[12] An meiner Mutter hing ich mit schwärmerischer Zärtlichkeit. Anspruchslos, tätig, ebenso herzensgut wie verständig, lebte sie einzig und allein für ihre Familie. Sie kannte nur zwei Vergnügen nach vollbrachtem Tagwerk: das Theater und französische Lektüre. Beide Neigungen hatte sie von ihrem Vater geerbt, und beide sind ganz entschieden auch auf mich übergegangen. Wenn man heutzutage in den Konsequenzen der Vererbungstheorie gern zu weit geht – in diesem Fall ist ihre Richtigkeit mir ganz evident. Ebenso darin, daß ich Vorliebe und Begabung für Musik und für literarische Tätigkeit vom Vater habe. Beide Neigungen hielten sich bei mir stets die Waage. Was sich gegen die moderne Tendenz, alles auf Vererbung zurückzuführen, hauptsächlich einwenden läßt, ist wohl der Umstand, daß in einer zahlreichen Familie wie in der unsern jedes der Geschwister ein anderes Temperament, andere Neigungen und Fähigkeiten aufweist, obwohl sie alle dieselben Eltern und Voreltern gehabt und in genau denselben Verhältnissen und Einflüssen erzogen wurden. Wenn ein spezifisches Talent, ein bestimmter Charakterzug oder eine physische Eigenschaft sich vom Vater oder der Mutter vererbt, warum[12] nicht auf alle Kinder, warum vielleicht nur auf eines von vielen?
Mein Vater war niemals ein Freund des Theaters gewesen, er saß lieber bei seinen Büchern. Ich erinnere mich nur an zwei Vorstellungen, die er mit uns älteren Geschwistern besucht hat, aus pädagogischem Drang, uns in diese neue ästhetische Welt selbst einzuführen. Die erste Oper, die wie hören durften, war die »Zauberflöte«, das erste Schauspiel »Wilhelm Teil«. Zu letzterem bereitete uns der Vater dadurch vor, daß er uns die Handlung erzählte und die Szene mit dem Apfelschuß vorlas. Hingegen war mein Großvater mütterlicherseits in seinen jüngeren Jahren ein passionierter Theaterfreund gewesen. Er wohnte dicht neben dem Theater, und da er nicht spät soupieren mochte, eilte er nach dem ersten oder zweiten Akte nach Hause, nachtmahlte schnell und war dann rechtzeitig wieder im Theater, Abend für Abend. Meine Mutter hatte, wie gesagt, diese Neigung von ihm überkommen. Als wir drei älteren Geschwister theaterfähig waren, abonnierte die Mutter zwei Sitze »über den Tag« und nahm abwechselnd eines von uns ins Theater mit. Das Prager Theater, sowohl Oper als Schauspiel, genoß damals eines ausgezeichneten und wohlverdienten Rufes, und so verdanke ich ihm eine Summe bildender und beglückender, bis in mein Alter nachwirkender Eindrücke.
Mein Großvater, dem ich noch einige Worte widmen möchte, lebt in meiner Erinnerung als ein sehr stattlicher, alter Herr mit gelocktem weißen Haar, stets sehr nett gekleidet mit gefälteltem Jabot und Manschetten, ein goldenes Petschaft und Berloque an der Uhrkette. Da saß er stundenlang in die Lektüre französischer Memoiren oder Geschichtswerke vertieft, neben sich zwei dickleibige Diktionäre, wo er jedes ihm fremde Wort unverzüglich nachschlug und in ein eigenes Heft eintrug. Und gerade so machte es meine Mutter des Nachmittags oder an theaterfreien Abenden. Da las sie, leise flüsternd, ihre Staël, Genlis oder Madame Sévigné und schrieb jedes nachgeschlagene Wort in ihr Heft, als ob sie daraus Prüfung zu machen hätte. Für unser Französisch wurde durch einen ausgezeichneten Lehrer, M. Boussifet de Moricourt, gesorgt und überdies durch Konversationsstunden mit einer Französin. Die Vorliebe für französische Literatur ist mir bis auf den heutigen Tag haften geblieben. Zu unserem glücklichen Familienleben gehörte es auch, daß wir mit den Großeltern in demselben Hause (Roßmarkt, »beim Dauscha«) wohnten; wir bewohnten[13] das erste, die Großeltern das zweite Stockwerk. Da gab es zwischen den Lehrstunden ein eifriges Treppauflaufen, wo wir die gute Großmutter um Obst, Butterbrot oder Kuchen brandschatzten. Nach Tische ließ sich der Großvater von mir die »Augsburger Allgemeine Zeitung« vorlesen, die mir damals ebenso uninteressant war, als sie mir später selbst Bedürfnis wurde. Nach einer Weile pflegte der Großvater einzunicken, was ich dazu benützte, allerlei Unsinn zu improvisieren. Wehe, wenn er dann plötzlich erwachte! Ich war elf oder zwölf Jahre alt, als mein Großvater starb, – der erste Verlust, der erste Schmerz in meinem Leben!
Es sollten bald noch andere, tiefer bohrende folgen. Wenige Jahre später, ich war eben in die juridischen Studien eingetreten, starb meine Mutter im rüstigsten Alter. Ich hatte mit zärtlichster Liebe an ihr gehangen. Wie oft war ich plötzlich von meinen Schularbeiten aufgesprungen und in ihr Zimmer geeilt, wo ich sie umarmte und küßte, um dann wieder, gleichsam gestärkt und erhoben, zu meinen Aufgaben zurückzukehren. Mit ihr war das Glück der Jugend entwichen, eigentlich das Gefühl der Jugend selbst. Nun klopfte der Ernst des Lebens an.