Anlage

[41] Anlage ist die angeborene Fähigkeit, welche durch Übung zur Fertigkeit werden kann. Über ihr Wesen sind zwei[41] extreme Ansichten vorhanden. Locke (1632-1704) und Beneke (1798-1854) betrachten den Geist des Neugeborenen als eine leere Tafel (tabula rasa), auf die Erfahrung und Erziehung den Inhalt schreiben. Origenes (185-254), Kant (1724-1804) und Schelling(1775-1854)sind der Ansicht, die Seele sei durch einen Fall vor der Geburt so geworden, wie sie jetzt ist. Zwischen jenen Empirismus und diesen Mystizismus hat sich die genetische Betrachtungsweise gestellt, welche im geistleiblichen Organismus eine durch die Jahrtausende erworbene und vererbte Disposition zu gewissen Fertigkeiten erkennt, mag man sie materialistisch oder spiritualistisch erklären. Es ist wohl unleugbar, daß jeder Mensch schon durch sein Geschlecht, ferner durch seine Konstitution und sein Temperament, sodann durch das verschieden geartete Verhältnis der einzelnen Seelenkräfte und der vegetativen und animalen Funktionen untereinander besondere Anlagen mit auf die Welt bringt. Weil besonders Phantasie, Empfindung, Verstand oder Wille der Anlage nach verschieden stark angeboren zu sein pflegen, so kann man von Kind auf an den Menschen eine verschiedene Empfänglichkeit für Kunst, Wissenschaft, sittliche und praktische Tätigkeit beobachten. Ein höherer Grad von Anlage heißt Talent, der höchste: Genie. – Natürlich finden sich auch bei ganzen Familien und Völkern gewisse, durch Gewöhnung, Klima, Bodenbeschaffenheit und Vererbung befestigte Anlagen. Vgl. Instinkt, Nativismus, Vererbung.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 41-42.
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