[113] Das folgende Jahr An. 1702 im Früh-Jahr starb meine Mutter; und ich erkannte, daß ich wohlgetan, daß ich dieselbe, und ihr weniges Vermögen mir zu Nutze gemachet, weil [während] sie noch gelebet; denn sonst würde nach ihrem Tode meine Promotion in Magistrum noch lange sein verschoben worden. Ich beweinte ihren Tod sehr, und noch mehr mich selbsten. Denn nun, sprach ich bei mir selbsten, magst du dein Beten verdoppeln; denn die ist tot, die vielleicht bisher manches Unglück durch ihr Gebet von dir abgewendet, das dich sonst würde betroffen haben. Ob ich mich wohl nichts Böses zu Gott versahe, vielweniger ihn vor meinen Feind hielt, sintemal ich zulängliche Merkmale seiner Liebe hatte, welche öfters reichlich in mein Herze durch seinen Geist ausgegossen wurde; jedoch weil ich schon viel seltsame Wege Gottes mit den Menschen an andern wahrgenommen, und An. 1695 im 20. Jahre meines Alters sowohl seine Güte, als auch seinen Zorn geschmecket; so besorgte ich immer nach meiner noch überbliebenen Furcht, welche die Liebe zu Gott noch nicht völlig ausgetrieben, nunmehr, da meine Mutter tot, würden seine wunderbare Gerichte und Prüfungen über mich in größerm Maße ausbrechen. Und es geschahe auch, wie ich gedacht hatte. Zwar gieng es mir zu Anfang dieses Sommers dermaßen wohl, daß es nicht anders schien, als ob Gott den letzten Wunsch und Segen, den mir meine Mutter sowohl bei meinem Abschiede aus Breslau, als auch bei ihrem Abschiede aus der Welt gegeben, erfüllen wollte. Denn ich bekam eine feine Condition und Information [Unterrichtsstelle] auf dem roten Collegio, wohin ich auch zoge; und Gott hatte daselbst einer armen Witwen geboten, daß sie mich versorgen sollte. Das war die Frau Schultzin, des ehemaligen Depositors [verstorbenen Depositenverwahrers] hinterlassene Wittib. Sie hatte einen Sohn, der jetzt Pastor in Schönborn, nicht weit von Görlitz, ist. Derselbe sollte ad Studia Academica præpariret werden, und ich trug kein Bedenken, die Condition [Stelle] anzunehmen. Ich bekam vor meine Mühe des Jahrs 30 Rtl. Doch die Mühe war nicht groß, und wurde mir meine Arbeit durch die Lehr-Begierigkeit meines Discipels [Schülers], der damals ein Knabe oder Jüngling von 16 Jahren war, ungemein versüßet. Es war bei ihm lauter Eifer etwas zu lernen, und dabei so viel Lust, Munterkeit und Freundlichkeit, daß ich mit lauter Freude an meine Arbeit[114] gieng. Der vorige Informator [Hauslehrer], der mir diese Condition zugewiesen, hatte bei ihm, weil er lahm, durch fleißiges Tractiren [Behandeln] der Latinität und der Autorum Classicorum den Grund zu einem zukünftigen Schulmanne geleget; und ich wollte auch auf diesen Grund bauen, oder den angefangenen Bau fortsetzen; allein das Predigen steckte dem Knaben im Herzen von Mutter-Leibe an; und da er mich am ersten Pfingst-Tag 1702 in der Niclas-Kirche mit Vergnügung und Verwunderung über meine wenige Gaben und Parrhesie [Freimut] predigen gehöret, so war er nicht mehr zu bedeuten [halten]. Er las Predigten, er machte Predigten, er hielte zu Hause Predigten: Er bekam einen Geschmack von Meditationibus, vom Beweglichen [Rührenden] und Scharfsinnigen, so daß ich alle Not hatte, ihn bei den Humanioribus [philologischen Fächern] zu erhalten. In den Stunden, da ich Königs Theologiam Positivam ihm erklärte, und die Polemic damit verknüpfte, war er viel emsiger und aufmerksamer, als wenn wir einen Autorem oder Poeten vor uns hatten; insonderheit da etliche Studiosi dazu traten, und ihn mit ihrem Fleiße noch mehr anfeuerten. Die erbaulichen Predigten, die er jetzt noch in seinem Amte hält, und seine schöne Tractate, die er bisher unter dem Titel: Davidisches Erkänntniß herausgegeben, in welchen er an Scharfsinnigkeit den Engeländern es zuvor tut, und in welchen er dem seligen Inspector Neumann, dessen Schriften er vor diesem auf meine Recommendation [Empfehlung] gelesen, vor trefflich nachgeahmet, bewegen mich zu glauben, daß er ein Prediger werden sollen, und von Gott von Mutter-Leibe an dazu bestimmet gewesen [vgl. Jes. 49,1].