Der Beginn meiner Studien

[101] Die gegebene und von den Eltern als selbstverständlich angesehene Bestimmung des einzigen Sohnes war natürlich: daß ich einmal ihr Nachfolger auf dem Bauernhof werden solle. Daß meine Natur und Begabung gerade hierauf gerichtet sei, ließ sich freilich nicht behaupten. Und auch meine Eltern täuschten sich darüber nicht; ich zeigte für Bücher seit langem ein lebhafteres Interesse, als es für einen Bauern sich zu schicken schien; dagegen war meine Teilnahme für Ochsen und Schafe und ihre Preise, meine Fähigkeit, die einzelnen zu erkennen und ihre Qualitäten zu würdigen, auch hinter mäßigen Erwartungen vielfach zurückgeblieben, so daß ich oft hatte in tadelndem Sinne hören müssen: aus dir wird im Leben kein rechter Bauer. Vor allem pflegte es mir so zu ergehen, wenn ich bei den Verwandten oder Nachbarn gewesen war und nun über das, was ich gesehen und gehört habe, über Stand der Äcker, Fortgang der Ernte, Gedeihen und Verhandeln der Pferde und Kühe zu berichten aufgefordert wurde und der Bericht dann ungenügend ausfiel; das Gespräch in diesen Kreisen dreht sich überhaupt fast ausschließlich um landwirtschaftliche Dinge und zwar durchaus im engsten praktischen Sinn: mir fehlte dafür mit dem Interesse das Gedächtnis, und so stand ich anderen Gleichaltrigen gegenüber als der Unwissende da, wurde wohl auch auf solche als ein der Nacheiferung würdiges Beispiel hingewiesen. Alles das erhöhte meine Neigung für diese Dinge nicht; auch wurden mir manche landwirtschaftlichen Arbeiten, so vor allem das Eggen, das mir meist zufiel, geradezu peinvoll und verhaßt: den ganzen Tag bei scharfem Wind über den Sturzacker hinstolpern und den Staub schlucken, den die Egge aufwühlt, gehört freilich nicht zu den Freuden des ländlichen Daseins; ich erinnere mich noch, wie ich einmal bei dieser Arbeit, mich unbeobachtet glaubend, vor Ungeduld, Zorn und Widerwillen laut aufschrie, was dann eine Nachbarsfrau hörte, die mich durch die Frage: was mir fehle? in Verwirrung und Scham versetzte.

So geschah es denn eines Tages, es wird in meinem 14. Lebensjahr gewesen sein, daß mir, als ich mit den Eltern beim Abendtee saß, wieder Vorhaltungen in jenem Sinne: ich werde nie ein tüchtiger Bauer werden, gemacht wurden. Mit unvermuteter, aber nicht unüberlegter Antwort sagte ich rasch dazwischen: Ich will auch gar nicht Bauer werden.[102] Nun, was willst du denn werden? fragte die Mutter. Ich will studieren.

Damit war denn auf lange Zeit das Thema für unsere Gespräche gegeben. Im ersten Erstaunen wurde meine Äußerung wohl kaum ernst genommen. Als ich aber beharrlich darauf zurückkam und mich mehr und mehr mit der der Jugend eigenen Hartnäckigkeit darauf versteifte, stieß ich auf nicht minder entschiedenen Widerstand. Vor allem war es die Mutter, die, mit rascherer Zunge begabt, alle möglichen Gründe solchem Vorhaben entgegenstellte, sie wußte die Vorzüge des Landlebens sehr lebendig darzustellen; vor allem kam sie immer wieder auf einen Punkt zurück: der Bauer ist der einzige freie Mann im Lande. Alle andern, vor allem alle Studierten, müssen andern dienen, er besorgt seine eigenen Angelegenheiten, und zwar so, daß ihm niemand dareinredet; wie er es für recht hält, so macht er es, und niemand fragt darnach. Dagegen müssen Beamte, Geistliche, Lehrer immer nach Geboten handeln und sich von andern ihre Leistungen beurteilen und kontrollieren lassen; und werden sie getadelt, dürfen sie nicht widersprechen.

Ich habe seitdem oft an die Worte meiner guten Mutter denken müssen und hätte es wohl noch öfter getan, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, im akademischen Lehramt meinen Beruf zu finden: in der Tat, wenn ich nicht Professor geworden wäre, wäre es doch am Ende das beste für mich gewesen, Bauer zu werden. Indessen, damals machten diese Erwägungen, deren Bedeutung noch ganz außerhalb meines Gesichtskreises lag: ich hatte überhaupt einstweilen nur das Studium selbst, nicht den Beruf vor Augen, auf mich nicht den geringsten Eindruck. Ich hielt ihnen vor allem eines entgegen: wenn ich nun gezwungen würde, wider meinen Willen Bauer zu werden, was wird die Folge sein? Offenbar die, und ich wußte durch Hinweisungen auf konkrete Fälle die Sache sehr einleuchtend und dringlich zu machen, daß ich einmal als mein eigener Herr mich dem Müßiggang hingebe, mit der langen Pfeife im Mund Zeitungen und Bücher lese und bestenfalls einmal einen Spaziergang über die Felder mache, wie H. oder L. euch dies Ärgernis alle Tage vormachen. Ob sie, so tätige Menschen, wünschen könnten, daß ich einmal ein so unnützes Dasein führe?

Allmählich gewöhnten sich so die Eltern an den Gedanken, und die Frage wurde erwogen: was ich denn studieren wolle? Nur eines nicht, meinte die Mutter: Advokat, das seien die schlechtesten Menschen, die[103] von anderer Leute Unglück lebten. Und als ich mich nun ohne große Schwierigkeit bereitfinden ließ, die Theologie zu wählen, da begann die Aussicht, ihren Sohn einmal auf der Kanzel zu sehen, auf das Mutterherz ihren Zauber auszuüben. Auch ihr Gewissen begann sich zu regen: wenn ich nun vielleicht berufen sei, ein auserwähltes Rüstzeug Gottes zu werden, ob es dann nicht Schuldigkeit sei, die eigenen Wünsche zurückzustellen? Sie selbst verdankte Predigern so Großes, ihr ganzes geistiges Leben und ihr Seelenheil, daß es für ihre Anschauung einen größeren und wichtigeren, freilich auch schwereren Beruf auf Erden nicht gab als den des »Priesters«, wie die friesische Sprache ihn heut noch nennt.

War so die Mutter für eine freundlichere Betrachtung meiner Neigung gewonnen, so hatte auch der Vater, der von vornherein zurückhaltender gewesen war, vor dem geistlichen Amt und vor geistiger Arbeit überhaupt so viel angeborene und erworbene Hochachtung, daß er einem entschiedenen Willen, wie er ihn vor sich sah, ein entschiedenes Nein entgegenzusetzen nicht über sich gewinnen konnte. Zureden von seiten meines Lehrers Brodersen tat ein übriges, und so gewann ich im Sommer 1861 eine bedingte Gewährung meines Wunsches: er wolle mit Pastor Thomsen über mich sprechen, und wenn dieser bereit sei, mit mir einen Versuch zu machen, so wolle er einer Probe, ob ich die nötigen Fähigkeiten zum Studieren habe, nicht länger entgegensein. Pastor Thomsen, der schon mehrere junge Leute aus dem Ort und der Umgebung für das Gymnasium vorbereitet hatte, ließ sich bereitfinden, und so wurde der Beginn des Unterrichts auf den Anfang des Herbstes verabredet.

Wie groß das Opfer war, das meine Eltern mir brachten, das habe ich damals nicht empfunden. Ich war voll Freude und Dank und dachte an mich und die nunmehr erlangte Freiheit, meiner Neigung zu den Büchern zu folgen; an die Eltern, und was für sie dieser Schritt bedeute, dachte ich überhaupt kaum. Es ist die naive Selbstsucht der Jugend; geschieht ihr der Wille, so ist alles in Ordnung. Daß für die Eltern die Einwilligung zum Studium den Verzicht auf lange gehegte Hoffnungen, die Übernahme langer und schwerer Sorgen, Sorgen um das innere und äußere Gedeihen des einzigen Sohnes, sie haben über zehn lange Jahre gedauert, endlich die Aussicht auf ein einsames Alter bedeute, das alles sind mir damals, wenn nicht ganz fremde, so doch unwirksame Vorstellungen geblieben. Jugend kennt kein Mitleid. Daß[104] dem alternden Vater, er war 56 Jahre alt, wenn er mit seinem langsam festen Schritt über die Felder oder hinter dem Pflug herging, nun nicht mehr die Hoffnung zur Seite schritt, daß nach ihm sein Sohn und Erbe die Früchte des Nachdenkens und Schweißes, die er an die Verbesserung des Bodens setzte, ernten werde: mir ist der Gedanke wohl kaum einmal gekommen. Und er sprach ihn sicherlich gegen niemand aus, am wenigsten gegen mich; er war nicht ein Mann vieler Worte, vor allem nicht vergeblicher Worte: hab ich meine Zustimmung gegeben, so sind die Folgen zu tragen; und leeres Klagen erleichtert die Sache nicht. Arbeiten, einfach weil die Sache es fordert, ohne viel Gedanken über den letzten Zweck der Arbeit, das war seine Art; er ist ihr bis in sein Alter treu geblieben und glücklich dabei gewesen. Ich weiß nicht, ob nicht, was ihn die Natur lehrte, auch der Weisheit letzter Schluß ist. Goethe scheint der Ansicht zu sein: »die Forderung des Tages erfüllen«, das war auch ihm die Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen.

Am 5. Oktober 1861, es war des Vaters Geburtstag, bin ich zum erstenmal zu Pastor Thomsen in die lateinische Stunde gegangen, nachmittags von 5 bis 6. Die Fenster in seinem Studierzimmer standen offen; aus dem Garten drang der Duft des Herbstes, Reseda und Astern, herein; der Geruch ruft mir noch heute die hellen Herbsttage jenes Jahres vor die Sinne. Anderthalb Jahre hindurch bin ich täglich zur selben Stunde nach dem 10 Minuten entfernten Pfarrhaus gewandert; ich glaube nicht, daß eine einzige Stunde ausgefallen ist, obwohl Pastor Thomsen verlobt war und während der Zeit heiratete.

Der lateinische Unterricht, während des ersten halben Jahres der einzige (ich fuhr fort, daneben die Volksschule, allerdings nur vormittags, zu besuchen) fiel auf einen guten Boden. Der kleine Kühner wurde zugrunde gelegt; ich erhielt täglich ein Pensum aus der Grammatik zu lernen auf, dazu die Vokabeln und Übungsstücke. In wenig Tagen konnte ich die Deklination und ein paar Formen aus der Konjugation; ich erinnere mich noch wohl, wie ich einmal neben dem Vater am Pflug herging und ihm vorsagte, wie die alten Römer geredet hätten: agricola arat agrum; oder wie ich ein andermal im Garten auf und ab ging, das Paradigma pugna acris einübend, oder wie mir das Problem zu schaffen machte: ob es rana magna oder nicht vielmehr magnus heißen müsse; da doch der Frosch ohne Zweifel ein männliches Wesen sei wie die Kröte ein weibliches. Es ging rasch vorwärts; am Ende des Halbjahres[105] hatte ich den kleinen Kühner durch und las die angehängten Lesestücke aus des Curtius Geschichte Alexanders des Großen. Als ich einmal auf einen Druckfehler im Text hinwies: es müsse doch so heißen, sah mich mein Lehrer mit raschem Aufblick an: Wer sagt das? Ich erwiderte: Ja, es kann hier doch diese Form nicht stehen. Das war meine erste Konjektur.

In demselben Winter besuchte ich den Konfirmationsunterricht, der dies Jahr bei dem anderen Pastor stattfand. Ich erinnere mich nicht, daß er auf mich Eindruck gemacht hätte; es war dieselbe Dogmatik, die wir in der Schule aus dem Katechismus gelernt hatten, um einige Sprüche vermehrt, und hier und da eine scholastisch-theologische Beweisführung. So wurde z.B. die Ewigkeit und Allgegenwart Gottes uns demonstriert: Gott habe doch Zeit und Raum geschaffen, also könne er nicht in Zeit und Raum beschlossen sein. Auch von der Konfirmation selbst oder der nach folgenden Beichte und Abendmahl habe ich keinerlei stärkeren Eindruck empfangen. Lebendig in der Erinnerung ist mir dagegen eines. Ich hatte für die Feier meinen ersten Tuchanzug erhalten. Durch irgendein Versehen hatte der Schneider die Ärmel verschnitten, so daß er ein kleines trapezförmiges Stückchen an der Naht oben an der Schulter hatte einsetzen müssen. Das Bewußtsein dieses Mangels verließ mich nicht, als wir im Kirchensteig aufmarschierten und uns in die Reihe stellten, um nacheinander das »Bekenntnis« abzulegen. Ich hatte die Empfindung: die ganze Gemeinde müsse auf das zugeflickte Loch in meinem Tuchrock hinblicken.

Von da ab gehörte nun der ganze Tag meinen Studien. Sie setzen mit aller Wucht ein: zum Lateinischen kamen, fast gleichzeitig begonnen, fünf neue Sprachen: Griechisch, Hebräisch, Französisch, Englisch und Dänisch. Dazu wurde Mathematik und Geschichte vorgenommen und alle vier Wochen ein deutscher Aufsatz geliefert. Eine ganze Bibliothek von Lexiken, Grammatiken und Texten wurde angeschafft, so daß meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlug: die mußt du alle durchlesen?

Wie das möglich war? wird man fragen in einer Zeit, wo man Scheu trägt, schon nach einem Jahr eine neue Sprache neben der bisherigen zu beginnen. Ja, es wurde eben nach der Möglichkeit gar nicht gefragt: in der Sekunda des Gymnasiums wurden bei uns damals die sechs Sprachen nebeneinander getrieben, also wird auch der Vorbereitungsunterricht sie behandeln müssen, denn daß die Vorbereitung[106] auf die Sekunda abziele, stand fest. / Ich habe ebensowenig als der Lehrer nach der Möglichkeit gefragt, sondern die Sache als selbstverständlich hingenommen; von Überbürdung wußte ohnehin in unserem glücklichen Ort kein Mensch. Übrigens hat mir Pastor Thomsen lange nachher, es war, als ich ihn im Jahre 1889 von Glücksburg aus in Sterup, seiner Gemeinde in Angeln, besuchte, erzählt: als mein Vater mit dem Anliegen, mir Unterricht zu erteilen, zu ihm gekommen sei, da habe er ihm gesagt: Herr Pastor, nehmen Sie ihn gleich gehörig vor, daß wir wissen, ob er es leisten kann. Und so habe er ihm versprochen: er wolle den Schritt so nehmen, daß er, wenn ich ihm halten könne, mit Sicherheit wisse, daß ich das Zeug dazu habe, zu studieren. In der Tat, ich muß meinem trefflichen Lehrer das Zeugnis geben, daß er Wort gehalten hat: er hat mich gehörig vorgenommen. Es ist mir aber nicht zuviel geworden. Ich erinnere mich kaum einer Zeit fröhlicherer Arbeit und gedeihlicheren Wachstums als dieses Jahres.

Im Mittelpunkt der Arbeit blieb das Lateinische stehen. Ich fing an, miteinander Livius, Virgil, Cicero zu lesen. Es kostete anfangs Mühe; besonders die verstellten Wörter der Äneis zusammenzufinden, wie sie zusammengehörten, wollte zuerst nicht recht gelingen. Doch reichliche Übung gab bald den Blick; ich habe in dem Jahr die ersten zwei Bücher der Äneis durchgebracht. Pastor Thomsen gab nichts auf langes Erklären, weder des Sprachlichen noch des Sachlichen. Er ging von der, meiner Ansicht nach durchaus begründeten Anschauung aus: das Reden über die Sprache, das Vorsagen von Regeln und Ausnahmen, Tropen und Figuren, das Erklären von Feinheiten und Schönheiten hilft dem Anfänger nicht weiter, die Übung im Lesen und Nachbilden bringt von selbst die Sicherheit im Erfassen, und dann mag die Reflexion ein letztes zum Verständnis tun. Mit großer Freude las ich die beiden ersten Bücher des Livius, sie zogen gleichermaßen durch den Stoff und die Form an. Seine Perioden und der Versuch ihrer Nachbildung gaben mir zuerst einen Geschmack von der Eigentümlichkeit der lateinischen Sprache. Weniger wollte mir Cicero behagen, von dem wir mit der Rede für den König Dejotarus begannen, dann die Katilinarien lasen. Das Lateinschreiben wurde fleißig geübt; ich hatte dafür besondere Neigung, eine nach meiner Empfindung gutgelungene Umschreibung oder Umsetzung eines Substantivs in einen Satz, eine wohlgeratene oratio indirecta gab mir große Genugtuung. Ich übersetzte aus einer Version der Briefe des Muret, Pastor Thomsen hatte das Original[107] in der Hand, und wir verglichen von Zeit zu Zeit mein Anfängerlatein mit dem des eleganten humanistischen Stilisten: eine Übung, die ich für eine nicht unwirksame halte.

Für die Erlernung des Griechischen wurde wieder die kleine Kühnersche Grammatik benutzt, die schon durch die vollständige Gleichartigkeit der Anlage die neue Sprache beinahe als eine bekannte erscheinen ließ. Auch sie wurde rasch durchgenommen, ich denke, daß wir ebenfalls in etwa einem halben Jahr das Ende erreichten. Dann begann die Lektüre des Homer; wir lasen Partien aus der Odyssee, den Anfang, die Ereignisse auf Ithaka und bei der göttlichen Kalypso, später die Fahrt in die Unterwelt, im ganzen 5 Bücher; dazu zwei Plutarchische Biographien; den üblichen Xenophon habe ich nie in die Hand bekommen. Einer bedeutenden Wirkung vom Homer vermag ich mich aus dieser Zeit nicht zu erinnern, obwohl er mir auch dem Stoff nach völlig neu war; der Anfänger ist wohl allzusehr durch die Sprache in Anspruch genommen, als daß er auf den Sinn viel zu achten imstande wäre. Auch nachher auf dem Gymnasium, wo die Ilias gelesen wurde, ging er, ohne viel Eindruck zu machen, am tauben Sinn vorüber. Erst als ich ihn nach Vollendung meiner Studien wieder las, gegen Ende der Zwanzig, ging mir der Verstand für seine Eigentümlichkeit und Schönheit auf. Vermutlich ist die Zeit, wo wir ihn als Schüler griechisch zu lesen pflegen, überhaupt das für ihn undankbarste Alter; der Knabe freut sich der bunten Fabeln, der Mann kehrt zu dem Spiel der Phantasie gern zurück, das Jünglingsalter ist vielleicht am stärksten auf das Reelle gerichtet und darum für das harmlose Fabulieren am wenigsten empfänglich. Geht's uns nicht mit den Schöpfungen der Phantasie im alten Testament ebenso? Sobald die Frage nach der Wirklichkeit dieser Hergänge, der Sintflut, der Schöpfung, erwacht, hört das naive Interesse des Kindes auf.

Im Französischen und Englischen wurden die ersten Anfänge ebenfalls rasch überwunden. Ich erinnere mich kaum mehr des grammatischen Unterrichts, für den Ahns Lehrbücher gebraucht wurden. Im Englischen las ich den Vicar of Wakefield ohne Verständnis für die entzückende Kunst der Naivität; auf einen französischen Autor vermag ich mich nicht zu besinnen, vielleicht haben wir auch keinen gelesen, dagegen ziemlich viel ins Französische übersetzt. Eine französische oder englische Grammatik hab ich überhaupt seitdem nicht mehr in die Hand genommen, auch auf dem Gymnasium so gut wie nichts hinzugelernt; erst spätere Lektüre um der Sache willen hat mich weitergebracht.[108]

Endlich das Dänische: die Elemente erlernte ich aus einem kleinen Büchlein von Blichert; ein Lesebuch gab so viel Übung, daß ich, als ich nach Altona kam, Ingemanns Romane, die in der Sekunda gelesen wurden, recht gut vom Blatt las, wie ich es denn noch heute tue.

Da ich Theologie studieren sollte, wurde auch mit dem Hebräischen ein Anfang gemacht, mit einer Grammatik von Seffer. Die Formenlehre ging ohne zu große Schwierigkeit ein, dagegen hat das Behalten der Wörter mir stets große Mühe gemacht; es fehlt jede Anlehnung an das Bekannte, sowohl in der Etymologie als in der Wortbildung. Immerhin glänzte ich, als ich auf das Gymnasium kam, unter den Sekundanern als Hebräer.

Geschichte wurde gelernt nach eigenen Heften des Lehrers; ich habe seine kleinen Oktavhefte der alten, der deutschen und der dänischen Geschichte abgeschrieben und auswendig gelernt: sie enthielten in allerknappster Fassung das Notwendigste, vor allem die Regentenreihen, wo es ihrer gab, mit kurzer Bezeichnung der Hauptbegebenheiten. Ich glaube nicht, daß ich zeitweilig auf die Frage nach den Regierungsjahren eines römischen oder deutschen Kaisers oder eines dänischen Königs die Antwort schuldig geblieben wäre: so unglaublich aufnahmewillig war damals das Gedächtnis.

Am wenigsten kann ich den Unterricht in der Mathematik loben. Ich war hier durch den ausgezeichnet anschaulichen Unterricht der Volksschule verwöhnt. Als mir nun zugemutet wurde, in rascher Folge, wie in der Grammatik Paradigmen oder in der Geschichte Königsreihen, so hier lange Reihen von Lehrsätzen und Beweisen auswendig zu lernen, versagte ich. Und da der mathematische Unterricht auf dem Gymnasium gleich Null war, so bin ich, trotz späterer Anläufe, so ziemlich auf das beschränkt geblieben, was mir der treffliche Küster Brodersen für das Leben mitgegeben hat.

Im Sommer 62 erfuhr meine Bibliothek eine große Bereicherung. Die Witwe unseres früheren Hauptpastors mit Namen Speckhahn, welchem Namen übrigens die beiden kurzen und fetten Figuren der Träger sich wohl angepaßt hatten, starb, und der Hausrat, darunter die Bücher ihres Eheherrn, kamen zur Versteigerung. Ich erwarb eine Menge zum Teil nicht wertloser Bücher, besonders lateinische Klassiker, meist für einen oder zwei Groschen (dänische Vierschillingstücke) den Band; ich war der einzige Bieter. So hab' ich unter anderem die zweibändige Döringsche Horazausgabe dort gekauft, die mir bis auf diesen[109] Tag nicht aus den Händen gekommen ist: ihre sehr planen und auch wohl einmal platten Erklärungen und Umschreibungen in lateinischer Sprache waren doch eine ganz gute Übung im Gebrauch der lateinischen Schulsprache. Tacitus und Juvenal, in deutscher Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert, gaben Lesestoff. Eine dicke hebräische Bibel hat mich noch nach Bonn begleitet, wo sie in den Händen eines Studienkameraden geblieben ist. Auch ein syrisches Neues Testament mit Glossar war unter den Schätzen meines alten Pastors gewesen; es hat mich gereizt, die Buchstaben aus den Eigennamen zusammenzusuchen. Eine kleine Geschichte der Philosophie, von Socher, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, versuchte ich zu lesen, aber ohne Erfolg. Dagegen hat mir bei irgendeiner Gelegenheit Pastor Thomsen einmal einiges aus den Anfängen der griechischen Philosophie vorgetragen, was mich sehr beschäftigte.

Im übrigen war der Unterricht, um auf diesen zurückzukommen, streng auf die Sache gerichtet; seine Maxime war: keine Zeit verlieren. Für Abschweifungen und Exkurse war keine Zeit; die tägliche Stunde reichte gerade aus, die Lösung der Aufgaben durchzugehen und neue zu stellen. Das gelesene Pensum, das ich mir selber absteckte, wurde rasch übersetzt, dann die schriftlichen Übungen mit dem Bleistift in der Hand durchgegangen; die unterstrichenen Fehler wurden gleich zu Fragen: wie muß es heißen? Dabei hatte er die Gewohnheit, da man Kopf an Kopf über dem Heft saß, mit dem Bleistift, wenn die richtige Antwort nicht sogleich erfolgte, recht derb auf den Kopf zu stoßen, um der Behendigkeit des Verstandes nachzuhelfen. Ein Mitschüler, der die meisten Stunden mit mir gemeinsam hatte, er war im Sommer 62 aus einer Nachbargemeinde auf Empfehlung des dortigen Pastors von meinem Lehrer in Haus und Unterricht aufgenommen worden, ist oft mit schmerzendem Kopf von der Stunde aufgestanden: er war von langsamer Fassungskraft und hat mir oft leid getan, wenn er, bei redlichstem Fleiß, den Anforderungen nicht gewachsen war und nun dem unbarmherzigen Bleistift sich zu entwinden suchte. Dabei wurde ich, wenn ich etwas versah, nicht im mindesten nachsichtiger behandelt. Ich erinnere mich nicht eines einzigen Lobes, das mir während der anderthalb Jahre wäre zuteil geworden, obwohl vielleicht die Leistungen den Lehrer selbst einmal überraschten. Dagegen ist mir mehr als eine entschiedene Zurechtweisung im Gedächtnis geblieben, wenn ich hinter dem, was ich nach seiner Ansicht wohl hätte leisten können, zurückgeblieben war.[110] Einmal habe ich sogar nachbleiben müssen; es war bei dem Paradigma der regelmäßigen griechischen Konjugation. Ich hatte das ganze Verbum βουλεύω durchzukonjugieren aufbekommen, oder war es, nachdem ich in der vorigen Stunde das Aktivum gelernt hatte, nur das Medium und Passivum? Gleichviel, im Passivum verwirrte ich mich und blieb stecken. Es wollte nicht mehr zurechtkommen. Da mußte ich, nachdem wir die übrigen Aufgaben erledigt hatten, dableiben und lernen, nicht mit sehr bereitem Kopf, bis die Sache ging.

Einen Scherz oder ein Lachen hab ich von ihm während des Unterrichts überhaupt nicht gehört; er war sonst in der Unterhaltung mitteilsam, auch wohl zu einem Schnack oder Spaß geneigt: als Lehrer war er ernst und streng, bis an die Grenze der Härte, was vor allem mein eben erwähnter Mitschüler öfters erfuhr; ich hatte an ihm gewissermaßen einen Blitzableiter. Daß mir die Strenge übel bekommen wäre, kann ich nicht sagen; für meinen Kameraden wäre wahrscheinlich etwas mehr Geduld und Nachhilfe förderlicher gewesen als der unfühlende Bleistift. Ich mußte, als ich später in der Selbstbiographie J. St. Mills die Charakteristik des Vaters und des Unterrichts las, den er von diesem erhielt, an meinen Pastor Thomsen denken. Auch hier der gleichmäßige, unerschütterliche Ernst; auch hier das Prinzip: die Zeit aufs äußerste auskaufen; auch hier der völlige Ausfall des Lobes, der Anerkennung oder gar der Bewunderung des Schülers, der sie doch innerlich dem Vater ohne Zweifel durch seine Leistungen nicht selten abnötigte: ein Knabe von 9 Jahren, der griechische Schriftsteller, Plato z.B. und Plutarch, vom Blatt liest, war gewiß auch damals keine gewöhnliche Erscheinung. Mill schließt seine Darstellung mit der Bemerkung: ein Schüler, von dem nie etwas verlangt wird, was er nicht oder noch nicht leisten kann, wird nie alles leisten, wozu er fähig ist. Ein sehr wahres Wort; und so bin ich auch durchaus überzeugt, daß unter den beiden Fehlern des Lehrers: zu großer Strenge und zu großer Nachsicht, der letztere der gefährlichere ist. Allzu viel Nachsicht und Geduld, allzu leichtes Herabsetzen der Forderungen verwöhnt und verweichlicht; der Schüler gewöhnt sich, die Sache nicht ernst zu nehmen, weil auch der Lehrer sie als eine erläßliche anzusehen scheint, und habituelle Erschlaffung ist das Ende.

Ich sagte, daß ich Pastor Thomsen im Unterricht niemals lachen gehört habe. Einer Ausnahme erinnere ich mich doch. Ich hatte die hebräische Konjugation auf; das Paradigma katal gab allerlei mir komisch in die[111] Ohren fallende Formen, die mich schon beim Lernen zu Hause zum Lachen gebracht hatten. Ich war überhaupt als Knabe für komische Lautbildungen sehr empfänglich, manche reizten mich unwiderstehlich zum Lachen; meine Mitschüler in der Volksschule wußten es und haben mir dadurch mehr als einmal eine Tracht Prügel eingetragen: die Zuflüsterung eines kauderwelschen Worts wirkte unwiderstehlich auf meine Lachmuskeln, und der Versuch der Unterdrückung endete regelmäßig mit lautem Herausplatzen. Also ich beginne in der Stunde das Paradigma von katal aufzusagen; das Unglück wollte, daß die Braut des Pastors gerade in der Stube anwesend war; das erhöhte die nur mühsam noch beherrschte Spannung. Als aber die Formen des Futurums daran kamen: jiktol, tiktol, tiktoli, da ging der Lachreiz mit mir durch, und ich platzte laut heraus. Der Braut, sie war noch ein junges Mädchen, nicht viel älter als ich, ging es ebenso, sie mochte schon länger den seltsamen Lauten gehorcht haben. Da konnte auch Pastor Thomsen seinen sonst so unerschütterlichen Ernst nicht festhalten, er mußte mitlachen, und das hebräische Paradigma mußte für diesmal beiseite gelegt werden. Die betreffenden Formen aber blieben für uns seitdem eine kitzliche Stelle, über die wir immer rasch und behutsam hinwegzukommen suchten.

So viel von dem Unterricht bei Pastor Thomsen. Ihm und meinem Lehrer Brodersen bin ich unter allen meinen Lehrern am meisten zu Dank verpflichtet. Er hat mit nie nachlassendem Eifer und Ernst mir die Elemente des gelehrten Wissens, im besonderen des Sprachwissens, eingeprägt; ich weiß nicht, ob ich auf anderem Wege zu einem so sicheren Besitz der Grundlagen hätte gelangen können. Meine späteren Gymnasialerfahrungen lassen es mir überhaupt zweifelhaft erscheinen, ob ich auf dem langen Wege durch die unteren und mittleren Klassen jemals an das Ziel gelangt wäre; ich fürchte, ich wäre dabei bald in den üblichen Schulschlendrian gefallen und hätte dann, des nötigen Futters oder also der notwendigen strengen Arbeit entbehrend, durch die Neigung zu allerlei Allotriis mich ganz verloren oder wäre als hoffnungslos ausgeschieden worden. Der rasche Gang an scharfen Zügel war das meiner Natur Gemäße. Das erkannte auch mein Lehrer mit seinem sicheren Blick, und da diese Gangart auch seinem Naturell entsprach, so war das Verhältnis von Lehrer und Schüler das glücklichste. Bemerken will ich übrigens doch noch dies: das Honorar für den gesamten Unterricht hatte Pastor Thomsen auf 10 Speziestaler im Vierteljahr,[112] das sind 45 Mark, festgesetz, die ich ihm am Ende jedes Termins in einer kleinen Rolle mitbrachte. 270 Mark war demnach der ganze Aufwand für meinen Gelehrtenschulkursus von VI–U.II, etwa so viel, als jetzt oft in einem Semester für Nachhilfestunden ausgegeben wird. So bescheiden waren die Verhältnisse und Ansprüche jener Zeit.

Auch das halte ich noch für der Erwähnung wert, daß ich zu Hause ganz und gar in der alten Stellung blieb; es wurden keinerlei Umstände mit mir gemacht. Von einer »Studierstube, wie sie jetzt schon der Sextaner braucht, um nicht in seinem tiefen Nachdenken gestört zu werden, war keine Rede, es gab sie einfach nicht im Hause. Im Sommer hatte ich freilich die Wohnstube in der Regel allein; im Winter aber wurde sie, da hier allein geheizt wurde, von den übrigen Bewohnern, namentlich den weiblichen, mitbenutzt. Am Abend sammelte sich die ganze Hausgenossenschaft um den großen Tisch und ein Licht, und ich präparierte meinen Virgil oder Homer unter dem Gespräch der arbeitenden, spinnenden, plaudernden Gesellschaft. Da niemand eine Ahnung davon hatte, daß es anders sein könne, so ging die Sache ohne allen Anstoß. Ebenso war es selbstverständlich, daß ich, wenn Not an den Mann ging, bei der Erntearbeit oder wo sonst ein paar Hände gebraucht wurden, mit zugriff: daß es hierfür als für das erste Notwendige an Zeit fehlen könne, kam wieder niemand in den Sinn. Auch mit den alten Schul- und Spielkameraden wurde die Gemeinschaft fortgesetzt, ohne daß es ihnen oder mir eingefallen wäre, daß es anders sein könne. Gesegnete Selbstverständlichkeiten, in denen ich damals so weiterlebte.

Und nun, indem ich mich anschicke, von Elternhaus und Heimat Abschied zu nehmen, um in die Fremde zu ziehen, dem ungewissen Glück entgegen, kann ich nicht umhin, Gott aufs innigste zu danken für all den Segen, den er mir mit ihnen geschenkt hat. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gefunden hätte, die folgenden Jahre zu überstehen und aus allerlei Abfall und Entartung mich wiederzugewinnen, wenn ich nicht von dorther einen Fonds robuster Kraft und eine nie ganz erloschene, wenn auch zeitweilig fast verschüttete Anschauung von dem, was dem Leben allein Würde und Wert gibt, als Ausstattung mit erhalten hätte. Der Gedanke an das Elternhaus, durch häufige Rückkehr dahin immer frisch erhalten, hat nie aufgehört, mir als Mahner gegenwärtig zu sein; er hat den größten Anteil daran gehabt, daß ich mich endlich auf den rechten Weg zurückgefunden habe.

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 101-113.
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