11. Kapitel.

Gegen Tiere.

[52] »Als ich einmal eine Spinn' erschlagen,

Dacht' ich, ob ich das wohl gesollt,

Hat ihr doch Gott wie mir gewollt

Einen Anteil an diesen Tagen.«

Goethe.


Quäle nie ein Lebewesen!

Schau dem Tier ins Aug hinein,

Drin kannst du die Bittelesen:

»Schone, Mensch! erbarm dich mein!«


Nie soll der Mensch das Tier verachten,

Als Mitgeschöpf soll er's betrachten.


[52] Ein Mensch, der Tiere quälen kann,

An ihren Schmerzen sich mag weiden,

Den rühren auch nicht Menschenleiden,

Der wird gar leicht auch ein Tyrann.


Tier und Mensch nach Frieden lechzen,

Tier und Mensch in Leiden ächzen.


Zum frohen Dasein hat Natur

So Tier wie Mensch erschaffen.

Das Tier auch zeigt der Gottheit Spur

Vom Käfer bis zum Affen.


Scherz treiben mit der Tiere Schmerzen

Kann nur, wem Roheit wohnt im Herzen.


Denn in einem gesitteten Gemüte

Mitleid entfaltet die zarte Blüte.


Es ist den Tieren nur beschieden

Gar eine kurze Spanne des Lebens,

Drum laßt das Tier in Frieden

Und plagt es nicht vergebens.


Fühlt nicht der Wurm ein Weh wie du,

Wenn andre Böses dir fügen zu?


Wie wir empfinden reine Luft,

Wenn wir Verschmachtende tränken

und speisen,

Also fühlt sich gehoben die Brust,

Wenn wir den Tieren Wohlthat erweisen.


Du mußt nicht den thörichten Glauben hegen,

Das Tier sei da bloß des Menschen wegen.


[53] Den schönsten Kranz erringt, wer gut,

Weder Menschen noch Tieren Böses thut.


Schmerz zu mildern, Not zu lindern

Ziemet edlen Menschenkindern.

Gegen Tiere, noch so klein,

Sollst du freundlich, gütig sein.


Nie dürfet ihr

Einen Hund oder sonst ein Tier

Auf einen Menschen hetzen;

Auch nicht zum bloßen Scherz,

Um ihn in Angst zu versetzen:

Dergleichen beweist ein rohes Herz.


Merket:


Ein gaukelnder Falter ist feiner Scherz:

Die bunten Flügel im Sonnenlicht glänzen.

Eine lästige Fliege ist plumper Spaß:

Ersetzt den Witz durch Impertinenzen.

Stets bleibe der Spaß in des Anstands Grenzen.
[54]

11. Kapitel: Gegen Tiere

Sah ein Knab' ein Vögelein,

Vögelein im Neste,

Zierlich, wie ein Bettchen sein,

In des Baums Geäste.

Knabe streckt' die Hände aus,

Wollt's nach Hause bringen:

»Sollst fortan bei mir zu Haus

Zwitschern, pfeifen, singen«.
[55]

Vöglein auf zum Knaben sah

Mit den hübschen Aeuglein:

»Lieber Knabe, laß mich da,

Zwischen grünen Zweiglein!

In der Freiheit ist's so schön,

In dem Duft der Linden.

Mutter wird vor Schmerz vergehn,

Wird sie mich nicht finden«.


Knabe zwang des Herzens Gier,

Fühlt' ein mildes Rühren.

Sprach: »Lieb Vöglein, bleibe hier,

Will dich nicht entführen.

Hier im grünen Waldpalast

Sprosse dein Gefieder.

Flattre froh von Ast zu Ast,

Singe süße Lieder«.
[56]

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 52-57.
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