Die Reichsregierung.

[310] Die Anklagevertretung bezeichnet die Reichsregierung als verbrecherische Organisation, die nach dem 30. Januar 1933 aus den Mitgliedern des gewöhnlichen Kabinetts, den Mitgliedern des Ministerrats für die Reichsverteidigung und den Mitgliedern des Geheimen Kabinettsrats bestand. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Reichsregierung aus zwei Gründen nicht als verbrecherisch erklärt werden kann:

da 1.) nicht dargetan ist, daß sie nach 1937 jemals in Wirklichkeit als Gruppe oder Organisation tätig gewesen ist,

da 2.) die hier beschuldigte Personengruppe so klein ist, daß gegen ihre Mitglieder ohne weiteres Einzelverfahren geführt werden können, ohne daß eine Erklärung erforderlich wäre, die Regierung, deren Mitglieder sie gewesen sind, sei verbrecherisch.

Was den ersten Grund für unsere Entscheidung betrifft, so muß bemerkt werden, daß von jenem Zeitpunkt an, mit dem man eine Verschwörung zur Unternehmung eines Angriffskrieges als beginnend bezeichnen kann, die Reichsregierung keine regierende Körperschaft mehr bildete, sondern lediglich eine Anhäufung von Verwaltungsbeamten war, die der absoluten Kontrolle Hitlers unterworfen war. Nach 1937 hielt die Reichsregierung nicht eine einzige Sitzung mehr ab, sondern die Gesetze wurden im Namen eines oder mehrerer Mitglieder der Regierung verkündet. Der Geheime Kabinettsrat ist überhaupt nie zusammengetreten. Eine Anzahl der Regierungsmitglieder war zweifellos in die Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges verwickelt; doch waren sie als Einzelpersonen darin verwickelt und es besteht kein Beweis dafür, daß die Regierung als Gruppe oder Organisation irgendeinen Anteil an diesen Verbrechen nahm. Man wird sich daran erinnern, daß, als Hitler seine verbrecherischen Angriffsziele bei der Hossbach-Konferenz enthüllte, er diese Erklärung nicht vor der Regierung abgab, daß die Regierung in dieser Sache nicht befragt wurde, sondern im Gegenteil, die Mitteilung einer kleinen Gruppe gegenüber im Geheimen gemacht wurde, auf die sich Hitler bei der Führung seines Krieges notwendigerweise stützen mußte. In gleicher Weise wurde die Invasion Polens nicht durch einen Regierungsbeschluß gebilligt. Im Gegenteil bekundet der Angeklagte Schacht, er habe die Invasion durch einen an den Oberbefehlshaber der Armee gerichteten Protest aufzuhalten versucht, und zwar mit der Begründung, Hitlers Befehl verletze die Verfassung, weil er nicht von der Regierung genehmigt worden war.

Verschiedene Gesetze, welche zu Handlungen ermächtigten, die nach dem Statut verbrecherisch sind, wurden offenbar bei den Mitgliedern der Reichsregierung in Umlauf gesetzt und von jenen Mitgliedern,[310] deren Verwaltungszweige betroffen waren, gezeichnet. Damit ist jedoch nicht bewiesen, daß sich die Reichsregierung nach 1937 jemals tatsächlich als Organisation betätigt hat.

Was den zweiten Grund betrifft, so ist es klar, daß jene Mitglieder der Reichsregierung, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden sollten; eine Anzahl von ihnen steht jetzt auch vor diesem Gerichtshof. Die Zahl der Mitglieder dieser Gruppe wird auf 48 geschätzt, von denen 8 tot sind und 17 jetzt vor Gericht stehen, so daß im Höchstfall 23 verbleiben, für die die Erklärung von Bedeutung sein könnte. Alle anderen, die schuldig sind, sollten auch vor Gericht gestellt werden; es wäre aber nichts für die Beschleunigung oder Erleichterung ihrer Prozesse gewonnen, wenn die Reichsregierung als verbrecherische Organisation erklärt würde. Dort, wo eine Organisation mit großer Mitgliederzahl zu solchen Zwecken verwendet wurde, beugt eine Erklärung der Notwendigkeit vor, ihren verbrecherischen Charakter im Zuge späterer Prozesse gegen Mitglieder zu untersuchen, wenn diese wegen der Mitgliedschaft der Beteiligung an ihren verbrecherischen Zielen angeklagt werden; nur dann würde man Zeit und Mühe sparen. Ein derartiger Vorteil entfällt bei einer kleinen Gruppe, wie es die Reichsregierung ist.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 310-311.
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