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Der Verkehr mit den Achtundvierzigern in Stuttgart brachte mich auch in Berührung mit anderen Persönlichkeiten der literarischen Welt Schwabens, namentlich als der Literarische Klub gegründet wurde, dem ich längere Zeit angehörte. Schmidt-Weißenfels war der erste Vorsitzende dieser Vereinigung, deren gänzlich unpolitischer Charakter strengstens durchgeführt wurde, wenigstens in der Zeit, so lange ich dabei war. Wie es sich jetzt damit verhält, weiß ich nicht.
Von Gesinnungsgenossen fand ich in diesem Verein nur Wilhelm Eichhoff vor, dessen interessante Vergangenheit außer mir nur wenigen bekannt war, da er selbst selten davon sprach. Auch in der Sozialdemokratie wußte die damalige Generation nur wenig oder nichts davon. Wir waren in Berlin miteinander bekanntgeworden und hatten uns bald einander genähert. Eichhoff war, nachdem er mehrere Universitäten besucht, in der Berliner Polizeiverwaltung angestellt worden. Was er dort sah und hörte, trieb ihn zur Opposition. Namentlich war er über die Machenschaften des bekannten Stieber empört und beschloß diesem »gewiegten Kriminalisten« zu Leibe zu gehen. In der Reaktionszeit der fünfziger Jahre ließ er im Londoner »Hermann« eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel »Berliner Polizei-Silhouetten« erscheinen, die ein ungeheures Aufsehen erregten, da sie intime Vorgänge innerhalb der preußischen Polizei ans Tageslicht zogen. Aus den Enthüllungen von Karl Marx über den Kölnischen Kommunistenprozeß, die wenig in die große Öffentlichkeit gedrungen waren, zog Eichhoff den Schluß, daß Stieber in jenem Prozesse einen Meineid geleistet habe. Man kam indessen dem Verfasser der »Polizei-Silhouetten« auf die Spur, der sich durch eine rechtzeitige romantische Flucht über Hamburg nach England der Verhaftung entzog. Gegen Stieber aber wurde ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse eingeleitet, wobei er zwar freigesprochen, aber zur Disposition gestellt wurde. In dem Prozeß gegen Stieber sagte der Oberstaatsanwalt, daß die Autorität der Polizei nicht erschüttert werden dürfe. Stieber wurde 1866 und 1870 wieder angestellt und zwar als Chef der Feldpolizei.
Eichhoff wurde in London mit Marx und Engels bekannt und schloß sich der Internationale an, über die er eine lange als beste Quelle geltende Schrift herausgab. Die in dem Briefwechsel zwischen Marx und Engels über ihn enthaltenen manchmal wenig liebenswürdigen Urteile sind aus der damaligen Stimmung zu erklären. Nach mancherlei Schicksalen kam Eichhoff nach Stuttgart, wo er leitender Redakteur der »Schwäbischen Tagwacht« wurde. Er starb 1895 im zweiundsechzigsten Jahr.[213]
Im Literarischen Klub wurde ich mit einer Reihe von Schriftstellern bekannt, die mir sehr liebenswürdig entgegenkamen. Karl Weitbrecht war von seiner früheren Gehässigkeit gegen die Sozialdemokratie abgekommen und kämpfte jetzt mit allerlei Sorgen. Er suchte als Dramatiker emporzukommen, hatte aber kein Glück. Er war auch leicht zu verärgern. In seinem Drama »Sigrun« geht es sehr blutig zu und ein Kritiker ließ zwei Backfische in Erwartung einer Wiederholung der Aufführungen der »Sigrun« sich unterhalten, wobei es hieß:
»Lieschen spricht, die seine Puppe:
Morgen gibt es Metzelsuppe!«
Statt darüber zu lachen, wollte Weitbrecht vor Wut schier zerplatzen. Er kam zu mir und teilte mir mit, er wolle ein Lutherdrama schreiben, aber er wisse nicht, welche Episode er behandeln solle. Ich riet ihm, den gewaltigen sozialen Konflikt, der sich in der Unterhandlung Luthers mit Kohlhaas auftut, dramatisch zu verwerten. So entstand die Tragödie »Schwarmgeister«, die aber nicht gelang, weil Weitbrecht sich zu sehr mit historischem Ballast bepackt und die Tiefe des Konflikts nicht erfaßt hatte. Das Stück wurde in Berlin brutal abgelehnt. Weitbrecht lebte in Täuschungen; so glaubte er, seine im Jahr 1870 gedichteten Soldatenlieder (»Von einem, der nicht mit darf«) seien in der ganzen deutschen Armee gesungen worden, während sie in Wahrheit den Soldaten unbekannt blieben.
Durch Weitbrecht wurde ich mit Eduard Paulus bekannt, der als Dichter wohl weniger hoch anzuschlagen ist, denn als kunsthistorischer Schriftsteller. Daß er Spuren Dietrichs von Bern auf dem Hohenneuffen und auf der Diepoldsburg bei Kirchheim unter Teck suchte, ist nicht sehr ernst genommen worden; ich vermute auch, daß einige tiefsinnige und überlange Artikel über den Ursprung des Namens Achalm von ihm herrührten, über den sich so viele Gelehrte den Kopf zerbrachen.1
Die hübschen Verse von Paulus, in denen er den Reichtum Schwabens an Dichtern und Denkern schildert:
»Der Schiller und der Hegel,
Der Uhland und der Hauff,
Das ist bei uns die Regel,
Das fällt uns gar nicht auf –«
sind bekannt. Weniger bekannt sind aber andere, einst im engeren Zirkel zum besten gegebene Verse von Paulus, die wohl aufbewahrt zu werden verdienen.[214]
Ein Metzgerverein hatte Paulus um eine poetische Inschrift für ein Schlachthaus gebeten, und Paulus sandte die Verse:
»Leider die größesten
Ochsen und bösesten
Schlachtet man nie!
Denn es ist wunderbar,
Beinah' einhundert Jahr
Wird solch ein Vieh!«
Die Metzger sandten das Gedicht zurück und meinten, für ein Schlachthaus passe es nicht; es scheine eher für ein Rathaus bestimmt zu sein.
Johannes Prölß gab sich viele Mühe, in diesem Kreise den angenehmen Schwerenöter zu spielen, aber er konnte es zu der gewünschten Beliebtheit nicht bringen. Er war literarischer Beirat, ref. Lektor bei Kröner (Union), der ihn sehr ausnützte. Prölß klagte mir, daß er im Monat achtzehn bis zwanzig Romane im Manuskript lesen müsse, wovon ihm im Kopfe ganz dumm werde. Der Cottasche Verlag übergab ihm ein reiches Material über das »junge Deutschland«; Prölß hat aber nicht daraus gemacht, was ein anderer vielleicht daraus gemacht hätte. Seine verdienstvollsten Arbeiten sind die Biographien von Viktor Scheffel und Friedrich Stoltze. Nur besaß er kein rechtes Verständnis für den Humor dieser beiden Dichter, da er selbst gänzlich humorlos war. Wenn ich mich recht erinnere, so hatte er die Auffassung, daß der Humor im Pfarrhause zu Ziegelhausen Galgenhumor gewesen sei. Denn Scheffel habe um eine geliebte Schwester und mein Onkel, Pfarrer Christoph Schmezer2, um eine geliebte Frau getrauert. Daß diese Auffassung eine grundfalsche, brauche ich kaum bemerken.
Prölß war leicht verletzt. Er traf einst in einer Gesellschaft von Schriftstellern mit dem alten Friedrich Bodenstedt zusammen. Der Dichter der »Mirza Schaffy« improvisierte gerne. Nachdem er fast alle Anwesenden bedichtet, äußerte auch Prölß den Wunsch, dieser Ehre teilhaftig zu werden. Bodenstedt erwiderte prompt:
»Auch auf den Scheitel dieses Mannes
Fiel ein Tropfen geweihten Oels;
Mit dem Vornamen heißt er Johannes
Und mit dem Vaternamen Prölß.«
Das hat Prölß nicht vergessen.
Sehr befreundet wurde ich mit Daniel Saul, dem Stuttgarter Vertreter der Frankfurter Zeitung. Ein fein gebildeter, geistvoller Mann mit reichen Gaben und von vortrefflichem Charakter erlag er leider in den besten Jahren der Tuberkulose, nachdem er in Nordrach vergebens[215] Heilung gesucht. Seine in der Stuttgarter Verlagsanstalt erschienenen Gedichte sind leider nicht nach Gebühr gewürdigt worden.
Der »lyrische Major« Karl Hecker, der, als er noch im Dienst, zu Pferde auf dem Exerzierplatz lyrische Gedichte gemacht, war gern gesehen wegen seines Humors und seiner witzigen Einfälle. Als ein Stuttgarter Mucker zu Mailand im List verunglückte, machte Hecker das Epigramm:
»Er fuhr per List von Mailand
Direkt zu seinem Heiland.«
Auch ich wurde einst das Opfer seiner Scherze. Es sollte mein Geburtstag zu Strümpfelbach im Remstal gefeiert werden und war in einem dortigen Wirtshaus Geflügel mit allerlei Zutaten bestellt. Dies hatte Hecker irgendwie erfahren. Als ich mit meiner Familie ankam, fanden wir Hecker, Prölß und Erich Schmidt vor; der letztere war gerade auf der Durchreise. Die Herren hatten uns das Geflügel »weggefressen, wie Major Hecker sagte. Erich Schmidt, der erst nachträglich erfuhr, welchen Streich er mir hatte spielen geholfen, entschuldigte sich sehr. Sie sind nun alle drei tot; möge es ihnen geschmeckt haben! Im Klub waren noch der joviale und liebenswürdige Fritz Regensberg, ehemaliger preußischer Artillerieoffizier, der eine Reihe interessanter Schilderungen über die Feldzüge von 1806 und 1870, an denen er teilgenommen, geschrieben hat, und Wilhelm Lauser, damals Redakteur von »Ueber Land und Meer«, der mir die Schmerzen anvertraute, die ihm junge und anmaßende Chefs bereiteten. Er kam später an die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«. Adolf Müller-Palm, der Chef des damals sich als »unparteiisch« gerierenden Stuttgarter »Neuen Tagblatt«, unterhielt uns viel mit Koulissengeschichten aus der höheren Stuttgarter Spießbürgergesellschaft. Oftmals saß ich auch neben dem Philosophen Eduard Zeller, der damals schon in den Neunzigen war; er war für eine »Exzellenz« von sehr bescheidenem Benehmen und bildete sich nicht einmal etwas darauf ein, daß er in Berlin schon bei Lebzeiten »ausgehauen« war.3 Er zitierte einmal scherzend den Witz vom Fallerslebener Hoffmann:
»Mach dich verdient ums Vaterland,
So wirst du ausgehau'n.«
Auch der »literarische General« Albert von Pfister kam mir sehr freundlich entgegen. Er war zwar ein streng konservativer Mann, aber von starkem Gerechtigkeitssinn, den er in seinen historischen Werken auch gegenüber den Achtundvierzigern betätigt hat. Als einmal im literarischen Klub es getadelt wurde, daß der alte Liebknecht bei[216] einem Kaiserhoch im Reichstag sitzen geblieben, sagte der General: »Ich bin konservativ und bin ein Gegner des allgemeinen Wahlrechts. Aber solange es besteht; kann ein Abgeordneter in dem auf Grund dieser Institution gewählten Reichstag seiner Gesinnung Ausdruck geben, wie er will.« Wir beiden Historiker plauderten gerne zusammen und als ich ihn kurz vor seinem Tode noch einmal im Walde bei Buoch traf, wo er seinen schönen Landsitz hatte, schlug er mir vor, mit ihm eine Fahrt zur Weinlese in den Taubergrund zu machen und dort die historischen Plätze aufzusuchen. Leider konnte dieser Plan nicht mehr ausgeführt werden.4
Eine der interessantesten Persönlichkeiten, die in dem literarischen Klub erschienen, war der ehemalige Obersteuerrat und spätere Oberbürgermeister Emil von Rümelin. Wir wurden bald bekannt und es entwickelte sich daraus eine Freundschaft, die zu vielfachem beiderseitigem Familienverkehr führte. Rümelin, ein glänzender Geist und eine gewinnende Erscheinung, hatte in seinen jungen Jahren manche Beiträge für sozialistischen Zeitschriften geliefert; als seine Anschauungen sich einer bestimmten Richtung anpaßten, wurde er Staatssozialist, wozu wohl sein häufiger Umgang mit dem Sozialökonomen und ehemaligen österreichischen Handelsminister Albert Schäffle beitrug. Rümelin veröffentlichte kurz bevor er zum Oberbürgermeister gewählt wurde, eine Schrift, in der er sich offen zum Staatssozialismus bekannte. Er bekannte sich als Gegner der Privatproduktion. Aber, sagte er, der Begriff der Gesellschaft, an welche die Sozialdemokratie die Produktionsmittel überzuführen gedenke, sei etwas Unbestimmtes. Nebelhaftes; die Produktionsmittel müßten in entsprechender Gliederung an die schon vorhandenen festen Organisationen, an die Gemeinde, den Kreis und den Staat übergehen. Wir stritten uns oft über diese Fragen herum und wenn man auch die Ansichten des geistvollen Mannes nicht teilte, so brachte die Unterhaltung mit ihm doch stets reichen Gewinn. Es war für die Stadt Stuttgart ein Unglück, daß dieser Mann, dem eine großzügige Kommunalpolitik vorschwebte, so früh durch den Tod abberufen wurde.
Gegen Rümelin war nach seiner Wahl vom Stuttgarter Spießbürgertum und der Muckerschaft eine wütende Hetze betrieben worden, um die Bestätigung der Wahl zu verhindern; der Sohn eines »angesehenen« Bürgers war sogar zu Schmidt-Weißenfels gekommen, um diesen für Geld zur Abfassung einer Skandalbroschüre zu gewinnen. Schmidt-Weißenfels warf diesen Kerl einfach hinaus. Die Bestätigung erfolgte und es war ergötzlich anzusehen, wie die Hetzer sich nunmehr vor dem Oberbürgermeister duckten. Rümelin war zu vornehm, eine Rache zu nehmen.
Rümelin machte mich auch mit Schäffle bekannt, dessen lange Gestalt im schwarzen Rock gespensterhaft in den Lokalen auftauchte,[217] wo es gutes Pilsener Bier gab. Die Exzellenz, deren Broschüre: »Die Quintessenz des Sozialismus« eine Zeitlang auf Grund des Sozialistengesetzes verboten gewesen,5 hatte sich von dem Verdacht, heimlicher Sozialdemokrat zu sein, durch eine andere Broschüre zu reinigen gesucht, welche »Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie« betitelt und ein ziemlich schwaches Machwerk war. Der bekannte Dramatiker Hermann Bahr schrieb eine Widerlegung, betitelt: »Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle«. Ein gehässiger Gegner der Sozialdemokratie war Schäffle nicht.
Rümelin erzählte, daß er in Baden-Baden häufig mit dem Reichskanzler Chlodwig von Hohenlohe zusammengewesen. Dieser habe ihm gesagt: »Ich bin kein Staatsmann wie Bismarck und habe wenig Initiative, aber ich habe manches verhütet, was hätte schlimm werden können.«
Weiter verkehrten da Müller-Rastatt, ein geistvoller, junger Mann mit seiner liebenswürdigen Gattin, der schon genannte Dr. Ludwig Holthof und Wolfgang Ferdinand Meyer, später Intendant des Dresdner Hoftheaters, der damals Redakteur bei »Ueber Land und Meer« war; Theodor Souchay von Cannstatt, der mit Freiligrath befreundet gewesen, und Johannes von Wildenrath, der demokratische Dichter von Pforzheim, kamen öfter als Gäste. Wildenrath hat einen großen Roman »Der Zöllner von Klausen« geschrieben, dessen Held der geniale Michael Geismayer, Führer der Tiroler Bauern im, Aufstand von 1525, ist; Wildenrath hat aber weder die große Bewegung, noch die bedeutende Persönlichkeit in ihrem Wesen erfaßt. Als Gast war auch der durch Weltrichs Buch bekannte Naturdichter Christian Wagner aus Warmbronn da; die Damen des Klubs erlaubten sich mit dem drolligen Alten mancherlei Scherze.
Das gesamte Leben des Klubs spielte sich in harmloser Gemütlichkeit ab, die nur dann beeinträchtigt wurde, wenn verkannte Dichter ihre Produkte vorlasen.
Außerhalb des Klubs kam ich mit anderen literarischen Persönlichkeiten in Berührung, so mit Johann Georg Fischer, der im Jahre 1848 sich zu dem schönen Gedicht aufgeschwungen: »Nur einen Mann aus Millionen«:
»Der wie ein Blitz durch alle Grade
Empor sich zum Diktator schwingt
Und die Rebellen6 ohne Gnade
Ins starre Joch der Einheit zwingt.«
Aber der Diktator kam nicht.[218]
Fischer hielt viele Schiller-Festreden. Als er die dreizehnte gehalten, dichtete ein boshafter Schwabe den boshaften Pentameter:
»J. G. Fischer, hör auf, oder, Fischer, i geh!«
Auch ein gewisser Beyer erschien in der Stuttgarter literarischen Welt, der eifrig und etwas zudringlich Rückert-Forschungen betrieb. Als er sich gegenüber einem Sohne Rückerts mit seinen Forschungen rühmte, antwortete dieser: »Ja, ja, ich weiß, Sie sind die Blattlaus auf dem Lorbeerkranze meines Vaters.«
Auch mit dem alten Otto Müller, dem Verfasser eines einst sehr beliebten Romans, dessen Heldin die Schauspielerin Charlotte Ackermann war, traf ich öfter zusammen. Ein würdiger alter Herr mit etwas verstaubten Anschauungen, aber sehr unterhaltend. Er war sehr befreundet mit Wilhelm Raabe, der in den sechziger Jahren hier verweilt und seinen »Abu Telfan« hier geschrieben hatte. Es waren auch noch einige andere Leute da, die an der Tafelrunde teilgenommen, wo Raabe verkehrte. Sie trugen mir Grüße an Raabe auf, mit dem ich als Reichstagsabgeordneter in Braunschweig zusammenzutreffen des öfteren Gelegenheit hatte. Er kam jeden Abend Punkt halb zehn in die Weinstube von Herbst auf der Friedrich-Wilhelmstraße in Braunschweig, setzte sich an den Stammtisch, über dem sein großes bekränztes Bild hing, trank seinen Schoppen und ging Punkt halb eins nach Hause, wo er nachts noch arbeitete und erst gegen Morgen zu Bette ging. Bei Herbst haben wir manchen guten Abend verplaudert. Raabe saß sehr oft allein, da er in Braunschweig wenig ihm zusagende Gesellschaft fand. Auch gab es dort eine »goldene Jugend«, die glaubte, ihren Spaß mit ihm treiben zu können. Ich war selbst Zeuge, wie einige dieser »feingebildeten« Jünglinge laut riefen: »Da sitzt er ja, der Hungerpastor!« Das focht ihn wenig an. Er hatte ein kindliches Gemüt und einen großen Respekt vor allem »Gewordenen«, wie er die historischen Erscheinungen bezeichnete. Als ein Gespenst erschien ihm die Gefahr der Uebervölkerung. Als ich einst, nachdem ich lange mit ihm darüber disputiert, wegging, rief er mir mit schallender Stimme nach: »Es wird zuviel gezeugt!«, so daß alle Gäste herumfuhren und ein Gelächter aufschlugen.
Fast alle diese Geister sind abgeschieden und durchschweben als Schatten die Gefilde meiner Erinnerung. Aber zu den Lebenden zählt heute noch mein teurer Freund Ernst Ziel, der lange Jahre in Cannstatt zugebracht hat. In der schwäbischen literarischen Welt lernte ich den demokratischen Dichter kennen, den seine schriftstellerische Laufbahn aus seiner mecklenburgischen Heimat über die »Gartenlaube« in Leipzig nach dem deutschen Süden geführt hat und der nunmehr wieder an den Ufern der Spree haust. Seine formschönen und farbenprächtigen Dichtungen haften tief in den Herzen derjenigen, die auch in der Zeit des furchtbarsten aller Kriege die Hoffnung auf eine Zeit des Friedens und der Freiheit noch nicht verloren haben. Der edlen Würdigung, welche Ziel, bürgerlichen[219] Vorurteilen trotzend, unserem Parteigenossen Dulk angedeihen ließ, habe ich schon Erwähnung getan. Ludwig Pfau und Ernst Ziel waren politisch und poetisch gleichgestimmte Seelen. Aber Pfau tummelte sich gerne unter den rauhen Kämpfern auf den politischen Schlachtfeldern, während Ziel sich lieber aus dem Kampfgetümmel der so schroff in ihre Klassen zerklüfteten bürgerlichen Gesellschaft durch »das Morgentor des Schönen« in den selbstgeschaffenen immer blühenden Garten seiner Phantasie zurückzieht. Dort erbaut er sich mit den schön behauenen, zierlichen Quadern seiner Gedanken ein prächtiges Wolkenschloß, »ein zauberhaft Gebäu«.
Aus seinen »Gedanken an der Schwelle des Jahrhundert« seien einige zitiert, die für uns Sozialisten ein besonderes Interesse haben:
»Ihr klagt über die Entsittlichung der Massen? Fördert die Gleichheit der Existenzbedingungen – und Ihr werdet Wind bringen in die Segel der öffentlichen Sittlichkeit!«
* * *
Die Sozialdemokratie ist der Schatten, den die oberen Zehntausend werfen.
* * *
Das feudale Fron- und das moderne Lohnsystem sind immer noch ein aktueller Reim.
* * *
Das Raubrittertum besteht noch heute – Lohn ohne Arbeit ist Beute.[220]
1 Die Erklärung in Uhlands bekanntem Gedicht: »Die Schlacht in Reutlingen«: »Ach Allm –«, stöhnt einst ein Ritter: »ihn traf des Mörders Stoß – »Allmächtiger« wollt' er rufen – man hieß davon das Schloß –« ist natürlich poetisch. In Wahrheit ist die Erklärung sehr einfach: die Burg war ursprünglich eine Alm, drunten fließt die Ach, also die Alm an der Ach, die Achalm!
2 Siehe Band 1, Seite 37 ff.
3 Seine Büste auf dem Denkmal der Kaiserin Viktoria am »Marmorsteinbruch« vor dem Brandenburger Tor zu Berlin.
4 Er war ein großer Verehrer von Heinrich Heine und hatte nach dessen bekanntem Gedicht seinen Landsitz »Bimini« getauft.
5 Höchberg ließ 10000 Exemplare dieser Broschüre drucken und gratis verteilen.
6 Die der Reichsverfassung von 1849 feindlich gesinnten Fürsten.
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