Der gute Ton im Umgang zwischen Damen und Herren.

[130] »Nach Freiheit strebt der Mann,

die Frau nach Sitte.«

Schiller.


Der gute Ton im Umgang zwischen Damen und Herren erfordert im geselligen Umgang ganz besondere Achtsamkeit, denn gerade, indem die junge Dame ihn durch Unerfahrenheit, Ungeschick oder zu große Freiheit und Sorglosigkeit[130] verletzt, kann sie sich den schlimmsten Mißdeutungen anderer aussetzen, kann sie sich selbst die unangenehmsten Verlegenheiten bereiten.

Im allgemeinen ist es wohl anzunehmen, daß eine gebildete Dame von selbst so viel Zartgefühl und richtigen Takt besitzt, es herauszufühlen, wie weit sie in ihrem Benehmen gegen Herren gehen kann, doch spielen auch hier menschliche Schwächen den jungen Mädchen oft schlimme Streiche. Die allzu Lebhafte wird leicht für eine Kokette gehalten, die Schüchterne gilt für beschränkt; mit Argusaugen bewacht die Welt den Verkehr der verschiedenen Geschlechter und ist leider nur gar zu gern geneigt, ihm falsche Motive unterzuschieben. Solch falsches Urteil trifft aber die Dame am empfindlichsten. Der Mann hat mehr Freiheit, nimmt sich in den meisten Fällen mehr Freiheit heraus, die Jungfrau muß sich streng in den Schranken halten, welche die gute Sitte ihr steckt, muß danach streben, sie nach keiner Richtung hin zu verletzen.

Herren wird ein Verstoß gegen das Zartgefühl im ganzen eher verziehen als Damen. Von ihnen verlangt man größere Wachsamkeit und Zurückhaltung, sie haben es in ihrer Gewalt, mit richtigem Taktgefühl dem Herrn zu begegnen und ihn, wenn er sie ja einmal verletzen sollte, in die rechten Schranken des sich Ziemenden zurückzuführen.

Es wäre verfehlt, wollte die Dame hierin zu weit gehen, wollte sie den Herren ein schroffes, abstoßendes Benehmen entgegenstellen. Sie würde durch dasselbe viel von ihrer zarten, anmutigen Weiblichkeit verlieren, im Gegenteil, sie soll und darf sich große und kleine Dienstleistungen und Gefälligkeiten auch von dem fremdesten Herrn gefallen lassen. Es sind zwar die Zeiten des Mittelalters längst vorbei, wo der Ritter für seine Dame Lanzen brach und sie ihm dafür den Kranz reichte, aber es besteht noch manches Gesetz der Höflichkeit, der verehrenden Achtung vor dem schönen und zarten Geschlechte, welches auch zugleich das hilfsbedürftigere ist und in vielen Fällen Schutz und Hilfe beansprucht, welche der gebildete Herr leisten und respektieren soll.

Die Pflicht der jungen Dame ist es alsdann, daß sie ihm dankt, daß sie seine Dienste annimmt, ohne ihn besonders dafür zu bevorzugen, denn er thut nur das, was seine[131] Schuldigkeit ist, was er, will er der gebildeten Gesellschaft angehören, jeder Dame thun soll.

Auch die Hilfe eines ihr ganz fremden Herrn nehme die junge Dame in besonderen Fällen an; er öffnet ihr den Wagenschlag, er reicht ihr beim Aussteigen die Hand u.s.w., wollte sie diese kleinen Dienste zu hoch anschlagen, würde sie sich dadurch sehr auffällig machen; sie hat nur einen flüchtigen Dank dafür zu sagen.

Unterhält sich in der Gesellschaft ein Herr auffallend viel und lange mit ihr, muß sie Mittel finden, das Gespräch auf eine geschickte, ihn nicht beleidigende Weise abzubrechen, wählt er einen Gegenstand des Gespräches, der ihr nicht angenehm ist, thue sie dies gleichfalls. Erdreistet sich aber ein Herr sogar, sie durch fade Schmeicheleien oder wohl gar durch zweideutige Reden in Verlegenheit setzen zu wollen, dann ist es an der Zeit, daß die feinfühlende Jungfrau sich schroff von ihm abwendet, ihm dadurch recht deutlich ihre Verachtung zeigt.

Bei mutwilligen, harmlosen Scherzen eines Herrn, bei einem zwanglosen Gesprächsthema affektiere sie indes ja nicht zu große Empfindsamkeit. Es gibt Damen, die, wenn das Wort »Krieg« erwähnt wird, zusammenzucken, die von einem Frosch, einer Spinne nichts hören können, ohne Nervenanfälle zu bekommen. Wir bemitleiden diese empfindsamen Naturen aufrichtig, sie werden ihrer Umgebung nur lächerlich, oft auch muß man den Verdacht hegen, daß sie diese Nervenreizbarkeit nur heucheln und sich dadurch vor dem stärkeren Geschlecht interessant machen wollen.

Bietet der Herr der jungen Dame den Arm, so ist es Pflicht der Höflichkeit, denselben anzunehmen: etwa wenn er sie am Abend nach Hause begleitet, wenn er sie durch ein Menschengedränge sicher führen will oder auf Landpartieen, wo er sie auf unebenem, steinigem Boden zu geleiten hat; es ist in solchen Fällen ja selbstverständlich, daß er sich ihr zum Führer anbietet, auf der Promenade jedoch nehme sie seinen Arm niemals an, sobald er ihr nicht ganz nahe verwandt ist.

Daß in Gesellschaften der Herr sie an seinem Arm zu Tische führt, ist überall gebotene Sitte. Auf der Straße darf ein junges Mädchen die Begleitung eines Herrn, den[132] sie nur aus Gesellschaften kennt, nicht annehmen. Sie geht, vorausgesetzt, daß er sie zuerst grüßt, nur mit leichtem Gruß an ihm vorüber, und sollte er so dreist sein, sich stehen bleibend mit ihr unterhalten zu wollen, suche sie einen schicklichen Vorwand, dies zu vermeiden.

In der Unterhaltung mit einem Herrn gebe sich jede junge Dame ungezwungen und natürlich; sie suche ja nicht, ihn durch absichtlich zur Schau getragene Gelehrsamkeit fesseln zu wollen; dergleichen Absichten sind fast immer übel angewandt, und schon manche kurze Unterhaltung hat einen Herrn gegen ein junges Mädchen mit Vorurteilen erfüllt und von ihr abgewandt, deren äußere Vorzüge ihn zuerst fesselten.

Geistreich braucht die junge Dame nicht zu sein, wenn sie nur die geistige Anmut besitzt, die es versteht, auf eine Unterhaltung einzugehen. Auch lasse sie sich ja nicht dazu verleiten, dem Herrn über Gefühle des Herzens Mitteilungen zu machen, sie wird dadurch in seinen Augen nur sentimental erscheinen, wird von ihm mitleidig belächelt werden.

Niemals erkundige sie sich zuerst nach dem Befinden eines Herrn; es ist für ihn schicklich, dies zu thun.

Der Dame gebührt an öffentlichen Orten, im gesellschaftlichen Verkehr der Vortritt, doch gibt es auch hier Ausnahmefälle, wo der Herr ihn haben muß.

Der Herr steigt zuerst aus dem Wagen, um der Dame beim Aussteigen behilflich zu sein, bei dem Besteigen einer Treppe geht der Herr voran, am öffentlichen Ort überlasse es die Dame ihm, das Restaurant aufzusuchen und Erfrischung zu bestellen.

Im Theater und Konzert kann die Dame es unbedingt annehmen, wenn ein fremder Herr ihr seinen Sitz in erster Reihe anbietet. Nur einem sehr bekannten Herrn darf aber ein junges Mädchen beim Kommen und Gehen die Hand reichen, denn es fällt damit eine ceremonielle Schranke zwischen ihnen, das Handgeben drückt eine vertrauliche Annäherung aus.

Es muß, wenn es geschieht, nur schnell und leicht geschehen, sie darf niemals seine Hand drücken oder die ihre länger in der seinen ruhen lassen, als es notwendig ist. Dergleichen Unvorsichtigkeiten können den Herrn leicht dazu[133] bringen, Gefühle in ihr für ihn vorauszusetzen, die sie gar nicht hegt, oder die nur von ihrer Seite vorhanden sind, die von ihm nicht geteilt werden; welche Demütigung wäre dies aber für sie, sich so verraten zu haben.

Wo diese Gefühle aber wirklich von beiden Seiten bestehen, da gibt es der unsichtbaren Zeichen genug, sie sich zu offenbaren, in diesem Falle wird auch der erlaubte stille und innige Händedruck sie gern bekunden.

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 130-134.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon