[656] Nach der Schlacht bei Alalia, erzählt Herodot, wurden die Gefangenen unter die Sieger verteilt. Die Bewohner von Caere führten den ihnen zugefallenen Teil auf einen Platz vor die Stadt und steinigten sie. Als zur Strafe dafür die Stadt von schlimmen Zeichen heimgesucht wurde, wandte man sich um Sühne nach Delphi. Der Gott befahl die Vollziehung von Totenopfern für die Erschlagenen und die Einführung gymnischer Spiele und eines Wettrennens. Dieser Bericht ist typisch für die Entwicklung Etruriens; er zeigt, wie trotz des erbitterten Gegensatzes der Nationalitäten der griechische Einfluß ständig zunahm. In weitem Umfang erscheint das Leben in den Etruskerstädten wie eine Kopie der griechischen Zustände. Die griechischen Spiele wurden [656] von den etruskischen Adligen mit Eifer betrieben; Wagenrennen, Ringkämpfe, Wettlauf, Schaustellungen der waffenfähigen Jugend wurden in Etrurien ebenso heimisch wie in Griechenland, vielfach sind sie in den Gräbern und auf Tongefäßen abgebildet. Nicht minder wurden die Festzüge zu Ehren des Dionysos mit ihren Scherzen und Masken übernommen. Die etruskische Dynastie hat diese Feste in Rom eingeführt. Der Zirkus für die Wagenrennen gilt als Bau des ersten Tarquinius960; der vorhergehende Festzug, bei dem die ganz nach griechischer Art (o. S. 543) als Silene und Satyrn verkleideten Possenreißer so wenig fehlen durften wie die Musikanten, führt den Namen »pompa«961, der in ähnlicher Weise gestaltete Einzug des siegreichen Königs in die Stadt heißt »triumphus«, d.i. griechisch »dithyrambos« – man sieht, wie völlig die etruskischen Vorbilder Roms in Form und Namen von Griechenland abhängig waren; auch der Preis des Siegers im Wett rennen ist wie in Griechenland ein Kranz. Ebenso fand die griechische Musik in Etrurien Eingang; die griechische Doppelflöte erschallt bei den Banketten des Adels, ein Bronzespiegel aus Volsinii zeigt den Helden Caeles Vibenna mit seinem Bruder Aulus einem jungen Sänger (also einem Kitharöden) zuhörend, den ein Zitherspieler begleitet. Auch die Stoffe des griechischen Gesangs sind den Etruskern ganz geläufig geworden. Wer die unzähligen Darstellungen etruskischer Gräber und Vasen betrachtet, welche Szenen der griechischen Epen mit allem Detail wiedergeben, wird nicht zweifeln, daß den Etruskern nicht nur ihr Inhalt, sondern auch ihr Wortlaut ganz vertraut gewesen ist; offenbar hat wie später die römische, so vorher die etruskische Literatur mit einer Übersetzung der griechischen Epen begonnen. Daran mag eine einheimische Literatur angesetzt haben, welche die fremden Stoffe weiterbildete und heimische, wie die Sage von Caeles Vibenna, hinzufügte; doch kann sie großen Umfang nach Ausweis der Denkmäler nicht gehabt haben962. – Von der griechischen Einwirkung [657] auf die Religion wurde schon geredet. Alle griechischen Götter erscheinen in Etrurien unter eigenem Namen oder, wie Zeus, Dionysos, Hephästos, Athene u.a., identifiziert mit einheimischen Gestalten. Über die Toten regieren Hades und Persephone, der Fährmann Charon wird der Todesgott. Den Einfluß Delphis zeigt die Geschichte von Caere; wie Spina (o. S. 634) hat auch Caere ein Schatzhaus in Delphi erbaut (Strabo V 2, 3). Nach Olympia hat der Etruskerkönig Arimnestos seinen Thron geweiht (Pausan. V 12, 5). Daß endlich in der Kunst die griechische Einwirkung nicht unterbrochen wurde, bedarf kaum der Bemerkung. Die orientalisierenden Gestalten der korinthischen Vasen sind in der etruskischen Dekoration immer herrschend geblieben (vgl. o. S. 489). Aber daneben finden sich alle Darstellungen, welche in der griechischen Kunst aufkommen, auch in Etrurien, Szenen aus der Mythologie wie aus dem täglichen Leben, Grabstelen mit dem Bilde des Kriegers zu Roß oder zu Fuß (ebenso in den umbrischen Gräbern von Bologna), Abschiedsszenen und Darstellungen des Totenmahls und ähnliches. Besonders stark tritt mehrfach der Einfluß Ioniens hervor. So findet sich sehr häufig die ionische Säule, mit mannigfachen Variationen, und manche Gräber, z.B. das sogenannte Pythagorasgrab bei Cortona, zeigen dieselben Formen wie das »Grab des Tantalos« in Smyrna.
Aber die Etrusker sind nicht nur Nachahmer gewesen; auf mehr als einem Gebiete haben sie das Fremde selbständig verarbeitet und Eigenes hinzugetan. In der Metallarbeit haben sie ihre aus heimischen Ansätzen erwachsene Meisterschaft zu allen Zeiten bewahrt; den etruskischen, mit mythologischen und ähnlichen Darstellungen verzierten Metallspiegeln z.B. und ebenso manchen Schmucksachen haben die Griechen nichts Gleichartiges an die Seite zu setzen. Desgleichen haben die Etrusker im Städtebau Hervorragendes geleistet. Die Entwicklung des Mauerbaus in Italien, des Polygonalstils wie des Quaderbaus, läuft dem griechischen parallel; aber in dem in Griechenland wenig entwickelten [658] Gewölbebau stehen die Etrusker auf eigenen Füßen; die Torbogen, die Anlage großer gewölbter Abzugskanäle (z.B. der Cloaca maxima in Rom u.ä.) sind hervorragende Schöpfungen ihrer Baukunst. Die Straßen sind breit und geradlinig, durchweg gepflastert, mit tiefen Rinnsteinen und Steigen für die Fußgänger zu beiden Seiten. Breite auf den Fahrdamm gelegte Steine schaffen einen bequemen Übergang. Die einzelnen Häuser sind meist isoliert, zwischen den Hausmauern laufen Abzugsgräben; durch umfassende Kanalisation ist für die Reinlichkeit und Entwässerung der Städte gesorgt963. – Neben diesen materiellen Leistungen stehen die geistigen Fortschritte freilich sehr zurück. Die etruskische Kultur ist eben nicht innerlich durchgebildet, nicht von dem ahnungsvollen Drängen eines kräftigen Volkstums getragen, sondern sie hat sich die Errungenschaften anderer Völker zu eigen gemacht, äußerer Glanz und reicher Lebensgenuß sind die Bedürfnisse, die sie befriedigen soll. Auch in der Kunst fehlt ihr daher die Seele, die warme innige Empfindung; so genau sie die griechischen Vorbilder kopiert, ihre Gestalten bleiben plump und kalt, auch als sie die tastenden Versuche der archaischen Epoche längst hinter sich hat; ein unschöner Realismus gewinnt die Herrschaft. In der Religion gelangt daher der Hang zum Formalismus zu voller Ausbildung; was ein Kulturvolk durch angestrengtes Ringen der Gedanken sich zu erarbeiten sucht, ohne es je erreichen zu können, das leistet der Halbkultur bequem und mühelos die Negation des Denkens, die stumpfsinnige Regel. Je absurder, um so willkommener ist sie; wenn sie peinlich beobachtet wird, ist der Wille der weltbeherrschenden Mächte erfüllt und ihre Gnade gewonnen. So beherrscht das Ritual alle Seiten des religiösen Lebens; die Lehren von der Eingeweide- und Blitzschau, vom Vogelflug, von der Abgrenzung des »Templum«, von der Folge der menschlichen Geschlechter [659] (saeculum), von den Götterzyklen werden bis ins kleinste Detail ausgebildet. Auch die Spiele sind Götter- und Totenfeste, die genau nach der Regel abgehalten werden müssen; jedes Versehen macht eine Wiederholung der ganzen Feier (instauratio) nötig. Die etruskische Weisheit gilt als Offenbarung des wunderbaren Knaben Tages, eines Sohnes des Genius, Enkels des Juppiter. Mit grauen Haaren kam er zur Welt, ein Ackersmann von Tarquinii pflügte ihn aus der Erde her aus; da offenbarte er dem zusammenströmenden Volke seine Weisheit und starb dann sofort. Unter seinem Namen gehen die heiligen Bücher der Etrusker, die vielleicht erst in den folgenden Jahrhunderten aufgezeichnet sind, aber in ihren Anfängen gewiß ins 6. Jahrhundert hinaufragen. – Neben dem Ritualismus tritt die Kehrseite einer derartigen Kultur, die düstere Auffassung der Religion und die Neigung zur Grausamkeit, auch in Etrurien drastisch hervor. Charon, dessen Namen man den Griechen entlehnte, ist ein Greis von abschreckender Häßlichkeit, mit fletschenden Zähnen und langen Ohren, der mit dem Hammer seine Opfer erschlägt; neben ihm erscheint ein anderer, Schlangen gegen seine Opfer aussendender Totengott. Auch in die Darstellung griechischer Sagen werden diese Gestalten eingeflochten, so in den Abschied der Alkestis von Admetos; Theseus und Peirithoos werden in der Unterwelt von dem Dämon Tuchulcha gepeinigt, einem Schreckgespenst mit Vogelschnabel, Eselsohren und Schlangenhaaren. Ansätze zu derartigen Vorstellungen finden sich auch in Griechenland, aber hier sind sie von der harmonisch fortschreitenden Ausbildung der Kultur überwunden worden. Die Darstellungen der etruskischen Gräber und Sarkophage enthalten mit Vorliebe blutige Szenen, Kämpfe und Mordtaten, das Opfer der trojanischen Gefangenen für die Seele des Patroklos u.ä. Das ist ein Ersatz für alte Menschenopfer bei der Bestattung964. Auch im Leben verbindet sich die Befriedigung des Sinnenkitzels und der Wollust mit dem Hang zu Blutvergießen und Grausamkeit. Je mehr Erfolge die etruskische Nation erringt, [660] je weiter ihre Macht sich ausbreitet, desto stärker treten diese Züge hervor. In Etrurien hat sich keine innere Fortentwicklung der Nation vollzogen, die Herrschaft des Adels über die rechtlosen Massen ist wohl einmal angetastet, aber niemals gestürzt worden; und wenn der etruskische Adel in der Blütezeit der Nation, im 6. Jahrhundert, noch tapfer und tatkräftig war, so ist er in der Folgezeit in Wohlleben und stumpfen Sinnengenuß versunken. So hat die etruskische Kultur trotz allen Glanzes doch immer einen barbarischen Charakter behalten. Beides, die Neigung zu wollüstiger Grausamkeit und der finstere Aberglaube, verbindet sich in den Gladiatorenspielen zu Ehren der Verstorbenen – einer etruskischen Erfindung, die wahrscheinlich in der Üppigkeit Capuas zuerst aufgekommen ist und bestimmt war, einmal der Ausdruck der italischen Weltherrschaft und das Wahrzeichen zu werden, daß die griechische Kultur durch die römische Halbkultur ersetzt sei.
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