[954] S. Luitbirga, V. (1. Jan., 31. Mai, 30. Dec.) Diese hl. Luitbirga starb als Incinsin oder Reclusin bei der sg. Roßtrappe, im heutigen Dorfe Thale, an der Bode, wo eine besonders merkwürdige Felsenpartie den Ausgang des hercynischen Waldes bezeichnet, um das J. 870245. In unserm Werke ist sie bereits unter dem Namen Leutbergis notirt und als Varianten desselben sind dort Luitberga und Luitpurga angegeben. In den von ihr vorhandenen, von Pertz herausgegebenen ächten Acten246 heißt sie Liutbirga. Bei den Boll. findet sie sich auch zum 28. Febr. (III. 718) als Luithburga, dann zum 31. Mai als Luitperga und Luitpurga (VI. 766) angegeben. [Die Grundbedeutung des Namens: »Leute bergend«, d.i. schirmend, ist bei allen diesen Abweichungen die gleiche.] Sie wurde am Anfang des 9. Jahrh. als Tochter des Hessus. Fürsten der Ostphalen (Stammvater des hessischen Fürstenhauses), der sich im J. 775 mit Karl d. Gr. verbündete und im J. 804 als Mönch zu Fulda sein Leben beschloß, nachdem er vorher das Kloster Winadohosum247 gegründet und sein Vermögen unter seine zwei Töchter Gisla und Liutbirga vertheilt hatte, geboren. Sie wohnte im Hause ihrer Schwester Gisla, welche verheirathet war248, konnte aber den Uebungen der Frömmigkeit nachgehen, wie sie wollte. Sie that es auch und lebte mit ihrer Schwester in inniger Liebesgemeinschaft (in summo caritatis persistens officio). Allen, die sie kennen lernten, war sie in kurzer Zeit theuer geworden; jedes Jahr konnte man neue Tugendblüthen an ihr bemerken. Sie war vorsichtig in Ertheilung von Rathschlägen, treu in Allem, was man ihr anvertraute, freigebig gegen die Armen, allezeit thätig, von hervorragender Gottesfurcht, sorgfältig für die Kranken, gegen Alle von ausnehmender Güte, jederzeit bereit, Streitende zu versöhnen. Auf solche Weise eröffnete sie Allen den Schoos ihrer Mildigkeit, liebte Alle und wurde wieder von Allen geliebt. Täglich war sie bemüht, in der Vollkommenheit zu wachsen, Gott und den Menschen mehr zu gefallen. Im Gebete unablässig, waren Psalmen und geistliche Gesänge ihre liebste Erheiterung, das tägliche Lobopfer ihres frommen Herzens. Was sie immer für gut und gottgefällig hielt, dem ging sie von ganzem Herzen und mit größtem Eifer nach (quaecunque bona, Deoque placita censuerat, toto cordis ambiebat affectu). Sir las ununterbochen in den heiligen Schriften, welche sie täglich betrachtete, um immer ein wenig vorwärts zu kommen, wenn die nicht ihr Geschlecht daran gehindert hätte. Ueberhaupt muß sie geistig sehr begabt geweswn seyn, denn ihre Lebensbeschreibung sagt von ihr, sie sei in allen weiblichen Arbeiten ein Dädalus gewesen, welche sie am liebsten für die Armen verrichtete, weßhalb [954] sie von ihnen als zweite Mutter angesehen und geehrt wurde. Ihr ganzes Betragen war so einnehmend und liebenswürdig, daß selbst Fremde ihr sehr zugethan waren, bevor sie noch Gelegenheit hatten, sie recht kennen zu lernen (prius cara quam nota). Als Gisla starb und ihr Sohn Bernhart das väterliche Schloß übernahm, vollzog dieser genau, was die Mutter ihm sterbend ans Herz gelegt hatte, daß er nämlich Luitbirga als seine Schwester lieben und pflegen möge. Er heirathete Reginhilda, die Tochter eines Grafen, Namens Lothar, die aber, nachdem sie ihrem Manne zwei Söhne, Bernhart und Otwin, geboren hatte, starb. Seine zweite Frau, Helmburgis, setzte das freundliche Verhältniß zu Luitbirga, welches schon Reginhilda mit größter Sorgfalt bewahrt hatte, fort. Diese wurde mit den Jahren und je mehr sie ihre Angehörigen und alle Menschen liebte, strenger gegen sich selbst. Nachtwachen und Abtödtungen jeder Art, verbunden mit steter Arbeit magerten ihren Körper derart ab, daß die Haut an den hervorstechenden Beinen herabhing. Täglich wohnte sie in der Kirche dem ganzen Gottesdienste (der Messe und den Tagzeiten) bei. Weilte sie an einem Orte, wo sich keine Kirche befand, so stand sie schon vor Tags auf, um zur nächstgelegenen Kirche noch zu rechter Zeit zu kommen. Jedesmal pflegte sie auch die hl. Communion zu empfangen, worauf sie wieder den Weg nach Hause antrat. Zu besondern Zeiten that sie dieß mit bloßen Füßen, um sich noch mehr abzutödten. Von diesen Wanderungen ließ sie sich nicht abhalten, wenn auch die Gegend durch Räuber oder wilde Thiere (Wölfe) unsicher war. Einst kam der Bischof Theotgrim (Dietgrim, Thiatgrim, Thiagrius) von Halberstadt249 – vom J. 827 bis 8. Febr. 840 – in das Schloß des ihm befreundeten Grafen. Luitbirga ersah hierin eine willkommene Gelegenheit, ihm einen wahrscheinlich längst gehegten Wunsch vorzutragen. Sie bat ihn nämlich kniefällig, ihr zur Abbüßung ihrer Sünden den Schleier zu geben und sie in eine Zelle einzuschließen. Graf Lothar widersetzte sich dieser Bitte, und der Bischof pflichtete ihm bei. Aber ihr Entschluß stand fest; auch die Zelle, in welcher sie sich einzuschließen wünschte, war bereits vorgesehen – eine Höhle, welche mit der über ihr gebauten Kirche im Orte Michaelstein noch vorhanden ist. Der Bischof vollzog den Act mit großer Feierlichkeit. Die Zelle wurde mit Weihwasser besprengt und Luitbirga in dieselbe eingeführt mit dem Auftrage, daß sie beständig darin zu verbleiben habe. Schließlich sprach der Bischof über sie das Gebet, der Herr möge ihr die Gnade geben, ihren Kampf zu einem guten Ende fortzuführen. Nun begann für die Heilige ein neues Leben, da sie jetzt erst Gelegenheit hatte, abgeschieden von aller Welt sich mit Gott allein zu beschäftigen. Dem Gebete und der Betrachtung lag sie jetzt noch emsiger ob als früher, ihre Nahrung bestand nur in Brod und Wasser, das sie mit Gemüsen und Salz köstlicher machte. An Sonntagen kamen hiezu noch kleine Fischlein, aber nur selten. Wenn es Früchte gab, die ihre Leibspeise waren, so ließ sie manchmal sich auch von diesen bringen. In freien Stunden beschäftigte sie sich außer gewöhnlichen Handarbeiten auch mit Malen, worin sie große Kunstfertigkeit besaß. Nicht umsonst hatte der Bischof für sie Stärke in den bevorstehenden Kämpfen erfleht, denn Versuchungen und teuflische Nachstellungen von allerlei Art fehlten nicht. Sie hielt tapfer aus und schlug dieselben zurück, indem sie sich mit Weihwasser besprengte und mit dem hl. Kreuze bezeichnete. Es scheinen sich ihr Gleichgesinnte angeschlossen zu haben; ihre Lebensbeschreibung sagt nämlich, sie habe täglich die Messe angehört und zu den gehörigen Stunden (horis competentibus) »mit den Schwestern« gesungen250. Als treue Tochter der römischen Kirche fastete sie gerne auch an Samstagen, weil sie gehört hatte, daß an diesem Tage auch zu Rom gefastet werde, weil an ihm Christus der Herr im Grabe gelegen war. Sie lebte so lange Zeit in ihrer Zelle, daß sie nicht bloß der Bischof Hemmo (Haimo, Heimo) von Halberstadt (vom J. 840 bis 853), sondern selbst der hl. Ansgar (Anskar) von Hamburg (vom I. 834 bis 865) noch besuchen konnte. Ihr Tod fällt auf den 1. Jan. in die Zeiten »Ludwigs des Jüngern,« des[955] Deutschen, welcher vom J. 840 bis 876 regierte. Sie wurde in der Kirche beigesetzt, wie die Acten beisetzen – »zu Ehren dessen, welcher noch Alle, die auf Ihn hoffen, zu schützen sich gewürdiget hat.« Ihr seliger Tod fällt zwischen die Jahre 857 und 870. Dreißig Jahre hatte sie in ihrer Zelle als Inclusin zugebracht. (Pertz, mon. Scr. IV. 158–164.)