Anno 1704
§ 58

[142] Nun dieser Traum, den ich stets vor einen göttlichen Traum gehalten, wurde Sonntags nach den [Pfingst-] Feiertagen, oder am Trinitatis-Feste erfüllet. So elend ich zwei Tage zuvor, und ohne allen Trost war, so resolvirte [entschloß] ich mich doch zum Heiligen Abendmahl zu gehen. Vor 6 Wochen war ich in der Neuen Kirche zur Beichte gewesen, dieses mal aber gieng ich in der Thomas-Kirche. Mein ordentlicher [gewohnter] Beicht-Vater, Herr Lic. Horn, war krank, und konnte nicht Beichte sitzen, mußte also bei Herr D. Seligmannen beichten. Ich hatte bisher lange Zeit vor großer Herzens-Angst keine Tränen vergießen können; denn es schiene, als ob der Himmel, und mein Herz eisern wären; und nun, da ich beichten sollte, konnte ich anfangs kein Wort vorbringen, sondern fieng vor Betrübnis meiner Seelen an zu weinen. Ich kann mich nicht mehr besinnen, ob ich fähig gewesen, meine Beichte ordentlich abzulegen; so viel erinnere ich mich doch, daß mich bald anfangs der Herr Doctor versicherte, diese Tränen wären vom Geiste Gottes gewürket, und eine Anzeige einer aufrichtigen Buße. Weil ich dabei abscheulich im Gesichte aussahe, so glaube ich, daß er selbst im Absolviren perturbiret [beim Lossprechen verwirrt] wurde, indem[142] er von der præmeditirten Absolution [vorher überlegten Zuspruch bei der Lossprechung] also abzugehen genötiget wurde, und die Sachen, die er mir zum Troste vorsagte, eben in keiner sonderlichen Ordnung zusammen setzte. Endlich faßte er einen größern Mut, und fieng mit beweglicher [rührender] Stimme an und sprach: Ich nehme alles, was des Herrn Magisters Herze drückt, alle seine Sünden, die er jemals begangen, sie mögen so groß sein, als sie wollen, zusammen, und werfe sie in die Wunden Jesu, Gott wird derselben nimmermehr gedenken, Er gehe hin im Friede. Diese mutige Zuredung öffnete vollends den Brunnen meiner Tränen, der vormals verstopft war. Denn meine Zuversicht wurde so groß, so daß sie kaum hätte größer sein können, wenn gleich Gott vom Himmel selbst solche Worte zu mir gesprochen hätte. Die Freude, womit mein Herze war angefüllet worden, und das innere Jauchzen und Frohlocken über der Stunde meiner Erlösung, die so unverhofft gekommen, ließen nicht zu, daß ich die Tränen hemmen konnte, die vor Freude und Liebe zu Gott Strom-weise aus den Augen brachen, so daß ich nichts darnach fragte, ob die, so neben mir stunden, und saßen, mich mit Erstaunen ansahen. Im Heim-Wege lief ich über den Markt, wie ein trunkener Mensch, voll innerliches Jauchzens, und konnte kaum mehr gehen, so daß ich meinte umzufallen. Auf eine Stunde ist deine Erlösung kommen, sprach ich bei mir selbst: Gott hat heute gemacht solche Freude, deren wir vergessen sollen zu keiner Stunde. Mit uns ist Gott nun in der Not, wer ist, der uns, als Christen, kann verdammen? Brevis pugna pacem peperit longam & æterna gaudia. Und was der guten Gedanken und Einfälle mehr waren. Den ganzen Tag, und viel folgende drauf, so oft ich nur gedachte an das, was geschehen war, und was Herr D. Seligmann gesaget hatte, und an den Trost, womit ich mich selbst, oder Gott durch mich aufgerichtet hatte, gieng das Jauchzen und Frohlocken samt den Freuden-Tränen, immer wieder von neuem an. Meine schwarze und finstere Augen wurden weiß, und fröhlich, daß sich meine Bekannten über die freudige Gestalt meines Antlitzes verwunderten. Meine Collegia, vor deren fernern Fortsetzung mir die Feiertage über gegrauet hatte, (denn in der Melancholie deuchten einem die kleinsten und leichtesten Verrichtungen lauter große Berge zu sein, die man nicht werde übersteigen können,) giengen Montags nach Trinitatis wohl von statten. Ja da ich Mittwochs nach dem 1. Post Trinitatis [1. Sonntag nach Tr.] in der Niclas-Kirchen, weil der Circular-Prediger krank geworden, mit guter Approbation[143] [Zustimmung] der Zuhörer predigte, so wuchs die Zahl meiner Auditorum im Collegio elaboratorio, hebraico, und auch im Disputatorio [Predigt-, Hebräisch-, Disputationskurs].

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 142-144.
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