Hellespontischer Krieg. Erfolge und Rückkehr des Alkibiades

[305] Die inneren Wirren in Athen und die Zerreißung des Staates in zwei feindlich sich gegenüberstehende Lager boten der Koalition, die gegen Athen im Felde stand, die Möglichkeit, zum entscheidenden Schlage auszuholen. Hermokrates, der Feldherr der Syrakusaner, drängte mit allem Eifer darauf hin, ebenso Dorieus und die Thurier; aber sie allein waren zu schwach, um etwas durchzusetzen. Die Entscheidung lag bei Tissaphernes. Wenn er die 147 phönikischen Schiffe, die sich inzwischen bei Aspendos in Pamphylien gesammelt hatten, herbeiholte, so konnte er mit den Peloponnesiern zusammen die Athener auf Samos erdrücken, falls sie nicht vorher eiligst in die Heimat entflohen. Aber der Satrap wollte nicht; er war ganz für die Politik gewonnen, die Alkibiades ihm riet – die natürlich von dem, was dieser selbst erstrebte und was er den Athenern in Aussicht stellte, wesentlich verschieden war –; er mißtraute den Spartanern mindestens ebensosehr wie den Athenern und wollte sie zwar nicht fallen lassen – deshalb ließ er ihnen von Zeit zu Zeit Geld zukommen, wenn auch nie den vollen Betrag der versprochenen Löhnung –, aber ebensowenig ihnen den Sieg verschaffen; so glaubte er sein Ziel, die Gewinnung der Küsten und Inseln für Persien, am besten zu erreichen. Im Hochsommer ging er nach Aspendos, angeblich um die Flotte selbst zu holen, und verhandelte hier wochenlang einerseits mit Alkibiades, anderseits mit den spartanischen Abgesandten; das Resultat war, daß er die Flotte als unbrauchbar [305] nach Hause schickte273. Durch dies Verhalten legte er die Kraft seiner Verbündeten vollständig lahm. Auf die Kunde von den Wirren auf Samos hatte Astyochos im Juni mit seinen 112 Schiffen noch einmal einen Angriff versucht; aber die Athener und Samier blieben einig und riefen überdies, um den Feinden gewachsen zu sein, den Strombichides (s.S. 278) schleunigst vom Hellespont zurück. Damit brachten sie ihre Flotte wieder auf 108 Schiffe; und dagegen wagte Astyochos die Schlacht nicht. Monatelang blieb er untätig in Milet liegen. Da jetzt auch die persische Löhnung fast völlig ausblieb, wuchs der Unwille ständig; so sehr die folgenden Kämpfe beweisen, daß Astyochos mit seiner Zurückhaltung recht hatte, seine Truppen sahen darin nur Feigheit und Verrat und beschuldigten ihn, von Tissaphernes bestochen, den günstigen Moment verpaßt zu haben. Es kam zu offenen Konflikten mit den Syrakusanern und Thuriern, bei denen der Admiral beinahe gesteinigt worden wäre. Auch die Milesier erhoben sich, trotz des Einspruchs des Lichas (s.S. 275f.), gegen die persische Herrschaft und überfielen die Zwingburg, die Tissaphernes in der Stadt gebaut hatte. Schließlich traf gegen Ende des Sommers Astyochos' Nachfolger Mindaros ein. Er überzeugte sich alsbald, daß von Tissaphernes nichts mehr zu hoffen sei; so entschloß er sich, dem immer erneuten Drängen des Pharnabazos zu folgen und den Kriegsschauplatz an den Hellespont zu verlegen.

Solange die feindliche Flotte bei Milet lag, hatten auch die Athener ihre ganze Macht bei Samos konzentrieren müssen. Den Krieg gegen Chios hatten sie aufgegeben, wenn sie auch das Kastell Delphinion noch bis 407 besetzt hielten, den Versuch, Abydos wieder zu unterwerfen (s.S. 278), nicht wiederholen können. So war der Norden im wesentlichen sich selbst überlassen. Derkylidas mit seiner kleinen Landmacht und Pharnabazos konnten nicht viel ausrichten; die Städte, meist unbefestigt und wehrlos gegen einen Angriff zur See, wagten auf eigene Hand nicht, sich zu rühren. Wenn aber die peloponnesische Flotte endlich in diesen Gewässern erschien, [306] war auch hier ein allgemeiner Abfall zu erwarten; und das war um so verhängnisvoller für Athen, da dann nicht nur seine Besitzungen in Asien fast sämtlich verloren, sondern auch die Seestraße, auf der es den Hauptteil seines Brotkorns bezog, in den Händen der Feinde war. Schon im Sommer 412 hatte Astyochos 40 Schiffe nach Norden senden wollen; aber die Mehrzahl wurde durch Sturm zurückgeworfen, nur 10 unter dem Megarer Helixos erreichten ihr Ziel. Sie genügten, zumal als kurz darauf der Spartaner Klearchos als designierter Vogt auf dem Landwege eintraf, um Byzanz zum Abfall zu bringen. Chalkedon und die Städte in Thrakien folgten alsbald seinem Beispiel. Ein attisches Geschwader von 18 Schiffen, das von Samos abgeschickt wurde, konnte nicht viel ausrichten, sondern nahm bei Sestos Stellung; ihnen gegenüber lagerten sich 16 weitere peloponnesische Schiffe, die Mindaros entsandt hatte, bei Abydos. Darauf brach Mindaros mit dem Gros der Flotte von Milet, 73 Trieren – 13 unter Dorieus274 ließ er zur Deckung von Rhodos gegen Alkibiades, der im Süden mit ebensoviel Schiffen operierte, zurück –, nach Chios auf und gelangte von hier längs der Küste glücklich bei Nacht nach der Mündung des Hellesponts, während Thrasylos und Thrasybulos, die sofort von Samos aufgebrochen waren, ihm mit 67 Schiffen an der Seeseite von Lesbos auflauerten und das abgefallene Eresos belagerten. Das attische Geschwader bei Sestos entkam unter Verlust von 4 Schiffen mit Mühe auf die offene See. Aber am nächsten Tage trafen Thrasylos und Thrasybulos auf dem Kriegsschauplatz ein; fünf Tage danach kam es in den Gewässern des Hellesponts bei dem Vorgebirge Kynossema südlich von Sestos zu einer großen Seeschlacht von 76 attischen gegen 86 peloponnesische und syrakusanische Schiffe. Der Kampf war hart umstritten; die attische Flotte wurde zerrissen und ihre Mitte aufs Land geworfen. Aber auf beiden Flügeln behaupteten sich die Athener, und die feindliche Mitte geriet beim siegreichen Vordringen in Verwirrung; so endete der Tag mit dem Siege [307] Athens. 21 Schiffe der Feinde waren genommen, dafür allerdings 15 eigene verloren275. Gleich darauf wurde Kyzikos, das auf die Kunde vom Eintreffen des Mindaros abgefallen war, wieder unterworfen und weitere 8 Schiffe der Feinde, die von Byzanz herbeikamen, genommen. Es war nach drei Jahren der erste Erfolg Athens, der Vorbote einer besseren Zukunft; kurz nach der Niederlage bei Oropos und dem Verluste Euböas traf die frohe Botschaft in der Stadt ein (Oktober 411).

Nach der Schlacht bei Kynossema zogen beide Parteien Verstärkungen heran276. Agesandridas führte die siegreiche Flotte von Euböa herbei, freilich nach schweren Verlusten durch einen Sturm am Athos, und schlug den Thymochares, seinen Gegner in der Schlacht bei Oropos, der ihm mit wenigen Schiffen folgte. Dann [308] traf Anfang November Dorieus von Rhodos her mit 14 Schiffen ein; aber er mußte sich vor den Athenern bei Rhöteon aufs Land zurückziehen. Mindaros suchte ihn von Abydos aus, wo er mit seiner Flotte lag, zu befreien. Bis zum Abend schwankte der Seekampf unentschieden hin und her; da kam Alkibiades, der inzwischen Kos befestigt und in Halikarnaß eine starke Kontribution erhoben hatte, mit 18 Schiffen heran. Dieser Verstärkung waren die Peloponnesier nicht mehr gewachsen; sie mußten auf das Ufer flüchten. Pharnabazos, der an der Küste stand, unterstützte sie mit seinen Truppen, so viel er konnte, und rettete auch einen Teil der Schiffe; aber 30 wurden die Beute der Athener. Damit war die Aussicht gewonnen, den Krieg erfolgreich fortzusetzen; an eine volle Ausnutzung des Sieges freilich konnte man nicht denken. Denn zunächst und vor allem brauchte man dringend Geld. Athen, wo der Schatz jetzt bis auf geringe Reste erschöpft war, konnte nichts mehr hergeben277, und die von Kyzikos erhobene Kontribution sowie die Gelder, die Alkibiades mitbrachte, reichten nicht weit. So ging die Mehrzahl der Strategen ins Agäische Meer, um bei den Untertanen Gelder einzutreiben; nur 40 Schiffe blieben in Sestos zurück. Thrasylos begab sich nach Athen, um Verstärkungen zu holen; Alkibiades aber wandte sich aufs neue an Tissaphernes. Diesem war die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, doch sehr unangenehm: die peloponnesische Flotte hatte sich seinem Machtbereich entzogen und unterstützte jetzt seinen Rivalen; wie Milet (s.S. 306) hatte auch Knidos seine Garnison verjagt, ebenso Antandros, am Südfuß des Ida. So begab er sich von Aspendos auf den Kriegsschauplatz, um die Verbindung mit den Peloponnesiern wiederanzuknüpfen. Alkibiades wurde aufs unfreundlichste empfangen und in Sardes gefangengesetzt: der König, behauptete Tissaphernes, gebiete, den Krieg mit Athen weiterzuführen. Damit waren die Hoffnungen, um derentwillen man Alkibiades zurückberufen hatte, als [309] eitel erwiesen. Aber inzwischen hatte er den Athenern neues Zutrauen eingeflößt und seine Stellung bei ihnen gefestigt. Nach 30 Tagen (etwa Ende Januar 410) gelang es ihm, nach Klazomenä zu entkommen und mit 5 Trieren an den Hellespont zurückzukehren.

In Athen hatte man versucht zu helfen, so gut man konnte278. Thrasylos übernahm das Kommando in der Stadt und wies einen Angriff des Agis zurück, der wieder einmal den Versuch machte, Athen zu überfallen, aber die Schlacht, die Thrasylos ihm vor den Mauern bot, nicht annahm279. Theramenes ging mit etwa 30 Schiffen gegen Euböa vor, das jetzt zur See nicht mehr gedeckt war. Aber die Böoter kamen den Euböern zu Hilfe; um den Athenern die Fahrt durch den Sund zu sperren, wurde der Euripos an der schmalsten Stelle, bei Chalkis, durch Dämme noch weiter bis auf einen schmalen, für Feinde unpassierbaren Meerarm eingeengt. Theramenes war viel zu schwach, um etwas dagegen tun zu können; aber er plünderte die feindlichen Küsten, trieb von den Bündnern Kontributionen ein und stellte überall im Bereich der attischen Macht die Demokratie wieder her, so auf Paros. Dann unterstützte er Archelaos von Makedonien bei einem Angriff auf die rebellische Stadt Pydna und verband sich schließlich mit Thrasybul, der an den thrakischen Küsten Geld eingetrieben und die Operationen gegen Thasos (s.S. 325) unterstützt hatte280. Hier traf sie ein dringendes Hilfsgesuch aus dem Hellespont. Mindaros hatte die Pause benutzt, um seine Flotte in Abydos zu reparieren, und war zu Ende des Winters mit überlegener Macht, 60 Schiffe gegen 40, gegen die Athener in Sestos vorgegangen; nur durch schleunige Flucht auf die andere Seite der Chersones, nach Kardia, hatten diese sich retten können. Hier stieß Alkibiades zu ihnen; und jetzt fand er zum [310] ersten Male die Gelegenheit, seine militärische Begabung und damit die Berechtigung seiner Ansprüche auf die führende Stellung zu erweisen. Mindaros hatte nach Verdrängung der Athener aus dem Hellespont sich seiner Hauptaufgabe, der Eroberung der attischen Städte, zugewandt und mit Pharnabazos zusammen Kyzikos aufs neue besetzt. Alkibiades folgte ihm sofort; im Hellespont stießen Thrasybul und Theramenes zu ihm, so daß jetzt 86 Schiffe vereinigt waren. Die Bewegungen wurden sorgfältig geheimgehalten, und es gelang in der Tat, Mindaros vollständig zu überraschen und seiner Flotte, die auf hoher See manövrierte, den Rückzug nach der Stadt zu verlegen. Trotz tapferer Gegenwehr wurde sie von der feindlichen Übermacht völlig überwältigt. Mindaros flüchtete ans Land. Aber schon waren auch die Athener gelandet: es entspann sich ein heftiger Landkampf, in dem Mindaros fiel. Die Mannschaften wurden durch Pharnabazos größtenteils gerettet, aber die gesamte Flotte ward die Beute der Athener; nur die Syrakusaner haben ihre Schiffe selbst verbrannt (März 410)281. Die unmittelbare Folge des Sieges war, daß Kyzikos von den Feinden geräumt wurde und sich aufs neue an Athen ergab. Alkibiades erhob noch einmal eine schwere Kontribution, trat aber sonst hier wie überall möglichst schonend auf, um die Sympathien der Bevölkerung wieder für Athen zu gewinnen.

So hatte der Versuch der Verbündeten, Athen das Gebiet der Meerengen zu entreißen, mit der Vernichtung ihrer ganzen, mit so großer Mühe aufgebrachten Flotte geendet; Astyochos' vorsichtiges Verhalten im Jahre vorher, das Vermeiden jeder Schlacht, bei der er nicht ein zweifelloses Übergewicht besaß, war nachträglich als berechtigt erwiesen. Alkibiades konnte darangehen, die hellespontische [311] Provinz wiederzuerobern. Nachdem er dem Heere 20 Tage wohlverdienter Ruhe gegönnt hatte, ging er nach Thrakien hinüber. Perinthos unterwarf sich, Selymbria zahlte wenigstens eine Kontribution. Byzanz und Chalkedon blieben feindlich; aber Alkibiades besetzte Chrysopolis (Skutari) an der Mündung des Bosporos und stationierte hier 30 Schiffe unter Theramenes und Eumachos. Dadurch gewann Athen die Verbindung mit dem Schwarzen Meer und die Einfuhr des pontischen Getreides zurück; von den durchpassierenden Schiffen erhob die attische Besatzung einen Sundzoll von 10 Prozent der Waren. – Es ist begreiflich, daß durch die Niederlagen in Sparta die Friedenspartei wieder das Übergewicht erhielt. Trotz aller Anstrengungen schien Athen selbst im Bunde mit Persien nicht zu überwältigen. König Agis klagte, daß die Besatzung von Dekelea nutzlos sei, solange Athen überseeisches Getreide in Fülle erhalte; der Versuch aber, ihm die Verbindung mit den Getreideländern abzuschneiden und seine Seemacht zu brechen, war gescheitert. Eine spartanische Gesandtschaft unter Endios, der schon im Jahre 420 mit Athen verhandelt hatte (s.S. 189), dann aber als Ephor 412 die Hauptstütze des Alkibiades gewesen war, bot Frieden auf den status quo unter Zurückziehung der spartanischen Besatzung aus Dekelea und der athenischen aus Pylos (und Kythera) und Austausch der Gefangenen. Die Gemäßigten, klar erkennend, daß mehr nicht zu erreichen war, waren sehr bereit, darauf einzugehen; mußte man doch froh sein, daß Athen, das noch vor einem halben Jahre von Sparta wiederholt abgewiesen war und rettungslos verloren schien, jetzt einen Frieden erreichen konnte, der ihm immer noch den Hauptteil seines Reiches ließ. Daß seine Kräfte zur Zeit nicht ausreichten, um Euböa und die verlorenen Besitzungen in Ionien wiederzuerobern, mußte jeder Verständige sich sagen, und ebenso, daß falls der Friede nicht von Dauer sein sollte, jedes Jahr der Ruhe unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein unschätzbarer Gewinn war. Aber die Gemäßigten hatten das Heft nicht mehr in Händen. Die Erfolge der letzten Monate hatten den Radikalen wieder Oberwasser gegeben, Theramenes, der vielleicht mäßigend hätte einwirken können, stand bei der Armee, Alkibiades dagegen, der nur im Kriege sein Ziel erreichen konnte, hat zweifellos seinen [312] Einfluß für die Ablehnung der Anerbietungen in die Waagschale geworfen. Er hoffte in der Tat, daß es ihm, nachdem Spartas Widerstandskraft zur See gebrochen war, gelingen werde, auch Persien zum Frieden zu zwingen; und auf ihn und die unerhörten Leistungen, die er vollführen könne, hofften die Massen. Sie hatten, wie es unentwegten Radikalen geziemt, nichts gelernt und nichts vergessen; jetzt, wo die Aussicht auf neue Siege winkte, wo die Beute und die wiedereinhergehenden Steuern der Bündner die Möglichkeit gaben, die Versorgung der Menge auf Staatskosten wiedereinzuführen, war ja alles gut, man mußte nur ohne Bedenken auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen. An der Spitze der Volkspartei stand der Leierfabrikant Kleophon, der echte Nachfolger des Kleon und Hyperbolos. Ob das Stimmrecht dem Namen nach noch auf die »Fünftausend« beschränkt oder bereits wieder allen Bürgern zugebilligt war, wissen wir nicht. Jedenfalls hat Kleophon durchgesetzt, daß die spartanischen Anerbietungen abgewiesen wurden282.

Für die inneren Verhältnisse Athens war die nächste Folge, daß jetzt die alte Verfassung in vollem Umfang hergestellt wurde. Die besitzlose Menge erhielt das Stimmrecht und den Zutritt zu Ämtern und Gericht zurück, und trotz aller ein halbes Jahr zuvor geschworenen Eide wurden die Diäten wieder eingeführt. Die damals eingesetzte Gesetzgebungskommis sion wurde durch eine neue ersetzt und das demokratische Verfassungsrecht im Anschluß an die älteren Formulierungen neu kodifiziert. Um der Unsicherheit auf [313] rechtlichem Gebiet ein Ende zu machen, sollten alle geltenden Bestimmungen des öffentlichen, privaten und sakralen Rechtes gesammelt und aufgezeichnet werden; die damit betrauten Bürobeamten verschleppten den Abschluß freilich von Jahr zu Jahr und wußten aus ihrer Befugnis, die Satzungen aufzutreiben und zu publizieren, gar manchen illegitimen Gewinn zu ziehen283. Zu Anfang des neuen Jahres, im Juli 410, wurde auf Antrag des Demophantos für die Zukunft jeder Versuch, die Demokratie umzustürzen und jede Annahme eines Amtes unter einer anderen Regierung für ein todeswürdiges Verbrechen und der Schuldige für vogelfrei erklärt. Durch feierlichen Eidschwur wurde das gesamte Volk und jeder einzelne Bürger verpflichtet, eintretendenfalls mit Wort und Tat nach dieser Bestimmung zu handeln; alle entgegenstehenden Eide aus der Zeit der Parteikämpfe wurden aufgehoben284. Die Folge war, [314] daß jetzt auch gegen die Masse der Vierhundert, die man bisher als Anhänger der gemäßigten Richtung verschont hatte, die Anklagen und Verurteilungen begannen, wenn nicht zum Tode, so doch zu schweren Geldstrafen und Verbannungen oder zum Verlust, der bürgerlichen Rechte285 – unter anderen ist auch Kritias verbannt worden286. Wer von den Truppen ihnen bis zuletzt treu geblieben war, verlor das Recht, in den Rat gelost zu werden und in der Volksversammlung aufzutreten. Das Gewerbe der Sykophanten blühte wieder auf wie zuvor, und der Vorwurf, zu den Vierhundert gehört zu haben, fehlte bald kaum in einem Prozeß mehr. Die Zustände der Zeit Kleons kehrten wieder; jahrelang behauptete Kleophon die leitende Stellung in Athen und wurde daher auch von der Komödie – so von Plato in einem eigenen Stück im Jahre 405 – ebenso energisch und ebenso erfolglos bekämpft wie ehemals seine [315] Vorgänger. Auch an ihn schloß sich ein Schwarm von Anhängern und Konkurrenten, Archedemos, Kallikrates u.a. Festen Halt gewann Kleophon vor allem durch seine finanziellen Neuerungen. Der Notstand in Athen wuchs seit der Belagerung von Dekelea und nun vollends seit dem Ausbruch des Seekrieges und dem Verlust eines großen Teils der untertänigen Gebiete von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat. Der Unterschied der solonischen Klassen, der Zeugiten und des Proletariats der Theten, der bisher auch von der radikalen Demokratie noch immer aufrechterhalten war, schwand vor der nivellierenden Macht des jahrelangen Verzweiflungskampfes immer mehr dahin. Zahlreiche ehemals wohlhabende Familien waren durch den Verlust ihres Grundbesitzes in Attika und in den abgefallenen Gebieten, namentlich auf Euböa, vollständig verarmt und hatten nichts mehr zu leben, und die arbeitenden Klassen verloren ihre Erwerbstätigkeit durch den Stillstand von Handel und Industrie. Alle Männer in wehrfähigem Alter standen jetzt dauernd in Waffen oder dienten auf der Flotte und konnten von ihrem Solde leben, wenn auch der Staat ihn nur unregelmäßig zahlte und der Feldarmee meist überlassen mußte, ihre Bedürfnisse durch Requisitionen in Feindesland und Kontributionen von den Bündnern zu decken287. Den Beamten und Richtern, die während ihrer Funktionen vom Kriegsdienst befreit waren, hat die restaurierte Demokratie die Diäten zurückgegeben. Aber die übrige Bevölkerung, die in die Hauptstadt zusammengedrängt war, hatte nichts mehr zu leben und mußte verkommen, wenn der Staat nicht half. Da hat Kleophon die Diobelie eingeführt, eine tägliche Verteilung von 2 Obolen (30 Pf.) unter die Bürgerschaft, d.h. [316] wohl zweifellos nur unter denjenigen Teil, der nicht anderweitig vom Staat Gelder bezog. Für sie wurde verwertet, was immer von Geldern überschüssig war; eine Kommission, an deren Spitze einer der einflußreichen Demagogen stand – so im Jahre 407/6 Archedemos –, leitete die Verteilung. Später, doch wohl erst nach der Arginusenschlacht oder vielleicht erst in der steigenden Notlage nach Ägospotamoi, hat Kallikrates den Satz auf 3 Obolen erhöht288. So sehr die Besitzenden und später die Theoretiker darüber schmähten, es war eine Maßregel, die im Belagerungszustand unvermeidlich und durchaus gerechtfertigt war. Nicht in der inneren Politik, sondern in der äußeren liegt Kleophons Schuld. Freilich war für ihn wie für seine Vorgänger beides untrennbar verbunden. Indem er, aus welchen Mitteln immer, den athenischen Bürger vor dem Hungertode schützte, stärkte er nicht nur seine eigene Stellung, sondern auch den Wunsch der Masse, einen derartigen Zustand zu erhalten; ein Friede, wie er jetzt noch erreichbar war, mußte beidem, [317] der Herrschaft der Demagogen und der Ernährung der Bevölkerung auf Kosten des Staates und der Untertanen, sofort ein Ende machen. – Eine Ergänzung der Diobelie bildete die Wiederaufnahme der Staatsbauten, speziell des Tempels der Athena Polias (des Erechtheums) auf der Burg, den man im Sommer 409 auf Antrag des Epigenes fortzuführen begann. Was ehemals die Manifestation der Macht und des Reichtums des Staates gewesen war, wurde jetzt ein Mittel der Versorgung in der höchsten Not. Wie die Bruchstücke der erhaltenen Rechnungen zeigen, kam die Maßregel vor allem den Handwerkern und Künstlern aus dem Metökenstande und ihren freien, und unfreien Arbeitern zugute289.

Durch die politischen und militärischen Erfolge des Alkibiades war die Offensive gegen Athen zur Zeit zusammengebrochen290. Die [318] Koalierten mußten sich beschränken zu retten, was noch nicht verloren war. Agis wies immer aufs neue mit Nachdruck darauf hin, daß Athen von Dekelea aus nicht beizukommen sei, solange es unbegrenzte Zufuhr zur See erhalte; er setzte durch, daß Klearchos aufs neue von Megara aus mit 15 Truppenschiffen nach dem Bosporos geschickt wurde. Drei von ihnen wurden von den Athenern im[319] Hellespont abgefangen, mit den übrigen setzte er sich abermals in Byzanz fest und organisierte hier mit Energie und hartem Druck auf die Gegner den Widerstand. Inzwischen hatte Pharnabazos die Trümmer der Armee des Mindaros einstweilen in seine Dienste genommen und zur Deckung der Küsten verwendet; Kalchedon [320] setzte er nach Kräften in Verteidigungszustand291. Zugleich gab er den Feldherren und Trierarchen Geld und Bauholz, um in Antandros, am Fuß des Ida, das jetzt unter seinem Schutze stand (s.S. 309), eine neue Flotte zu bauen. Vor allem die Syrakusaner gingen mit Eifer ans Werk; in etwa 2 Monaten hatten sie ihre 20 Schiffe wieder ersetzt, ebenso die Selinuntier ihre beiden. Auch hatten sie eine Verstärkung von 5 Schiffen aus der Heimat erhalten. Bald darauf, noch während sie in Antandros standen, traf indessen ein Dekret ein, welches Hermokrates und seine Kollegen absetzte und verbannte; inzwischen war in der Heimat die radikale Partei ans Regiment gekommen (Bd. V, 56)f292. Ionien dagegen blieb fast völlig sich selbst überlassen. Tissaphernes war so lau wie nur je; und der neue spartanische Admiral Pasippidas hatte einstweilen genug zu tun, um von den Verbündeten allmählich wieder eine Flotte zusammenzubringen. – Die spartanische Regierung hatte indessen erkannt, daß auf dem bisherigen Wege nicht weiterzukommen war; Astyochos hatte ihr nach seiner Rückkehr über die Unzuverlässigkeit des Tissaphernes vollends die Augen geöffnet, und Hermokrates hatte ihn dabei unterstützt. Statt noch weiter mit den Satrapen zu verhandeln, beschloß man, sich an die entscheidende Instanz zu wenden; schon war eine Gesandtschaft unter Boiotios nach Susa unterwegs, um den Großkönig für eine energische Kriegführung im Bunde mit Sparta zu gewinnen.

Athen hat die Fortführung des Krieges gewollt; jetzt war es seine Aufgabe zu beweisen, daß es die Pause voll auszunutzen und [321] während derselben weitere Erfolge über das von Sparta Gebotene hinaus zu erzielen imstande sei. Man gab sich der Hoffnung hin, jetzt, wo das Glück wieder günstig war, aufs neue Bundesgenossen gewinnen zu können. Die Bruchstücke einer Urkunde zeigen, daß Euagoras, der unternehmungslustige neue König von Salamis auf Cypern (V, 192)f.), Athen durch Getreidesendungen unterstützte und man weiteres von ihm im Kampf gegen Tissaphernes und den Großkönig erwartete293. Wichtiger war, wenn es gelang, die alten Alliierten am Ionischen Meer, die Athen im vorigen Kriege so wesentliche Dienste geleistet hatten, aus der Neutralität zu reißen, in die sie seit der sizilischen Katastrophe zurückgetreten waren. Im Jahre 410 ging Konon von Naupaktos aus nach Korkyra, wo wieder einmal ein Kampf der Parteien ausgebrochen war. Seine Messenier überfielen mit dem Demos die Aristokraten; wer nicht erschlagen wurde, wurde verbannt, die Sklaven befreit, die Fremden zu Bürgern gemacht. Aber die Zeiten hatten sich geändert, das Vertrauen auf Athens Macht war vorbei, und die radikale Umwälzung konnte auch den Gemäßigten, die zurückgeblieben waren, nicht behagen. Nach wenigen Tagen kehrten die Verjagten zurück, der Kampf erneuerte sich; schließlich aber versöhnten sich die Parteien und wiesen den Athenern die Wege. Von da an ist Korkyra über 30 Jahre lang allen griechischen Händeln ferngeblieben294. – Zu Ende des Jahres ging auch Pylos, das jetzt nur noch von Messeniern besetzt gehalten wurde, an Sparta verloren. Das Kastell wurde zu Lande und zur See eingeschlossen und schließlich die Besatzung zur Kapitulation gegen freien Abzug gezwungen. Der attische Stratege Anytos war durch Sturm gehindert worden, Hilfe zu bringen; natürlich wurde er deshalb vor Gericht gestellt, aber wunderbarerweise freigesprochen, wie es heißt, infolge umfassender Bestechungen295. Bald darauf gelang es den Megarern, mit Hilfe [322] ihrer Bundesgenossen den Hafen Nisäa zu erobern, den Athen seit 424 besetzt hielt. Damit hatte Athen bis auf Naupaktos alle festländischen Besitzungen verloren. – Dagegen erhoben sich um dieselbe Zeit alle kleinen Nachbarstämme gegen Heraklea Trachinia und die durch Agis im Winter 413/2 für Sparta im Norden gewonnene Machtstellung. Als im Kampfe auch die phthiotischen Achäer zu den Feinden übertraten, wurden die Herakleoten vollständig geschlagen; sie verloren an 700 Mann, darunter den spartanischen Harmosten Labotas296.

Indessen auf diese Dinge kam wenig mehr an; die Entscheidung lag in Asien. Während Alkibiades und seine Kollegen im hellespontischen Gebiet und an der thrakischen Küste operierten, wurde im Frühjahr 410 von Athen aus Thrasylos mit 1000 Hopliten, 100 Reitern, 50 Trieren zur Wiederunterwerfung Ioniens entsandt. Von den Ruderern versah er 5000 mit leichten Rüstungen, um sie als Peltasten zu verwerten. Anfangs schien alles gut zu gehen. Von Samos aus landete Thrasylos zuerst bei Pygela (südl. von Ephesos) und lieferte den herbeigeeilten Milesiern ein siegreiches Gefecht, dann gewann er Kolophon und drang von hier aus verheerend in Lydien ein (Mai 410). Dadurch wurde Tissaphernes aus seiner Passivität aufgerüttelt; als Thrasylos Ephesos angriff, kam er ihm mit dem Aufgebot der ganzen Landschaft zu Hilfe. Die Entscheidung aber brachten die Syrakusaner und Selinuntier, die, jetzt wieder im Besitz einer Flotte, bei Ephesos landeten und die attischen Truppen vollständig schlugen (Hochsommer 410). Thrasylos sah, daß er auf dem Festlande gegen die feindliche Übermacht nichts ausrichten könne; er gab das ionische Unternehmen auf und ging, nachdem er bei Lesbos noch vier syrakusanische Schiffe abgefangen hatte, nach dem Hellespont. Von dem siegesstolzen Heere der echten Demokratie wurden seine Truppen schlecht aufgenommen; eine Zeitlang wollten sie überhaupt nicht mit ihnen gemeinsam [323] operieren, bis sie in einem siegreichen Gefecht gegen Pharnabazos bei Abydos ihre Waffenehre wieder hergestellt hatten297. – Sonst wurde während des Winters 410/09 nicht viel ausgerichtet. Die Spartaner waren außerstande, aus dem Erfolg in Ionien, bei dem sie nicht einmal mitgewirkt hatten, irgendwelchen Gewinn zu ziehen; der Nauarch Pasippidas (s.S. 321)298 war, auch als er eine Anzahl Schiffe zusammengebracht hatte, durch Tissaphernes ebenso gelähmt wie früher Astyochos. Er lag vermutlich untätig in Milet und zog hier auch die Syrakusaner an sich, die dann, wie es scheint, bei der Eroberung von Pylos mitwirkten299. Aber zu Anfang des nächsten Sommers kam aus Sizilien die Schreckenskunde, daß die blühende Stadt Selinus von den Karthagern genommen und vernichtet sei. Die Folge war, daß Syrakus seine Flotte abberief (V, 67) und fortan aus dem Kriege ausschied; die Selinuntier, die ihre Heimat verloren hatten, wurden von Ephesos als Bürger aufgenommen. – Die in Samos stationierten attischen Schiffe300 konnten freilich auch nichts unternehmen und mußten froh sein, wenn sie die Insel und den Rest der athenischen Besitzungen deckten. In den abgefallenen Gebieten gärte es mehrfach; so kam in Chios, das längst mit Sparta unzufrieden war (s.S. 273f.), die demokratische Partei in die Höhe, bis Kratesippidas, der im Sommer 409 den Pasippidas ablöste, die Verbannten zurückführte, die Hauptgegner[324] verjagte und die Stadt wieder ganz an Sparta fesselte301. – Größere Erfolge hatten, die Athener an der thrakischen Küste. Hier hatte Thasos nach seinem Abfall (s.S. 296) im Herbst 411 den Versuch gemacht, mit peloponnesischer Hilfe Athen das Küstengebiet zu entreißen, und die Stadt Neopolis (östl. vom Pangaion) belagert. Diese hielt treu zu Athen, zahlte den attischen Truppen freiwillig reichlichen Sold und wurde schließlich zu Ende des Jahres 410 mit Hilfe des attischen Strategen Oinobios befreit. Im nächsten Jahre konnte Athen auch hier die Offensive ergreifen. Ein Teil der Küstenstädte, z.B. Abdera, war abgefallen, aber andere Orte, selbst Sermylia, das ehemals am Abfall der Chalkidier teilgenommen hatte, unterstützten jetzt wie Neopolis die Athener eifrig. Auf Thasos brach der innere Hader aufs neue aus; der spartanische Vogt Eteonikos und seine Anhänger wurden verjagt, die Insel wollte neutral bleiben. Die Spartaner waren unfähig zu helfen. Der Admiral Pasippidas ist später verurteilt worden, weil er, von Tissaphernes bestochen, diese Dinge habe geschehen lassen; Agesandridas aber, der Sieger von Eretria, der an der thrakischen Küste kommandierte302, war viel zu schwach. Schließlich im Jahre 408 (s.S. 327) führte Thrasybul die Belagerung von Thasos zu Ende, rief die Parteigänger Athens zurück und legte eine Besatzung in die Stadt303.

[325] Im Frühjahr 409 ging Alkibiades mit der gesamten Heeresmacht zum entscheidenden Kampf um die Stellung im Bosporos vor304. Bisher hatte Theramenes von Chrysopolis aus Kalchedon bedrängt, jetzt wurde es von der Landseite vollständig durch eine Umwallung eingeschlossen und der spartanische Harmost Hippokrates in hartem Kampf besiegt und getötet. Pharnabazos versuchte vergeblich Hilfe zu bringen und die attischen Verschanzungen zu durchbrechen. Auch von den Peloponnesiern war nichts mehr zu hoffen. So erkannte Pharnabazos die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen: er bot die Hand zum Frieden. Während Alkibiades nach der Chersones gegangen war, um Gelder einzutreiben, schloß der Satrap mit den Athenern einen Waffenstillstand. Er verpflichtete sich, eine athenische Gesandtschaft an den Hof des Königs zu geleiten, um seine endgültige Entscheidung einzuholen; bis dahin sollten die Waffen ruhen und auch Kalchedon neutral bleiben, aber Athen die rückständigen Tributsummen zahlen; auch Pharnabazos selbst zahlte 20 Talente (108000 Mark – das war unter den jetzigen Verhältnissen für Athen schon eine sehr bedeutende Einnahme). Nach seiner Rückkehr bestätigte und beschwor auch Alkibiades den Vertrag; er hatte inzwischen Selymbria und andere Orte in Thrakien mit Hilfe der athenisch gesinnten Partei zur Unterwerfung auf billige Bedingungen gezwungen – der Stadt wurde die freie Verfassung garantiert305 – und thrakische [326] Hilfstruppen gesammelt. Jetzt wandten sich die Athener gegen Byzanz, das Klearchos mit peloponnesischen, megarischen und böotischen Truppen besetzt hielt (s.S. 319f.). Die Belagerung führte nicht zum Ziel; aber in der Stadt war die Unzufriedenheit mit dem Regiment des Harmosten groß, der nur für die Soldaten sorgte und die Bürger verhungern ließ. Als Klearchos nach Asien gegangen war, um von Pharnabazos Geld zu bekommen und zugleich heranzuziehen, was von peloponnesischen Schiffen erreichbar war, wurden den Athenern die Tore geöffnet und die Besatzung überfallen und zur Ergebung: gezwungen (Ende 409)306.

Während des Winters 409/8 überwinterte die athenische Gesandtschaft in Gordion; im Frühjahr sollte sie die Reise nach Susa antreten. Um ihr entgegenzuwirken, schickte Sparta eine zweite Gesandtschaft unter Pasippidas an den Hof, der sich auch Hermokrates zugesellte. Dagegen schlossen sich den Athenern Gesandte aus Argos an, das durch seine alten Beziehungen zu Persien für Athen wirken zu können hoffte. – Das hellespontische Gebiet war jetzt bis auf Abydos wieder in den Händen Athens. Im Frühjahr 408 blieb ein Teil der Flotte zur Sicherung des eroberten Gebietes zurück, einen anderen führte Thrasylos heim. Thrasybul ging an die thrakische Küste, zwang Thasos zur Unterwerfung (s.S. 325) und gewann Abdera307. Alkibiades aber begab sich nach Samos und trieb an der karischen Küste 100 Talente ein. Dann rüstete auch er sich zur Heimkehr in die Vaterstadt, die ihn vor sieben Jahren geächtet hatte. Wie man jetzt gegen ihn gesinnt war, davon hatte er eben noch eine Probe erhalten, indem die Athener bei den Strategenwahlen ihm mit Thrasybul und Konon die Führung des Krieges übertrugen308. Trotzdem hatte er Besorgnisse, als er mit 20 reichgeschmückten[327] Schiffen, mit reicher Beute und zahllosen Trophäen – darunter die Beutestücke von 200 genommenen feindlichen Schiffen – am Plynterienfeste (25. Thargelion, ca. 16. Juni 408) in den Piräeus einlief309. Aber die ganze Stadt war jubelnd zusammengeströmt, den Sieger zu empfangen: seine nächsten Freunde und Verwandten, soweit sie nicht mit ihm aus der Verbannung heimkehrten, standen am Ufer, ihn gegen jeden Angriff zu schützen. Bald zeigte sich, daß alle Vorsichtsmaßregeln unnötig waren; in der Volksversammlung, als er sich wegen der Beschuldigung des Mysterienfrevels rechtfertigte und sein Verhalten entschuldigte, hätte niemand wagen dürfen, ihm zu widersprechen. In feierlicher Form wurden die Flüche, die über ihn ausgesprochen waren, zurückgenommen, sein Vermögen ihm zurückerstattet, der unumschränkte Oberbefehl zu Lande und zur See ihm übertragen. Alles beugte sich vor diesem einzigartigen Genius, der das Glück dauernd zu zwingen vermochte und erwiesen hatte, daß er stärker sei als eine Welt in Waffen, die ihn bekämpfte. Alle Verdienste seiner Kollegen waren vergessen über den seinigen; die Taten der Flotte erschienen nur als ein Ausfluß seiner Persönlichkeit. In Athen war alle Welt einig, daß Alkibiades und Alkibiades allein die Stadt, wie er sie, als sie in törichter Verblendung sich von ihm abwandte, ins Verderben gestürzt, so als sie ihm die Möglichkeit gewährte, vom Untergang gerettet habe. Dadurch hatte er zugleich erwiesen, daß er im Grunde seines Herzens doch ein warmer Patriot war; und unzweifelhaft[328] erschien, daß nur er den Krieg zum glücklichen Ende zu führen vermöge. In der Tat hatte er innerhalb zweier Jahre einen großen Teil seiner Verheißungen glänzend erfüllt: durch seine gewandte Politik hatte er den einen, durch sein Schwert den andern der feindlichen Satrapen gezwungen, vom Kriege abzustehen, und zugleich die Seemacht und damit die Widerstandskraft der Feinde gebrochen, ja vernichtet. Auch zu Lande konnten die Athener wieder aufatmen; unter dem Schutze seines Heeres konnte die Prozession nach Eleusis, die bisher zur See hatte stattfinden müssen, diesmal ungefährdet zu Lande die heilige Straße durchschreiten (Oktober 408). Brachte die Gesandtschaft, die jetzt nach Susa unterwegs war, wenn auch nicht ein Bündnis, so doch den Frieden mit Persien heim, so war kein Zweifel mehr, daß die Gegner in Hellas, alsdann völlig isoliert, vom Kampf abstehen würden und Athen sein Reich – abgesehen vielleicht von dem ionischen Festland – im alten Umfange wiedergewinnen könne. Dann konnte Alkibiades ohne Besorgnis den letzten Schritt wagen, der ihn zum König von Athen und weiter zum König von Hellas machen sollte. Freund und Feind erwarteten nichts anderes; aber die Gegner von rechts und links waren ohnmächtig, und die gutmütigen Leute, die sich mit dem Gedanken trösteten, daß er einen Staatsstreich nicht nötig habe, da das Volk ihm bereits freiwillig gewähre, was immer sein Herz begehren könne, wür den sich in die vollendete Tatsache leicht gefunden haben. In der Tat, wenn Alkibiades erfüllte, was man von ihm erhoffte, welches Opfer wäre zu groß gewesen, als daß Athen es hätte bringen dürfen310? Aber als Alkibiades in Athen einzog, waren die Würfel bereits gefallen: und diesmal fielen sie gegen ihn.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 305-329.
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