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[140] Ich habe früher Frau Julie von Ladenburg genannt. Sie war die Tochter des hochgeachteten Bankiers Leopold von Lämmel in Prag und von Jugend auf befreundet mit meiner Schwester Lotti, deren ernstes Streben nach Bildung und lebhaften Sinn für Musik und Literatur sie teilte. Anna Bamberger, die Schwester des berühmten Klinikers Prof. Heinrich Bamberger, war die dritte in diesem Kleeblatt. Ein glänzender Kinderball bei Lämmel gehört noch zu meinen vergnügtesten Prager Erinnerungen. Da hieß es: ein Bräutigam für Julie sei angekommen. Es war ein reicher junger Herr von Ladenburg aus Mannheim. Sie hatte ihn nie früher gesehen; trotzdem fand die von den Vätern geschäftlich vereinbarte Verlobung und Vermählung unverweilt statt. Eine jener Heiraten, die Unger mit den Worten charakterisierte: »100 Stück Nordbahn heiraten 100 Stück Südbahn.« Der beiderseitige Reichtum gilt in gewissen Gesellschaftsklassen als die einzige und völlig ausreichende Garantie für das Glück der Brautleute. Ladenburg, aus einer angesehenen Bankierdynastie stammend, war ein geschickter Finanzmann und gar kein übler Mensch. Aber für den hohen Geist, die Bildung und den seltenen Charakter seiner Frau besaß er wenig Verständnis. Die beiden lebten ohne Zank und ohne Zärtlichkeit nebeneinander her. Julie von Ladenburg war durchaus nicht schön; ihr edler Kopf saß auf einem zu kleinen und vollen Körper; sie erinnerte mich an Fanny Lewald. Was ihren Umgang so angenehm machte, war der unwandelbare Ausdruck von ruhiger Güte und Milde, der Hauch feiner Geistes- und Herzensbildung. Sie prunkte nie mit ihrem Geist, liebte aber den freundschaftlichen Verkehr mit Männern, deren Gespräch ihr Anregung und Belehrung bot. Josef Unger, Josef von Walther, der Chemiker Professor Hlasiwetz, der junge Rechtsgelehrte [140] Adolf Exner, Dessauer, Leopold von Hasner und einige ältere Prager Freunde bildeten ihren intimeren Kreis, der sich im Sommer auch gern auf ihrer herrlichen Villa in Pötzleinsdorf versammelte. Sie klagte in den letzten Jahren über anhaltend quälenden Kopfschmerz. Die Ärzte konnten ihrem Leiden nicht auf den Grund kommen, glaubten vielleicht nicht einmal recht daran und empfahlen ihr Luftveränderung. Die arme Frau reiste nach Florenz und starb dort wenige Tage nach ihrer Ankunft. Es war eine tief schmerzliche Nachricht für uns alle. Ihr Gatte, Ludwig von Ladenburg, ist ihr bald im Tode nachgefolgt.

In einer Gesellschaft bei der Baronin Todesko machte ich auch die persönliche Bekanntschaft zweier dramatischer Künstler, die ich im Burgtheater oft bewundert hatte: Karl La Roche und Frau Julie Rettich. Als ich La Roche von einigen Rollen sprach, in welchen er mir einen tiefen Eindruck gemacht, nannte ich auch den König Lear. »Das ist nicht möglich,« entgegnet er etwas heftig, »ich bin nie als König Lear aufgetreten!« – »Entschuldigen Sie, es war im Sommer 43 oder 44 in Prag.« »Ja, da haben Sie wirklich recht, es ist so,« und mit einer gewissen Verschämtheit, welche dem alten Herrn unendlich liebenswürdig zu Gesicht stand, bekannte er, daß es stets sein Herzenswunsch gewesen, den König Lear zu spielen; in Wien habe er es aber wegen Anschütz nie gewagt und sich nur in der Provinz einmal diese Freude bereitet. »König Lear« wurde damals in Prag noch mit »gutem Ausgang« gespielt: Cordelia bleibt am Leben und zieht mit ihrem überglücklichen alten Vater in die Heimat. Eine andere großartige Leistung von La Roche war sein Franz Moor, und auch diesen hat das Burgtheater nie zu sehen bekommen. In dem vormärzlichen Wien und noch eine Zeitlang später galten Schillers »Räuber« für revolutionär und nicht burgtheaterwürdig. Einige Schritte weiter, im Leopoldstädter oder Wiedner Theater durften sie aber gegeben werden, – auch ein echt Metternichscher Zug! und hier war es La Roche erlaubt, »zu wohltätigem Zweck« als Gast den Franz Moor zu spielen. Als Laube den Eintritt der »Räuber« ins Burgtheater durchsetzte, war La Roche schon zu alt für den Franz. Die Rolle begründete den Ruf und die Karriere des damals dreiundzwanzigjährigen Lewinsky.

Julie Rettich, auch im bürgerlichen Leben ein idealer Charakter von angeborener Hoheit, las an dem Abend einige ihr besonders liebe Gedichte von Lenau. Ich freute mich an ihrem Gespräch[141] und noch mehr an ihrer Einladung, sie an einem der nächsten Abende zu besuchen, wo ich Bekannte treffen würde. Es war ein nicht großer, aber auserlesener Kreis, in dem man sich auf das ungezwungenste bewegte. Minister Schmerling, Friedrich Halm, der Haus- und Hofpoet der Rettich, Bauernfeld, Dessauer, zwei liebenswürdige junge Sängerinnen: Karoline Bettelheim und Friederike Fischer, endlich – Fanny Elsler. Die berühmte, von ganz Europa vergötterte Tänzerin war damals eine Frau von etwa sechzig Jahren, machte aber noch immer den Eindruck des Lieblichen, beinahe Jugendlichen. Ihr Gesicht, ein regelmäßiges Oval, war faltenlos und ihre vollen weißen Schultern und Arme wurden überall bewundert, wo sie dekolletiert erschien. Ich hatte Fanny Elsler, die seit lange der Bühne nicht mehr angehörte, niemals tanzen sehen. Dieses Bekenntnis brachte mir von dem älteren Teil der Rettichschen Gesellschaft Äußerungen des tiefsten Mitleids ein. Namentlich die beiden Senioren, Minister Schmerling und Dessauer, konnten nicht genug erzählen, mit welch unbeschreiblicher Grazie Fanny die Cachucha getanzt habe, mehr mit den Bewegungen der Arme, des Oberleibs, des Kopfes als der Füße. Von dieser begeisterten Schilderung war nur ein Schritt zu der flehentlichen Bitte, sie selbst möchte uns Jüngeren einen Begriff von ihrer Kunst geben. »Aber hier – im schwarzen Seidenkleid – als alte Frau!« Sie deprezierte ein Weilchen in liebenswürdigster Bescheidenheit. Es half nichts, die Herrin des Hauses unterstützte die Bitten der Freunde, und Fanny Elsler erhob sich von ihrem Fauteuil. Sie bat mich ans Klavier, wo sie mir das Tempo der Cachucha angab, viel langsamer, als man es gewöhnlich hört. Es war mein Glück, daß diese einfache Musik nicht zu verfehlen ist, denn ich mußte sie, um keine Bewegung der Elsler zu verlieren, mit vom Klavier weit abgewendeten Kopfe spielen. Aber es war ein Anblick, den ich nicht vergesse. Fanny Elsler hatte ihr Kleid ein wenig geschürzt und tanzte oder vielmehr schwebte zwei- bis dreimal den geräumigen Saal auf und nieder mit so graziösem, ausdrucksvollen Beugen und Neigen des Hauptes und Oberkörpers, mit so runden, welligen Bewegungen der Arme, daß mir zum erstenmal klar wurde, was ein idealer Tanz sei. Unsere Ballettänzerinnen tanzen doch alle nur mit den Beinen. Bei einem Besuch, den ich ihr mit Dessauer in ihrer Wohnung machte, ward sie mir vollends sympathisch. Sie traf es vollkommen und ohne die mindeste Anstrengung, was oft den gescheitesten[142] Frauen so schwer wird: nicht jugendlicher scheinen zu wollen, als sie war. Niemand hätte es dieser feinen, alten Dame angesehen, daß sie von früher Jugend auf als Ballettänzerin die unerhörtesten Triumphe gefeiert hatte. Sie ist erst im Jahre 1884 gestorben und hat unsere liebenswürdige Wirtin von jenem Cachucha-Abend, Julie Rettich, fast um zwanzig Jahre überlebt. Diese ist im rüstigsten Alter einem furchtbaren, krebsartigen Leiden erlegen, das mit grausamer Langsamkeit zollweise ihren Leib zerstörte. Die gefeierte Tragödin hat sich auch in dem Trauerspiel ihres eigenen Lebens als bewundernswürdige Heldin erwiesen.

Zu den Familien, in denen echt Wienerische prunklose Gemütlichkeit mit echter Bildung und anregendstem Geist verbunden herrschte, gehörte das Haus Hornbostel. Theodor von Hornbostel, ein hochbegabter Mann und bedeutender Industrieller, war im Jahre 48 zum Handelsminister ernannt worden. Einen liebenswürdigeren und freisinnigeren hat es schwerlich gegeben – wie alle Märzminister regierte er nicht lange und hat es leicht verschmerzt. Er fühlte sich am wohlsten und war am angenehmsten im Kreise seiner zahlreichen Familie. Seine Gattin, eine Frau von hellem, munterm Verstand, war ihm geistig ebenbürtig. Nichts Hübscheres, als wenn dieses Elternpaar vergnügt im Kreise seiner Kinder mittanzte, auf den zwanglosen Tanzabenden, die dort unter dem Titel »Adoleszentenbälle« hauptsächlich der reiferen Jugend gewidmet, aber auch von uns Erwachsenen eifrig mitgenossen wurden. Dort traf ich auch einmal Frau von Dingelstedt (Jenny Lutzer), die ich 30 Jahre früher als Gymnasiast in Prag bewundert hatte. Auf der damals vortrefflichen Prager Opernbühne war sie die erste Norma, die erste Adina, die erste Jessonda, die erste Isabella (in »Robert der Teufel«) gewesen. Kapellmeister Dessoff, der sie niemals gehört hatte, äußerte zu Dessauer den sehnlichen Wunsch: wenn sie nur etwas singen möchte, ein paar Takte nur! »Das wird gar nicht schwer halten,« meinte Dessauer und meldete der Sängerin Dessoffs Verlangen. Sofort setzte sich Frau von Dingelstedt ans Klavier und begann das Vorspiel zu Schuberts »Nonne«. Dessoff lehnte sich ihr gegenüber dicht ans Piano, um nur ja keinen Ton, keine Miene der berühmten Primadonna zu verlieren. Ich war vorsichtiger und begab mich, nichts Gutes ahnend, mit Dessauer ins anstoßende Zimmer. Jenny Lutzer war in ihrer Jugend eine entzückende Koloratursängerin gewesen, aber niemals eine dramatische, und so mochte auch früher[143] ein auf großen Ton und leidenschaftlichen Vortrag berechnetes Lied wie die »Nonne« nicht in ihrer Sphäre gelegen sein. Jetzt war sie überdies eine sehr korpulente bejahrte Frau, deren Stimme längst den Silberklang von ehemals verloren hatte. Kaum hatte sie die letzte Note gesungen, als Dessoff mit krampfhaft gerötetem Gesicht, atemlos zu uns ins Nebenzimmer stürzte und sich auf den Diwan warf. Es habe ihm so furchtbare Anstrengung gekostet, das Lachen zu verbeißen. Ganz zornig behauptete er, das könne unmöglich eine herrliche Stimme, eine große Sängerin gewesen sein. Dessauer und ich widerlegten sehr nachdrücklich seinen Irrtum, hatten wir doch beide die Lutzer ehedem enthusiastisch bewundert. »Wie konnten Sie auch vergessen,« schalt Dessauer, »welche Wandlung dreißig Jahre in der schönsten Sopranstimme hervorbringen! Und wie konnten Sie so unvorsichtig sein, sich dicht vor die Sängerin hinzupflanzen!«

Noch eines geselligen Abends möchte ich hier erwähnen, auf welchen die Musik ein überaus komisches Streiflicht warf. Es war bei Hofrat Vesque von Püttlingen, dessen ich schon früher erwähnte. In seinem Hause, das eine heitere Kinderschar belebte, herrschte die anmutigste Ungezwungenheit. Keine »hochgestellten Herren«, lauter Künstler und Schriftsteller. Musik nahm stets ein ziemliches Stück des Abends in Beschlag. Es ist wahr, daß Vesque den Gästen fast immer nur die Lieder von J. Hoven, also seine eigenen, vorsang, aber ebenso gewiß, daß kein anderer sie so gut vorzutragen verstand. Der geistreiche, leicht pointierende, fast französisch angehauchte Ton, welchen er in den Vortrag, namentlich seiner humoristischen Lieder, zu legen wußte, wirkte ganz einzig. Er war ein geschulter Sänger mit bereits stark abwelkender Stimme und der französische Ausdruck »dire un couplet« wie geschaffen für seine Vortragsweise. Vesque hat die ganze »Heimkehr« von Heine vollständig komponiert, – achtundachtzig Lieder! Diese »Heimkehr« hat eigentlich keinen inneren Zusammenhang; sie bietet in buntem Wechsel lyrische, beschreibende und epigrammatische Gedichte, tollen Scherz und tiefes Leid. Viele Gedichte darin sind Erzeugnisse des Witzes und der Ironie. Die spezifisch Heinesche Mischung von Naivität und sich selbst überspringendem Bewußtsein, die ironische Selbstvernichtung edler Gefühle liegt so weit ab vom Wesen des Musikalischen, daß sie kaum fähig scheint, ein melodisches Spiegelbild hervorzurufen. Auch Schumann hat mit dem Liede »Ein Jüngling[144] liebt' ein Mädchen« nach meiner Empfindung eine musikalische Mesalliance gemacht; das Gedicht will von der Musik nichts wissen, es wirft sie ab. Vesque sah sich, bei geringerer musikalischer Kraft, durch seinen scharfen Verstand und feine Bildung wesentlich unterstützt gerade für solche gewagten Aufgaben; er hat sie nicht selten überraschend gelöst. Manche dieser Kompositionen »unkomponierbarer Gedichte« werden stets ästhetische Kuriosa bleiben; bei Hoven sind es wenigstens geistreiche Kuriosa.

Ich komme nun zu meiner Geschichte. Vesque hatte eine musikalische Soiree für den berühmten Geiger Henri Vieuxtemps veranstaltet. Ein wunderbarer Künstler mit der Violine in der Hand – ohne die Violine ein wahres Kind, naiv, unerfahren, ungeschickt, begriffstützig. Ich sitze neben ihm, als Vesque sich ans Klavier setzt, sich räuspert und zu präludieren beginnt. – »Singt Mr. Vesque auch?« fragt mich Vieuxtemps. – »Ja.« – »Komponiert er vielleicht selbst?« – Wir ward angst und bang bei dieser Frage; ich sah Unheil voraus und soufflierte rasch meinem erstaunt lächelnden Nachbar, Vesque werde einige von seinen Heineschen Liedern singen, und zwar zuerst (wie er in der Regel tat) die humoristischen, auf die er besonderen Wert lege. Wider alles Erwarten begann aber Vesque mit dem »toten Pfarrer«, der mit warnendem Finger an das Fenster klopft. Mit dem letzten Akkord beginnt Vieuxtemps lachend in die Hände zu klatschen: »Ah, c'est drôle! comme cela est drôle!« und schüttelt sich vor Heiterkeit. Er verstand kein Wort deutsch und hatte in blindem Vertrauen auf mich den »toten Pfarrer« für ein humoristisches Lied gehalten. Ich trete ihm heftig auf den Fuß: »Taisez-vous, malheureux; cela n'est pas drôle, c'est triste.« Wie er nun sein Gesicht langsam in kondolierende Falten legte und gerührt zu Boden blickte, – es war unbeschreiblich und ich habe die Szene nie vergessen. Zum Glück intonierte Vesque sehr schnell ein anderes Lied und wirklich ein heiteres; ich wischte mir den Angstschweiß von der Stirne und konnte dem guten Vieuxtemps zuflüstern: »So, jetzt dürfen Sie lachen.«

Vieuxtemps, der im praktischen Leben wirklich einen Vormund brauchte, hatte auch einen: seine Frau; eine gescheite, kalte, kerzengerade Dame, die ihn unerbittlich regierte. »Was werden Sie in Ihrem nächsten Konzert spielen?« fragte ich ihn. Er wendet sich gegen seine Gestrenge und gibt die Frage weiter: »Ma chère, was werde ich spielen?« Madame Vieuxtemps machte[145] nämlich die Programme. Wenn Vieuxtemps in seiner kindischen Naivität zu laut lachte oder etwas Ungeschicktes sagte, traf ihn sofort ein fürchterlicher Blick seiner Gebieterin, – und Henri krümmte sich zusammen, wie ein gescholtenes Hündchen. Madame Vieuxtemps begleitete ihn in seinen Konzerten auch ganz gut auf dem Klavier. In einem Konzertbericht erlaubte ich mir die unschuldige Bosheit, ihr Zusammenspiel als das Abbild einer Musterehe zu rühmen, wo der Mann den Ton angibt und die Frau sich bescheiden unterordnet. Da in den Wiener Gesellschaftskreisen Vieuxtemps' Pantoffelheldentum bekannt war, so verstand man den Spaß und lachte herzlich. Aber Madame hatte ihn auch verstanden und schenkte mir nie mehr einen Blick.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 140-146.
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