[156] Einen vierwöchentlichen Urlaub und das Honorar für mein »Musikalisch-Schönes« – zwei Dinge, die mir den Mai erst recht zum »wunderschönen« machten – verwendete ich für einen Ausflug nach Berlin (1855). Mein Reisekamerad war Dr. Joseph Unger, der nachmalige Minister. Erst sechsundzwanzig Jahre alt, zählte Unger damals schon zu den Notabilitäten der deutschen Rechtswissenschaft. Seine außerordentliche geistige Begabung stieg überraschend schnell und glänzend wie ein Meteor in die Höhe – gottlob, nicht um zu erlöschen. Mit zwanzig Jahren saß Unger während der Märzrevolution in dem vielgenannten Wiener Studentenkomitee. Was haben da die jungen Leute und auch ältere in enthusiastischem Eifer alles debattiert und resolviert! Alle wollten das Wort haben und jeder das erste, womöglich auch das letzte. Aber nachdem Unger gesprochen hatte, sprach keiner mehr. Da war alles erledigt und schlechterdings nichts mehr zu sagen. Sein in den bestechendsten Einfällen funkelnder Geist ruhte auf der Basis reichen Wissens und einer unüberwindlichen Logik. Am bewunderungswürdigsten ist mir stets seine Schlagfertigkeit erschienen, das Augenblickliche seiner witzigen Replik. Noch nicht dreißigjährig, war er ordentlicher Professor an der Prager, dann an der Wiener Universität, nicht viel später Minister und[156] Führer der liberalen Partei im Herrenhause. Fremde, welche den Minister aufsuchten, glaubten an einen Irrtum in der Person, wenn sie die jugendlich schlanke, bewegliche Figur mit dem von langem, dichten Blondhaar eingerahmten schmalen Gesicht erblickten. Autorität in juristischen Dingen und zu Hause in allen übrigen, war Unger überdies ein hochgebildeter Musiker. Als Knabe mußte er sich eines Tags vor Liszt produzieren, der ihm eine glänzende Virtuosenlaufbahn in Aussicht stellte. Zu seinem und unserem Glück hat Unger eine andere eingeschlagen. Wir haben manchmal zusammen vierhändig gespielt, und da war es charakteristisch für Ungers lebhafte und nervöse Natur, daß er im Allegro wie ein feuriger Renner dahinflog, im Adagio hingegen zu keinem tief atmenden Behagen kam, sondern von innerer Unruhe vorwärts getrieben wurde, gleichsam ungeduldig nach dem, was weiter kommt. Wie er seine musikalische Seite hervorgekehrt hat, als es sich um meine Ernennung zum Professor handelte, werde ich später zu erzählen haben. Auf unserer gemeinschaftlichen Berliner Reise hatte ich, zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben, den Jungberühmten, um den sich gleicherweise Gelehrte und Damen stritten, vierzehn Tage lang ganz für mich allein und genoß ihn von seiner nicht allgemein bekannten, gemütlichen Seite.
Berlin, das wir beide zum ersten Male sahen, hat uns damals wenig entzückt. Ein kalter regnerischer Maianfang machte alles über die Maßen verdrießlich. Gegen die heutige, so riesig entwikkelte Hauptstadt des deutschen Reichs erschien das Berlin von 1855 wie eine behäbig schlummernde Provinzialstadt. Welche Öde in diesen langen, langen, breiten Straßen! Nirgends drängendes Leben, Luxus, Fröhlichkeit. Ein kühler Sonntagnachmittag führte uns in einen beliebten öffentlichen Garten; da ruderten einige Handlungskommis langweilig auf dem Teich herum, und mehrere stumme Personen sahen ihnen fröstelnd zu. Das Theater bot wenig Anlockendes. Wir sahen Taglionis neues Ballett »Ballanda«, das durch die imposante Massenentfaltung und durch die Anmut der beiden Solotänzerinnen Marie Taglioni und Forti glänzte; im übrigen von derselben geisttötenden Langweiligkeit wie dieses ganze Genre unter allen Himmelsstrichen. In der Oper (Cherubinis »Wasserträger«) hatte ich wenigstens die Freude, Frau Luise Köster wieder zu hören, die ich von ihrem Wiener Gastspiel kannte und als eine der edelsten, seelenvollsten[157] deutschen Sängerinnen verehrte. In der Aufführung des »Hamlet« vermochte nur Döring als Polonius uns stärker zu interessieren. Auffallend war uns im Königlichen Schauspielhaus der schlechte Besuch und die allzu bescheidene Toilette (mitunter Küchen- und Kinderstubentoilette) der Damen. Das ist jetzt alles anders. Unger, verwöhnter als ich, hatte sich eine vorzügliche Restauration empfehlen lassen, in der wir nach dem Theater uns stärken wollten. Da saßen wir denn in einem großen eleganten Saal (bei Mäder) so gut wie allein. »Wer nie sein Brot mit Tränen aß,« – scherzte Unger jeden Morgen, wenn er, in seinen Plaid gewickelt, beim Frühstück den »Vergnügungsanzeiger« studierte, in welchem Anpreisungen von schmerzlosen Zahnoperationen u. dgl. den größten Raum einnahmen.
Besser als mit den »Vergnügungen« ging es uns mit den Besuchen. Fanny Lewald und ihr Gatte Adolf Stahr empfingen uns sehr artig und geistreich, ohne uns einen besonders sympathischen Eindruck zu machen. Sie bewunderten einander gegenseitig und außerdem jedes auch sich selbst auf eigene Rechnung. Während Unger Juristenbesuche machte, suchte ich einige musikalische Persönlichkeiten auf. Da war zuerst der Musikkritiker Ernst Kossak, ein langer, dürrer, kränklicher Mann, in welchem ich nur schwer den witzigen Humoristen wiederfand, dessen Schilderungen mich so oft unterhalten hatten. Dann der musikalische Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek, Professor Dehn, dessen ergötzliche Urteile über verschiedene Theoretiker sich leider nicht mitteilen lassen in ihrer kräftigen Ungeniertheit.
In dem Musikschriftsteller A.B. Marx fand ich einen aufrechten Sechziger von vornehmer Haltung und feiner, geistreicher Konversation. Als ich über die unverändert jugendliche Wärme seines Stils eine Bemerkung machte, rief er »Oh, ich werde immer jünger!« In Wahrheit ist Marx in seinen späteren Büchern nur redseliger und phrasenhafter geworden; sein Buch über Gluck (für welches ich ihm wertvolle Behelfe aus der Wiener Hofbibliothek verschaffen konnte) und das über Beethoven, vergällen uns manche geistreiche Ausführung durch eine Schönrednerei, die nur im ungünstigen Sinne »jugendlich« heißen kann. Marx war ein Mann von ungewöhnlicher, aber vielfach zersplitterter und durchkreuzter Begabung. Schon als Knabe hat er alles Mögliche durcheinander gelesen und gelernt, auch gezeichnet und gemalt. Sein Klavierunterricht war ganz mangelhaft und geriet bald ins[158] Stocken. Die erste Beethovensche Sonate, die ihm in die Hand fiel, fachte die Lust wieder an, und Marx half sich als Autodidakt weiter, so gut es eben ging. Musiker von Fach wollte er trotz seiner Liebe zur Tonkunst nicht werden; er wählt das Rechtsstudium. Als »Auskultator« beim Kammergericht in Berlin lebt er anfangs in kümmerlichen Verhältnissen; ideale Träume und Bestrebungen helfen ihm, sich darüber zu erheben. Er experimentiert mit großen Kompositionen, bringt es aber in dieser Richtung niemals zu einem Erfolg. Endlich gelingt es ihm, das Joch des Beamtentums abzuschütteln und in Berlin sich eine künstlerische Stellung zu gründen, durch Unterrichtgeben, dann durch die Begründung der »Berliner Allgemeinen Musikzeitung«. Er hat viel und intim mit Mendelssohn verkehrt. Zu dessen »Paulus« hatte er gar kein Vertrauen, mußte es aber bald erleben, daß dieses Werk mit unerhörtem Erfolg die Runde durch Europa machte, während sein eigenes Oratorium »Mose« nur einen vorübergehenden Achtungserfolg errang. Darin ist wohl der tiefste, heimliche Grund von Marx' späterer Abneigung gegen Mendelssohn zu suchen. In diese Verhältnisse nicht eingeweiht, erschrak ich beinahe, wie plötzlich Marx das Gespräch wendete, als ich auf Mendelssohns Oratorium zu sprechen kam. Marx hat sich erst spät »mit bittern Schmerzen« entschlossen, seine Tätigkeit als Komponist vollständig mit der eines Musikschriftstellers und Lehrers zu vertauschen. Deutschland konnte dabei nur gewinnen, denn Marx' Lehrbücher (insbesondere der vortreffliche dritte Band seiner »Kompositionslehre«) haben überall großen Nutzen gestiftet und dem Verfasser selbst eine sichere und ehrenvolle Stellung in Berlin verschafft. – Das intime Mittagsmahl, zu dem mich Marx einlud, war durch den wetteifernden Geist dreier lebhafter Sprecher gewürzt: Marx, seine Frau und der junge Hans von Bülow. Die Belesenheit, welche letzterer in der französischen Literatur entwickelte, setzte mich in Erstaunen. Ich kann heute noch nicht begreifen, wie man den ganzen Lamartine und Chateaubriand gelesen haben kann.
Mit gewohnter Artigkeit empfing mich Meyerbeer, dessen Bekanntschaft ich schon in Wien gemacht hatte. Im Gespräch über den »Nordstern« konnte ich mein Bedauern nicht verschweigen, daß in dieser Pariser Überarbeitung seines »Feldlagers in Schlesien« (das ich in Wien mit Jenny Lind als »Vielka« gehört) viele schöne Stellen des Originals verloren gegangen seien. Meyerbeer[159] wollte das nicht zugeben. Ich trat an das offene Klavier und spielte ihm mehrere dieser Stellen, namentlich aus der Partie der Vielka. »Sie kennen ja meine Oper besser als ich!« rief Meyerbeer, und sein Ton wurde mit einem Male viel wärmer. Ich habe niemals den schlechten und unverschämten Geschmack gehabt, berühmten Männern Schmeicheleien zu sagen. Es ist immer etwas Verletzendes, ein Insgesichtwerfen, wenn auch mit Blumen. Von feiner empfindenden Naturen verträgt dies weder der Beworfene noch der Werfer. Aber daß man seine Werke genau kenne, das freut jeden Autor, jeden, ohne Ausnahme. Und uns hebt es in seinen Augen. Ich habe deshalb die Gelegenheit stets gern wahrgenommen, mich vor verehrten Meistern bibelfest zu zeigen. Als der kalte und förmliche Auber sich nach dem Erfolg einer seiner schwächeren Opern (ich weiß nicht mehr, »Zanetta« oder »Duc d'Olonne«) in Deutschland erkundigte, konnte ich ihm am Klavier leicht an einzelnen Beispielen aus seiner Oper deutlich machen, wie schwer sich manche im Original so zierlich klingende Stelle im Deutschen singe und ausnehme. Auber wurde sofort freier und zutraulicher. Ebenso erfreut schien Verdi, der mir in Paris (1875) von seiner Umarbeitung der »Forza del destino« sprach, als ich ihm die kurze, unvergleichlich stimmungsvolle Einleitung dieser in Deutschland ganz unbekannten Oper spielte. Wie hat endlich mein heißgeliebter Gottfried Keller mich angebrummt, als ich es zum ersten Male wagte, mich an seinem Wirtshaustisch in Zürich ihm vorzustellen! Er erklärte sich für einen musikalischen Halbbarbaren. Das konnte ich nicht so ohne weiteres gelten lassen und erinnerte ihn an eine schöne Stelle aus dem »Grünen Heinrich«, wo für einen Augenblick Musik mächtig in die Handlung und Stimmung eingreift. Da hellte sich das Gesicht des trefflichen Mannes auf: »Ja so – das ist mir wirklich selbst entfallen!«
Meyerbeer, um auf diesen zurückzukommen, war durch meine bescheidene musikalische Diplomatie mitteilsamer gestimmt. Nur über R. Wagner war ihm kein Wort zu entlocken. »Seine Opern haben viel Erfolg,« sagte Meyerbeer trocken und ging rasch auf ein anderes Thema über. Er war zu nobel, um je ein Wort gegen Wagner zu äußern, soviel Ursache er dazu hatte. Wagner hat sich bekanntlich ganz anders benommen. Meyerbeer bedauerte, mir in dieser Woche keine Aufführung der »Hügenotten« verschaffen zu können (er sprach das Wort immer mit dem[160] französischen Umlaut aus); doch wolle er mich zu einer Produktion des königlichen Domchors führen, dem seine größte Bewunderung gehöre. Er verriet in diesem Gespräch eine erstaunliche Kenntnis der alten italienischen und deutschen Kirchenmusiken, eine tiefe musikalische Bildung und klassischen Geschmack. Davon scheinen die neuesten Verächter und Verunglimpfer Meyerbeers so wenig eine richtige Vorstellung zu haben, als von seinem Talent.
Die vollkommenste Erscheinung im Berliner Musikwesen ist oder war wenigstens damals der königliche Domchor. Aus sechzig bis achtzig Sängern bestehend, wovon über die Hälfte Knaben, hat er die geistlichen Gesänge beim Gottesdienst in der Domkirche auszuführen. Der Berliner Domchor, dem an Schönheit der Stimmen und Präzision des Zusammenwirkens in Deutschland kein zweiter an die Seite zu setzen ist, kann seine staunenswerte Perfektion begreiflicherweise nur durch unermüdliche Schulung erlangen und bewahren. Musikdirektor Neidhardt, der verdienstvolle Leiter dieses Instituts, übte täglich durch mehrere Stunden mit den Knaben und einzelnen Sängern; zu Gesamtübungen versammelte er sie an einem oder zwei Tagen der Woche. Unglücklicherweise versäumte ich den festgesetzten Übungstag und hätte Berlin ohne die Kenntnis seines berühmtesten Musikinstituts verlassen müssen, wäre nicht die Güte des Grafen Redern, Intendanten der königlichen Hofmusik, und die Liebenswürdigkeit Meyerbeers meinen Wünschen durch Veranstaltung einer ausnahmsweisen Produktion hülfreich entgegengekommen. Während diese beiden Herren vor unserem »Hôtel Petersburg« vorfuhren, hielt bereits die Equipage des großen Rechtshistorikers von Savigny am Tore, um Unger zu einem Diner abzuholen, mit welchem die angesehensten Juristen Berlins den Wiener Kritiker des »Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für Sachsen« feierten. Gar oft neckten wir uns lachend wegen dieser beiden Equipagen und ihrer illustren Insassen. Unger freute sich kameradschaftlich, wenn neben seinem Ruhm auch ein kleines Rühmchen für mich abfiel.
Das Übungslokal des Domchors befand sich in einer Kaserne und bestand aus einem niedrigen schmucklosen Saal, der sich nur durch zwei gekreuzte Fahnen von jedem andern Schulzimmer unterscheidet. Auf hölzernen Schulbänken sitzen die Sänger – die Knaben voran – mit dem Notenheft in der Hand, vor ihnen[161] dirigiert an einem Pult Direktor Neidhardt. Für ein Publikum ist dabei nicht vorgesorgt; werden Gäste erwartet, so stellt man einige Stühle dem Kapellmeister gegenüber. In dieser bescheidenen Räumlichkeit wurde mir der Genuß, Motetten von S. Bach und den alten italienischen Meistern in nie gekannter Vollendung zu hören. Das Anschwellen oder Abnehmen des Tons, geschehe es plötzlich oder langsam heranziehend, ertönt aus diesen siebzig Kehlen mit einer so feinen und sichern Übereinstimmung, daß man auf die Vorstellung irgendeines fabelhaften Riesensängers gerät, dem die Zauberkraft der Vielstimmigkeit verliehen ward. »Es ist, als wenn man auf der Orgel spielte«, rief Meyerbeer wiederholt aus, der seinen patriotischen Stolz auf den Domchor nicht verhehlte. Er hatte mit diesem Vergleich den reinen fülligen Klang und die unfehlbare Dynamik des Domchors treffend bezeichnet, wenngleich eben dieser höchste Grad von Uniformität einer großen, beseelten Menschenmenge ihr manchmal etwas leblos Instrumentales verleiht. Am Schluß der Produktion gab Musikdirektor Neidhardt uns eine Probe von der seltenen Schulung seiner Sänger, indem er sie alle unisono die schwierigsten Intervalle, die er nach Belieben diktierte, frei anschlagen ließ. Die jungen Helden trafen die disparatesten übermäßigen und verminderten Tonverhältnisse mit einer Sicherheit, als handelte es sich um den harten Dreiklang. Ich schied von dem Sängerchore mit dem Gefühle aufrichtiger Hochachtung, – nebenbei, daß ich's nur gestehe, mit einer Regung patriotischen Neides.
In den Morgenstunden besuchten wir auch, als Gäste, einige Vorlesungen an der Universität. Am begierigsten waren wir, den großen Historiker Ranke zu hören. Auf einen überfüllten Hörsaal gefaßt, staunten wir nicht wenig, nur die ersten drei bis vier Bänke besetzt zu sehen. Bald löste sich uns das Rätsel. Auch die Hörer in den vordersten Reihen konnten nur durch längere Gewohnheit und peinliche Anstrengung dazu gelangt sein, den Meister zu verstehen. Das war kein Vortrag, sondern ein in willkürlichen Unterbrechungen gemurmelter, gelispelter, geächzter Monolog, von dem wir immer nur einzelne Worte verstanden. Interessant war nur die Mimik das alten Herrn. Ohne einen Blick auf die Zuhörer, ganz versunken in sein halblautes Denken, begleitete Ranke jeden Satz, mitunter jedes einzelne Wort mit der beweglichsten Mimik. Wir sahen ihn lächeln, schmunzeln, die Augen aufreißen oder verächtlich zudrücken, die Stirne runzeln, dazwischen,[162] wie im Traum, abgebrochene Sätze hervorstoßen, deren Zusammenhang nicht zu fassen war. –
Alexander von Humboldt bekamen wir eines Morgens sehr bequem zu sehen. Es war eine Stunde vor der feierlichen Enthüllung der Monumente von Gneisenau und Yorck. Humboldt, der in seinem tabakbraunen Rock dem letzten pensionierten Kanzleibeamten ähnlicher sah als einem der ersten Geister des Jahrhunderts, betrachtete die Standbilder aufmerksam von allen Seiten und entfernte sich erst, als die Kavallerie herangeritten kam. Prachtvoll sahen die Gardekürassiere aus mit ihren blanken Kürassen und dem silbernen Adler auf dem Helm. Mir fiel das feierliche Tempo der Kavalleriemärsche auf und der majestätische lange Vorhalt jedesmal vor der Schlußnote, ähnlich wie bei der Polonaise. Schön für Auge und Ohr sind die aus alter Zeit beibehaltenen Heerpauken rechts und links vom Sattel des Reiters. Ihr dumpfer Klang gibt der Blechmusik erst Fülle und feierlichen Glanz. Auch das »Glockenspiel« der Artillerei ist eine historische Reminiszenz aus alten Zeiten. –
Nach acht Tagen verabschiedete ich mich von Unger, um mir Hamburg anzusehen. Die malerische, lebensvolle Stadt! »Das Schönste von Berlin ist doch Hamburg«, pflegte ich scherzend Bekannten einzuschärfen, die sich zur Reise nach Berlin anschickten. In Hamburg finde ich, was wir in Berlin vermissen, den alten Adel der Geschichte, den Hauch einer mächtigen Vergangenheit in den alten Stadtteilen neben der modernsten Eleganz der neuen Straßen und Gartenanlagen. Wie bezaubernd ist der Blick aus dem Fenster eines der großen Hôtels über das Alsterbassin, des Abends, wenn Hunderte von Lichtern in gleichem Abstand den kleinen See umsäumen, und beleuchtete Schifflein hin und wiedergleiten! Und die köstliche Elbefahrt nach Blankenese!
Von Hamburg fuhr ich nach Düsseldorf. Ferdinand Hiller, damals als Schumanns und Rietz' Nachfolger Musikdirektor in Düsseldorf, hatte seinem überaus freundlichen Schreiben über meine Broschüre eine Einladung zu dem Niederrheinischen Musikfest beigefügt, das zu Pfingsten unter seiner Leitung stattfinden sollte. Ich war niemals am Rhein gewesen. Die Aussicht auf Naturschwelgerei in neuen Landschaften und geselligen Verkehr mit den besten Musikern erfüllte mich mit jugendlichem Glücksgefühl. In Düsseldorf angelangt, eilte ich gleich in die »Tonhalle«,[163] wo Hiller eben die Generalprobe zur »Schöpfung« abhielt. Aus seinen musikalischen Aufsätzen schloß ich auf eine erfreuliche Bekanntschaft und fand mich nicht enttäuscht. Hiller, damals fünfundvierzig Jahre alt, strotzte im Vollbesitz seiner Kraft und Tätigkeit. Eine mittelgroße, gedrungene Gestalt, Haar und Bart noch dunkel, geistvolles Auge, sinnlich geschwellter Mund. Die zunehmende Körperfülle gab ihm etwas behaglich Ruhiges, als willkommenen Dämpfer seiner geistigen Lebhaftigkeit. Hiller gehörte zu jenen, jetzt sehr selten gewordenen Musikern, die nicht bloß durch ihre Werke, sondern auch durch ihre Persönlichkeit bedeutend wirken. Sein liebenswürdiges tüchtiges, geistvoll anregendes Wesen hat durch ein halbes Jahrhundert das deutsche Musikleben bewegt und befruchtet. Vertrauter Freund Mendelssohns und Schumanns, Chopins, Rossinis, Berlioz', Liszts; in Frankreich und Italien heimisch wie in Deutschland – was hatte er nicht alles erlebt, und wie wußte er's zu erzählen! Der vielgereiste, feingebildete Weltmann war in einer Person vortrefflicher Dirigent, virtuoser Pianist, gediegener Lehrer, geistvoller Schriftsteller und vielseitig fruchtbarer Komponist. Ein hübscher Zug ist mir von dem Musikfest in Erinnerung geblieben. In der zweiten Sitzreihe, dicht hinter dem Prinzen Friedrich von Preußen, saß ein junger Leutnant von der Suite, der, unbekümmert um Beethovens C-moll-Sinfonie, seine Nachbarin, eine allerliebste muntere Prinzessin, angelegentlich unterhielt. Hiller, der durch diese Konversation gestört, schon unruhig geworden war, legte nach dem ersten Satz der Sinfonie den Taktstock nieder und lehnte sich, den Prinzen fest anblickend, weit über die Balustrade vor. Der Prinz stand sofort vom Sitze auf und trat gegen Hiller zu. Sie flüsterten einige Worte, der Prinz kehrte zurück und – von dem Moment an hielt unser Pärchen so still und andächtig, daß es ein Vergnügen war. Ich habe in späteren Jahren noch einigemal die Freude gehabt, mit Hiller zusammenzutreffen. Er war 1879 nach Wien gekommen, um einen Vortrag zu halten und seine Tochter Toni, ein geistvolles Mädchen und lebhafte, pikante Schauspielerin, im Stadttheater spielen zu sehen. Dabei ging es nicht ohne einige väterliche Tränen der Rührung ab. Toni, sein erklärter Liebling und dem Vater in vielen Charakterzügen nachgeraten, hat das Theater bald verlassen und den Klavierprofessor J. Kwast in Frankfurt geheiratet. Hillers Briefe, in welchen die anmutig geschwungene Handschrift so schön mit dem leichten und feinen[164] Stil harmonierte, waren mir jederzeit eine willkommene Gabe. Er schrieb stets heiter; nur über eins klagte er, daß ich »immer seine Bücher lobe und nie seine Kompositionen«. Das war richtig, aber mit bestem Willen nicht zu ändern. Hillers Kompositionen, die ich keineswegs unterschätze, haben mir eben nicht entfernt so viel Freude bereitet wie seine Bücher. Sehr hübsch lautet der Schluß eines seiner Briefe: »Obschon ich von Ihnen über meine Schriftstellerei viel mehr Schönes gesagt bekommen als über meine Komponiererei, so bleibt letztere doch immer mein Lieblingsgeschäft – auch gebe ich die Hoffnung keineswegs auf, daß meinen Tonwerken noch eine allgemeinere Anerkennung zuteil werde. Indes, wie dem auch sei – es ist ein lustig Metier und gar nicht teuer!«
Das Eigentümliche, besonders Erfreuliche an den Niederrheinischen Musikfesten liegt in der Verbindung auserlesener Musikgenüsse mit einer lebensvollen, heitern Geselligkeit. Abwechselnd bei Hiller, bei dem Maler Professor Sohn, bei Notar Euler, dessen schöne Tochter Bertha, jetzt die Gattin Vautiers, den Maitrank so anmutig kredenzte, fanden sich mittags oder abends nach den Konzerten die interessantesten Leute in zwangloser Geselligkeit zusammen. Wen lernte ich da nicht alles kennen! Professor Otto Jahn aus Bonn, Stephen Heller aus Paris, Franz Lachner, Mangold, Reinecke, Ferdinand David, Rheinthaler, Roderich Benedix, Wolfgang Müller von Königswinter u.a. In »Jakobis Garten« (Pempelfort), mir durch Goethes Aufenthalt bei Jakobi ein geweihter Ort, traf ich des Morgens Joachim und Brahms, »zwei geniale Bursche«, wie Schumann schrieb. Der dreiundzwanzigjährige Brahms mit seinem langen blonden Haar, seinen Vergißmeinnichtaugen und einer Gesichtsfarbe wie Milch und Blut glich irgendeinem Jean Paulschen Idealjüngling. Kurz vorher waren seine ersten Werke erschienen und begannen Aufsehen zu erregen, vorläufig noch ohne tiefere Wirkung. Von ihm und Clara Schumann erhielt ich die »zuverlässige Nachricht«, daß Robert Schumann völlig hergestellt sei; er lese, schreibe und komponiere abwechselnd, klaren Geistes. Nur um sein aufgeregtes Nervensystem noch eine Zeitlang zu schonen, werde (in der Heilanstalt Endenich bei Bonn) jeder Besuch von ihm ferngehalten. Diese tröstende Täuschung, welche Frau Schumann festhielt und weitergab, sollte nur zu bald verrinnen. Ein Jahr später, und der teure Mann hatte ausgeatmet, ohne die Freiheit seines Geistes[165] wiedererlangt zu haben. Clara hat ihn nicht lebendig wiedergesehen.
Nach dem letzten Konzert beschloß ein Bankett im »Rittersaal« diese fröhlichen Pfingsttage. Die Plätze waren vom Komitee angewiesen. Obenan saß Jenny Lind, die Königin dieses Musikfestes. Wie entzückend hatte sie die Sopranpartie in Haydns »Schöpfung« und in der »Peri« von Schumann gesungen! Jeder Ton klingt mir heute noch im Ohre. Am dritten Abend (dem »Künstlerkonzert«) sang sie unter anderem eine Arie aus Bellinis »Beatrice de Tenda« (mit der zauberhaften, aus verminderten Septimakkorden geflochtenen Kadenz). Einem »klassischen« Fanatiker, welcher diese Wahl ärgerlich bekrittelte, konnte ich nur antworten: »Was Jenny Lind singt, ist alles schön!« Mein Tischnachbar zur Rechten war Liszt, der sich mir gleich als prinzipiellen Gegner aufführte, ohne den liebenswürdigen, geistreichen Weltmann zu verleugnen. Das Gesicht konnte noch schön heißen, die langen Haare waren seit unsrer letzten Begegnung grau geworden. Zur Linken hatte ich Otto Jahn, gerade gegenüber Stephen Heller und Ferdinand Hiller. Sie sind alle tot. Unser Leben ist wie die »Abschiedssinfonie« von Haydn: einer nach dem andern löscht sein Licht aus und schleicht sich davon.
Die Heimfahrt von Düsseldorf wußte ich prächtig zu verwerten und auszunützen. Ich durchwanderte die schönsten Strecken zu Fuß und machte an jeder verlockenden Station Halt. Dem Himmel danke ich die glückliche Gabe, jeden schönen Eindruck, jede frohe Stunde voll auszugenießen; sie hat mir diese Reise zu einem unerschöpflichen Freudenborn gemacht. In Köln führte mich Roderich Benedix, der heitere Lustspieldichter und wackere, gemütvolle Mann, im Kölner Dom und oben auf dessen Gesimsen umher; er kannte jedes architektonische Detail desselben, es war sein Studium und seine Liebhaberei. In Bonn hatte ich ein Rendezvous mit Otto Jahn verabredet; er würzte mir das Nachtmahl mit seinem inhaltreichen Gespräch und führte mich noch spät abends zur Beethovenstatue. Sie mißfiel mir gründlich; in Wien hat uns jetzt Zumbusch einen ganz andern, einen echten großen Beethoven gemeißelt, welchem man die Eroica zutraut[166] und alle Liebe und alles Leid der Erde. Am andern Morgen nach Königswinter; den Drachenfels und die Ruine Godesberg erklettert; zu Fuß nach Bonn zurück, an fliederduftenden Gärten und zierlichen Villen vorbei. Mit dem Dampfschiff nach Koblenz; kaum gelandet, hinauf nach Stolzenfels und abends auf den Ehrenbreitstein. Ein Tag schöner als der andre! Am andern Morgen früh mit dem Postwagen nach Ems und zu Fuß zurück durch das herrliche Lahnthal, durch Buchen- und Föhrenwald, dann an tiefen Abgründen vorbei und über Ehrenbreitstein wieder herab nach Koblenz. Dann Mainz, Frankfurt, Baden-Baden, Rastatt.
Die Bundesfestung Rastatt zeigte mir noch leibhaftig den »Deutschen Bund«, dessen Tage bereits gezählt waren, den Deutschen Bund in Uniform. Österreichische und preußische Truppen hielten gemeinschaftlich die Bundesfestung besetzt. Mein Aufenthalt daselbst galt meiner Schwester Lotti, die an den österreichischen Major Moriz von Fialka verheiratet, hier eine ihrer vielen Militärstationen gefunden hatte. Die armen Offiziersfrauen! Wandern und immer wandern ist ihr Schicksal. Bald nach ihrer Heirat nach Theresienstadt, nach Imst in Tirol, nach Rastatt, nach Trient, nach Mantua und von da wieder hoch hinauf nach Krakau versetzt, mußte sie mit ihrem Mann und einer zahlreichen Kinderschar fortwährend den Aufenthalt wechseln. Da sie frischen Mutes war und voll zärtlicher Liebe für die Ihrigen, befanden sich alle überall wohlauf und glücklich. Ich habe meine Schwester, mit der mich die innigste Seelenharmonie und unbeschränktes gegenseitiges Vertrauen verband, im Laufe der Jahre in jeder dieser Stationen aufgesucht. In Rastatt zeigte sich mir eine gute Seite der Bundesverfassung wenigstens in dem echt kameradschaftlichen, freundlichen Einvernehmen unserer Offiziere und Offiziersfrauen mit den preußischen. Zehn Jahre später standen Österreicher und Preußen einander als Feinde gegenüber, und der Bundestag lag in Trümmern.
Von Rastatt ging's nach Heidelberg. Wen hätte diese Stadt, in herrlicher Lage nach Salzburg und Prag wohl die schönste in Deutschland, nicht entzückt! Ich darf mich nicht in Reiseschilderungen verlieren. Genug, daß ich den lieblichsten Teil von Thüringen zu Fuß durchstreifte, Eisenach, Wilhelmsthal, Liebenstein, Ruhla, das Drusenthal. Mein Kofferchen hatte ich nach Weimar vorausgeschickt. Wie könnte ich den Sturm von Gefühlen beschreiben, der in der Fürstengruft, in Schillers Zimmer,[167] mich bewegte! Und vollends in dem herrlichen, durch zahllose Erinnerungen an Goethe geweihten Park! Ich war nie dort gewesen und kannte doch jede Stelle darin und jede Aufschrift von Goethes Hand. In einem Rausche von Glück und Rührung durcheilte ich immer und immer wieder diese Alleen bis nach Belvedere und wieder zurück. Keinen Eindruck, nicht den des Kolosseums und der Peterskirche, kann ich diesem vergleichen. Hier in Weimar schien mir's, als hätte ich mein geistiges Vaterland gefunden. War ich doch in Weimars klassischer Zeit vollkommen zu Hause, mit all ihren Personen und Örtlichkeiten vertraut und hing an Goethe und Schiller, als an den Führern und Idealen meiner Jugend mit meinem ganzen Herzen – inniger als an Mozart und Beethoven!
Verwehrt blieb mir leider der Eintritt in Goethes Haus. Schon in Wien hatte ich Walther von Goethe gebeten, mir durch eine Empfehlungskarte die Besichtigung der Goethezimmer zu erwirken. – »Ja, da müssen Sie trachten, an einem Freitag in Weimar zu sein«, antwortete der kleine Komponist und Enkel des großen Dichters, »Freitags sind die Sammlungen dem Publikum geöffnet.« – »Dazu hätte ich Sie nicht gebraucht«, erwiderte ich. Und wirklich war mir an den Mineralien, den Pflanzen und den Gipsabdrücken Goethes wenig gelegen; nach den Räumen hatte ich mich gesehnt, in welchen Er gewohnt und gewaltet. Diese waren damals streng verschlossen; ein kränkend aristokratischer Gegensatz zu dem allgemein zugänglichen Schillerzimmer, in welchem Tausende Rührung und Erbauung wie in einer Kirche gefunden haben. Jetzt ist das anders geworden, und man muß es dem Enkel wenigstens nachrühmen, daß er das Goethehaus mit all seinen kostbaren Reliquien treu bewahrt und behütet hat bis zu dem Augenblick, wo es als Erbschaft in die Hände der Großherzogin überging. Ich hatte die beiden Enkel Goethes, Wolfgang und Walther, in Wien kennengelernt und einen Abend mit ihnen bei Hofrat Vesque zugebracht. Mit welcher Spannung von Neugierde und Sympathie sah ich ihnen entgegen! Traurige Enttäuschung. Das Äußere der beiden jungen Leute stimmte fast zum Mitleid. Nicht bloß, daß der Name Goethe auf ihnen lastete, sie beinahe physisch niederzudrücken schien; nicht einen Zug, nicht einen Blick, nicht einen Tonfall konnte ich ihnen ablauschen, der von weitem an Goethe erinnerte hätte! Sie hatten beide, der größer gewachsene Wolfgang und der kleine Walther, so merkwürdig[168] alte, langgezogene faltige Gesichter, wie man sonst an Kindern alter Eltern beobachtet. Und das war hier nicht der Fall. August von Goethe hat mit achtundzwanzig Jahren geheiratet; er und seine Frau Ottilie, die ich als eine geistreiche, liebenswürdige alte Dame in Wien kennengelernt, durften auf stattlichere Söhne hoffen. Unbegabt war keiner von beiden, wenngleich ihr Talent den Maßstab nicht vertrug, den ihr Name unwillkürlich aufzwang. Die Gedichte Wolfgangs, die Kompositionen Walthers sind spurlos vergessen; der Name des letzteren lebt nur auf dem Titelblatt der »Davidsbündlertänze« fort, welche Robert Schumann ihm gewidmet hat.
Auf der Heimreise von Weimar rastete ich bloß einen Tag in Leipzig. Ich besuchte vormittags Dr. Julian Schmidt, der meiner Schrift eine längere Besprechung in den »Grenzboten« gewidmet hatte. In Pantoffeln, Hemd und Unterhosen stand das schmächtige Männchen vor einem kleinen Felleisen und packte es voll zu einem Ausflug nach dem Harz. Während er seine Siebensachen (es waren wirklich kaum mehr) hineinstopfte, sprachen wir über Musik. Sein Gespräch verriet trotz aller Lebendigkeit und Sicherheit doch recht bescheidene musikalische Kenntnisse. Überhaupt schien seine auf scharfe Kritik angelegte Verstandesnatur nur wenig empfänglich für musikalische Wirkungen. Das konnte meinen Respekt vor dem geistreichen Manne nicht mindern, dessen »Deutsche Literaturgeschichte« mir Vergnügen und Belehrung in so reichem Maße gewährt hat. Ich begleitete ihn auf den Bahnhof. Wie er da, sein Kofferchen in einer Hand tragend, mit der andern einen Ziegenhainer schwingend, unausgesetzt sprechend, einherlief, sah er einem sächsischen Schneidergesellen viel ähnlicher als einem berühmten Literaturhistoriker.
Sympathischer berührte mich die ruhige, gediegene Persönlichkeit Moritz Hauptmanns, des Kantors an der Thomasschule und ausgezeichneten Musiktheoretikers. Er schickte bei meinem Eintritt zwei Schüler fort, um ungestört mit mir zu plaudern. Stimmte er doch von ganzem Herzen meinen Ansichten über Liszt und Wagner zu, Ansichten, die aus seinem Munde freilich ungleich stärker instrumentiert herauskamen.
Nach Tische besuchte ich Moscheles, der ziemlich weit abseits vom Zentrum der Stadt wohnte. Es herrschte eine sengende Hitze, und obgleich ich zuvor ein kaltes Flußbad genommen – vor meiner Badelust blieb kein Fluß, kein See verschont –, langte ich[169] doch äußerst ermattet, fast sprachlos in Moscheles' Wohnung an. Der alte Herr hielt im Nebenzimmer seine Siesta; von Frau Moscheles mit der Frage begrüßt, womit sie mir dienen könne, stöhnte ich nur: »Mit einem Glas Wasser! Alles Weitere hernach!« Die gute Frau brachte mir schnell einen Syphon mit Sodawasser. Mit dieser Maschinerie nicht vertraut, drückte ich heftig auf den Hebel und verursachte eine fürchterliche Überschwemmung über den ganzen Tisch. Das war mein nicht übles Entree in dem fremden Hause. Die beschwichtigende Freundlichkeit der Hausfrau machte meiner Verlegenheit bald ein Ende, und ich konnte ihr die von Freund Unger mir aufgetragenen Grüße bestellen. Nicht umsonst hatte er mich auf diese durch Geist und echte Bildung ausgezeichnete Frau so nachdrücklich aufmerksam gemacht. Moscheles war bei Gelegenheit eines Konzertes, das er 1825 in Hamburg gab, mit Charlotte Embden, der Tochter eines dortigen Bankiers, bekannt geworden. Wenige Tage nach ihrer ersten Bekanntschaft verlobten sie sich, vier Wochen später feierten sie ihre Vermählung. Moscheles verdankte ihr das reinste häusliche Glück während einer durch volle fünfundvierzig Jahre ungetrübten Musterehe. Ihren ersten Knaben, Felix, hat Mendelssohn aus der Taufe gehoben. Als Moscheles von seinem Schläfchen gestärkt eintrat, überraschte mich die Rüstigkeit und Frische, mit welcher der alte Herr von seinen englischen und französischen Konzertreisen, von seinen alten Wiener Erinnerungen, vor allem von Beethoven erzählte. Der Ausruf »Sie sollten doch Memoiren schreiben!« drängte sich mir auf die Lippen. – »Ich selbst nicht mehr,« erwiderte Moscheles, »aber ein anderer wird nach meinem Tode wohl etwas zusammenstellen können aus den Tagebüchern, die ich mit größter Regelmäßigkeit seit dem Anfang meiner Künstlerlaufbahn bis heute fortführe.« – Nach Moscheles' Wunsch hat seine Frau diese Arbeit übernommen und im Jahre 1872 veröffentlicht. Moscheles war so liebenswürdig, mir einige seiner neuesten Kompositionen vorzuspielen. In derselben Täuschung, die soviele ältere Künstler tröstend befängt, hielt er seine neuesten Sachen für weit besser als die früheren, welche den Ruhm seiner Jugend- und Mannesjahre gründeten. Moderner, wenn man will, klangen diese neuesten Werke mit ihrer absichtlichen, verspäteten Hinneigung zu Mendelssohn-Schumannschem Stil, – besser waren sie nicht als seine reizenden Etüden aus früherer Zeit; im Gegenteil. Doch lauschte ich mit[170] Freuden dem berühmten Altmeister, der schon graues Haar gehabt, als ich ihn in meinen Knabenjahren in Prag gehört. Bei etwas steiferem Anschlag liefen seine Finger noch immer merkwürdig behend über die Tasten. Als er, etwas ermüdet, schweißtriefend schloß, plauderten wir noch eine Weile über seine berühmten Freunde. Warum Heine, der doch über alle namhaften Komponisten seiner Bekanntschaft geschrieben, nie den Namen Moscheles genannt hat? Frau Moscheles löste mir das Rätsel. Heine war in London gern und häufig in ihr Haus gekommen, meist ungebeten zu Tisch. Sie verschaffte ihm dort zu allen Privatgalerien, Parks und Palästen die Einlaßkarten, bat sich aber dafür aus, daß Heine in seinem Buch über England Moscheles nicht nenne. »Moscheles' Fach,« erklärte sie dem erstaunten Dichter, »ist die Musik, für die haben Sie doch kein besonderes Verständnis. Hingegen könnten sie leicht irgendeinen Stoff für Ihre geniale Satire an ihm finden und ausbeuten; das möchte ich nicht.« Heine gab ihr lachend seine Hand darauf. Ein hübscher, echt weiblicher Zug. –
Noch am selben Nachmittag fuhr ich, die Nacht durch, nach Prag, um meinem Vater von der Reise zu erzählen. Mit welcher selbstlosen Freude lauschte er meinen Erzählungen, insbesondere von Weimar, wohin er sich so oft gesehnt, ohne daß es ihm je vergönnt war, hinzukommen. Ja, was die Väter in der Jugend sich gewünscht, das haben im Alter – die Söhne in Fülle.
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