von Bubenberg, ebenfalls ein Ritter und von sehr angesehenem Geschlecht; sein Sohn befehligte die Besatzung von Laupen. So auffällig es ist, daß die gleichzeitige Erzählung den Oberbefehl Erlachs gar nicht erwähnt, so wird die Überlieferung doch schwerlich reine Sage sein. Für Bern stand in diesem Kriege alles auf dem Spiel, man suchte also nach dem allerbewährtesten Kriegsmann für den Oberbefehl. Auch viel später noch, in der Schlacht bei Murten, hat man, freilich aus anderen Motiven, einem Ritter den Oberbefehl übertragen und diese Tatsache nachher in den Chroniken fast ganz unterdrückt. Ich glaube deshalb, daß der Überlieferung von dem Oberbefehl des Ritters Rudolf von Erlach bei Laupen, so spät und sagenhaft sie ist, doch die Glaubwürdigkeit[592] nicht abgesprochen werden darf. Es ist ein wirklicher Feldherr, der in dieser Schlacht zu spüren ist. Wäre er zugleich der Bürgermeister gewesen: diese Persönlichkeit hätte sich in der Geschichte Berns noch ganz anders geltend gemacht. Viel eher erscheint es begreiflich, daß der Verfasser des Conflictus, der alles unter dem geistlichen Gesichtspunkt sah und für den militärischen Vorgang weder Sinn noch Verständnis hatte, den Führer zu nennen, einfach vergessen hat. Ich nehme daher keinen Anstand, den genialen Krieger, den die Kriegsgeschichte über das Feld von Laupen reiten sieht, mit dem Namen Rudolfs von Erlach zu bezeichnen. Daß er der Sieger gewesen sei, blieb den nachfolgenden Generationen im Gedächtnis, obgleich der zeitgenössische Chronist ihn nicht genannt hatte.

Der Mittelpunkt seiner Aktion ist der besondere, feierliche Gehorsam, den er sich von der Bürgerschaft schwören läßt und dem er durch die Kraft seiner Persönlichkeit auch Inhalt zu geben vermag. Als er im nächsten Jahr den Freiburgern einmal einen Hinterhalt gelegt hatte, und acht Knechte, um Pferde zu erbeuten, gegen den Befehl herausgetreten, von den Freiburgern umringt wurden, verbot er, ihnen zu helfen und ließ sie alle von den Feinden erstechen, »denn sie seien meineidige Bösewichter, denen ihre Beute lieber gewesen wäre, als die Ehre Berns«.551 So hielt er seine Mannschaft in der Hand und vermochte es bei Laupen, den Gewalthaufen aus dem Erfolge seines Sieges über die Freiburger herauszureißen und ihn der Ritterschaft in den Rücken zu führen. Ohne diese Führung wäre die Schlacht verloren gegangen, da die Ritter nach der Überwindung der Waldstätter zweifellos auch der Berner Herr geworden wären, die in ihrer Auflösung es mit Rittern nicht mehr hätten aufnehmen können.


Ich gestehe zu, daß die vorstehende Darstellung der Laupener Schlacht vielfach nur auf Vermutung beruht, nicht direkt aus den Quellen zu beweisen ist, ja in einigen Punkten mit Quellen-Aussagen in Widerspruch steht. Wenn ich dennoch wage, das Bild als ein recht wahrscheinliches zu geben, so beruht das darauf, daß in der Erzählung des Conflictus einige Widersprüche und Unerklärlichkeiten sind, die mir kaum anders als auf die oben versuchte Art aufgelöst werden zu können scheinen.[593]

Der Conflictus sagt: »Videntes Bernenses hostium multitudinem contra se esse validam omnes coadunati in unum quasi unus parvus cuneus, ad unum parvulum collem se congregantes stabant.« Diese Worte scheinen deutlich zu besagen, daß die Berner nur einen großen Schlachthaufen gebildet hätten, nicht, wie ich angenommen habe, drei. Aber schon daß die Waldstädter, wie die weitere Erzählung zeigt, einen besonderen Haufen bilden, läßt sich damit nicht vereinigen, es sei denn, daß man das Wort »Bernenses« pressen und darunter nur die Krieger aus der Stadt verstehen will.

Der Conflictus fährt fort, daß, wie der Feind angriff, 2000 Berner voll Schrecken die Flucht nahmen, einige dieser Flüchtlinge seien unbewaffnet, aber auch Krieger seien dabei gewesen. 3000 Berner aber, die die Flucht jener nicht hätten sehen können, hätten standgehalten, seien zum Angriff übergegangen und hätten die Freiburger besiegt.

Aus dieser Erzählung muß geschlossen werden, daß abgesehen von den Waldstättern, die Berner mit den anderen Zuzüglern zwei Haufen zu 3000 und 2000 Mann gebildet haben. Denn wenn das nicht war, wie hätte es geschehen können, daß die 3000 die Flucht der 2000 nicht sahen?

In der späteren Überliegerung bei Justinger ist diese Frage scheinbar beantwortet. Es heißt hier:

»Und also (so) man glich zutretten wil, do hat jederman zwen steine oder drye zu im genomen, hies der hauptman von in in die vigende werfen und damitte hinder sich tretten an den reine, umb daz si bergshalb stunden; do wonden die hindren, die vordren wölten fliechen und floch gar ein gros volk vom huffen; do si aber befunden, daz man bestund und da vor nieman zu fliechenne mut hat, do kerten si zestunt wieder zu dem strit und taten alz biderb from lüte und vachten und stritten als helde, usgenomen etlich die in den forst fluchen und nicht widerkerten; dieselben ouch iemerme forster hiessen. Man wolt si ouch darnach an lip und an gut gestraft haben, denne daz es gelassen ward, darumb daz man die vigende nit erfröwte; doch so wurden si darnach niemer me wert und musten menglichem versmecht sin und unwert. Und als nu die hindrosten fluchen, daz mocht der houptman uoch die fromen davor nit gesechen, die mitlen die es aber sachen die sprachen zem houptman: O herre, da hinder fliechend gar vil lüten von uns. Do antwurt der houptman: es ist gut daz die bösen bi den biderben nit sin; die sprüwer sind gestoben von den kernen.«

Diese Erzählung scheint zu besagen, daß es die hinteren Glieder des Gewalthaufens gewesen sind, die die Rückwärtsbewegung der vorderen, Steine versendenden Glieder mißverstanden und die Flucht genommen haben. Aber wir wäre es dann möglich, daß der Hauptmann und die Vordersten die Flucht nicht bemerkt haben? Die Flucht kann doch nicht erst begonnen haben, gerade als die Vordersten wieder Front gemacht hatten! Von zwei Dingen eins: entweder die Hinteren sind geflohen,[594] weil die Vorderen eine rückwärtige Bewegung machten – dann müssen die Vorderen es gesehen haben; oder die Vorderen haben die Flucht der Hinteren nicht gesehen, dann können sie auch nicht selbst die rückwärtige Bewegung gemacht, sondern müssen die Front nach vorn behalten haben. Streicht man aber das Motiv des mißverstandenen Zurückgehens als eine nachträglich erfundene Entschuldigung für die Flucht, so fragt es sich, wie kam es denn, daß gerade die hintersten, am wenigsten bedrohten Glieder so furchtsam waren, und sich durch das Anrücken des Feindes so erschrecken ließen?

In der Erzählung Justingers ist ein offenbarer Widerspruch, der sich aber leicht durch die Kontaminierung zweier verschiedener Quellen erklärt. Aus dem Conflictus übernahm er, daß der nachher siegreiche Haufe die Flucht der anderen nicht bemerkt, aus der mündlichen Tradition die Entschuldigung, daß sie eine Rückwärtsbewegung von Steinwerfern für Flucht gehalten.

Verständlich aber wird die Erzählung erst, wenn man annimmt, daß es sich um zwei verschiedene Haufen handelt, von denen der eine, der die Flucht ergriff, so weit seitwärts hinter dem anderen stand, daß er von diesem nicht gesehen wurde.

Hinzu kommen zwei andere Momente. Im Conflictus wird erzählt, daß der Leutpriester Baselwind, der das Heer mit der Hostie begleitete, in die Hand der Feinde gefallen und von ihnen verhöhnt worden sei. Wie soll das geschehen sein? Wäre der Priester als Unterhändler hinübergeschickt und dort völkerrechtswidrig festgehalten worden, so hätte der Erzähler uns das nicht verschwiegen. Die einzig mögliche Erklärung scheint mir zu sein, daß er bei den »Unbewaffneten« war, die die Flucht nahmen, also beim Troß; daß also bei diesem, d.h. hinter dem Gewalthaufen Feinde erschienen sind. Da nun nicht bloß der Troß, sondern auch eine große Zahl Krieger an dieser Flucht teilgenommen haben, so muß es sich um eine besondere Abteilung handeln, nicht um die hinteren Glieder des Gewalthaufens, der ja, selbst angegriffen in Flanke oder Rücken, nicht zum Angriff auf die Freiburger hätte vorgehen können.

Erst wenn wir einen gesonderten Haufen annehmen, erklärt sich auch die bestimmte Angabe unsrer Quelle, daß der Geflohenen 2000 Mann gewesen seien. Hätte der Erzähler die Zahl bloß geschätzt, so würde er sie sicherlich entweder überhaupt nicht angegeben oder geringer gegriffen haben, denn wir sehen, wie er sich Mühe gibt, den unangenehmen Vorgang durch die Wendung, wir dürfen dreist sagen Fiktion, die meisten seien wieder in den Kampf zurückgekehrt, in möglichst mildem Licht erscheinen zu lassen. Nur daß ein ganzer Haufe von bestimmter und bekannter Stärke sich schuldig gemacht hatte, kann den Eindruck gemacht haben, um einen Erzähler, dem direkte Unwahrheit fernlag, zu der positiven Angabe der Stärke zu nötigen. Bei Justinger ist die Zahl bereits fortgefallen, und statt dessen das entschuldigende Motiv dazugekommen,[595] sie hätten die Bewegung der Steinwerfer für eine Flucht gehalten. Justinger selbst scheint es auch schon nicht mehr gewußt zu haben, daß es die ganze Nachhut gewesen war, die sich der schimpflichen Flucht schuldig gemacht hatte; auch er las bereits aus dem Conflictus heraus, daß es die hinteren Glieder des Gewalthaufens gewesen seien, und suchte nun die Erzählung im Conflictus, der Haupthaufe habe die Flucht nicht bemerkt, mit der legendarischen Erzählung von den Worten des Hauptmanns, »es ist gut, daß die Spreu sich vom Weizen gesondert hat« durch die Einschiebung von den Mittleren, die die Meldung tun, auszugleichen.

Schon der Conflictus berichtet, und Justinger hat das weiter ausgemalt, daß die Freiburger Verbündeten nicht gleich angriffen, sondern vor der Front der Gegner »große Hoffahrt trieben, Ritter machten und sich feindlich gebärdeten«. Ferner sagt er ausdrücklich, daß die Schlacht erst am Abend »nach Vesperzeit« geschlagen wurde. Diese Tatsache bedarf notwendig einer Erklärung. Es kommt ja vor, daß zwei Heere einander gegenüberstehen, und jedes den Angriff des anderen erwartet. Hier aber war es völlig klar, daß die Freiburger, wenn sie nicht den Rückzug antraten, angreifen mußten. Zögerten sie damit, so drückte das auf die Moral ihrer Truppen, die sahen, daß ihre Führer die gute Stellung der Berner scheuten, und überdies konnte die Besatzung von Laupen jederzeit bemerken, was vor sich ging, einen Ausfall machen und im Rücken der Verbündeten erscheinen.

Offenbar hat die Pause trotzdem ziemlich lange gedauert: sie erklärt sich, wenn mittlerweile eine detachierte Abteilung eine Umgehung machte, und die Führer waren geschickt genug, die Pause im Interesse der Moral ihrer Krieger mit allerhand Spiel ausfüllen zu lasen.

Am Schluß seiner Erzählung hebt Justinger noch hervor, daß die geschlagenen Ritter in verschiedenen Richtungen geflohen seien, die Deutschen abwärts von Laupen über die Saane, die Wälschen oberhalb Laupen über die Sense. Eine solche Divergenz in der Fluchtrichtung läßt darauf schließen, daß schon im Gefecht verschiedene Richtungen vorhanden waren, mit andern Worten, die eine Abteilung war das ursprüngliche Umgehungskorps.

Wie ist nun aber die positive Aussage im Conflictus, daß die Berner in einem Haufen gestanden hätten, zu erklären? Der Erzähler ist ein mangelhafter Lateiner. Das »unus« ist ihm also nur als Übersetzung des deutschen unbestimmten Artikels in die Feder geflossen, so wie er unmittelbar darauf »ad unum parvulum collem« schreibt, wo er gewiß nicht besonders betonen will, daß es ein Hügel gewesen, auf oder an dem die Berner gestanden.552 Das feindliche Heer wird weit ausgebreitet gewesen sein; dem gegenüber will der Erzähler den geringfügigen, geschlossenen Haufen der Berner betonen und unterläßt zu erwähnen, daß[596] sie in drei Haufen gegliedert waren, so wie er ja auch den, unzweifelhaft vorhandenen, besonderen Haufen der Waldstätter nicht erwähnt. Der Berichterstatter, der selbst dabei war und es dem Verfasser des Conflictus erzählt hat, stand natürlich ganz unter dem Eindruck des siegreichen Gewalthaufens und sprach nur von diesem. Der Aufzeichner aber war ein Geistlicher, der nicht soviel militärisch-kritischen Sinn hatte, um vor Mißverständnissen sicher zu sein, besonders bei Zügen, die ihn nicht interessierten. Daß die 3000 die Flucht der 2000 nicht bemerkt haben, das ist die Tatsache, die wir als ganz sicher aus ihm entnehmen dürfen, ob die Berner einen oder zwei oder drei »geringfügige Haufen« bildeten, wird ihm selber nicht klar gewesen sein.

Daß das schuldige Korps die Nachhut war, schließe ich aus einer Erzählung bei Justinger, es sei anfänglich Zwist um den Vorstreit gewesen, den dann schließlich die Berner den Waldstättern überlassen hätten. Einen solchen Streit im eigentlichen Sinne kann es nicht gegeben haben, da die Berner ja nicht angreifen, sondern eine Defensivstellung einnehmen wollten. Die Erzählung wird die legendarische Umgestaltung der Tatsache sein, daß die Vorhut aus den Waldstättern gebildet wurde, der nach der Stellung, die den drei Haufen gegeben wurde, die wir aber im einzelnen nicht mehr erkennen können, voraussichtlich der Kampf mit dem Hauptteil der Ritterschaft zufallen mußte.

RÜSTOW in der Geschichte der Infanterie I, 154 hat aus der Erzählung Justingers über das Steinwerfen und den Rückzug ein besonderes Manövrieren erschließen wollen. Er meint, als das einfliche Fußvolk sich anschickte, zum Angriff vorzugehen, habe Erlach bemerkt, daß er »vergessen habe«, sich des Vorteils der Überhöhung zu versichern und deshalb seine »Phalanx« Kehrt machen und etwa 100 Schritt den Abhang hinaufrücken lassen, um den Anlauf von oben zu haben. Diese Auslegung scheint mir in jeder Beziehung unmöglich. Die Worte Justingers sind freilich sehr unbestimmt, aber auf keinen Fall besagen sie, daß das ganze Fußvolk eine rückwärtige Bewegung machen sollte, und eine solche Bewegung angesichts eines anrückenden Feindes ist auch wohl nur für die allerbest disziplinierten Truppen ausführbar und für ein Volksaufgebot ebensowenig glaublich, wie daß der Feldherr erst, als das Heer bereits aufmarschiert ist, bemerkt haben soll, daß 100 Schritte rückwärts eine bessere Stellung sei.

Als Beleg, wie schnell die wirkliche historische Tradition sich verwischt und phantastisch wird, mag noch angeschlossen werden, daß Tschudi553 den Schweizern bei Morgarten Wurfspieße gibt, die sie nie hatten, und bei Laupen gar eine Art Sichelwagen, »denn si hattend ysin hörwagen lassen machen, die stißends ungestümlich den Vienden ir Ordnung. Dieselben Wägen warend gemacht, daß sie nit wider hinder sich gan möchtend hiermit zertrentend sie den Vienden Ir Ordnung und brachtends in die Flucht.«[597]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 587-598.
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