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[231] Die Erinnerung an die hervorragenden Gesangskünstler jener Epoche ruft mir auch das Bild dreier gleichzeitig wirkenden Wiener Kapellmeister zurück. Verdienstvoll und bedeutend, jeder in seiner Art, waren sie doch alle drei grundverschieden voneinander. Heinrich Esser, der älteste von ihnen, eine ernste, bedächtige hagere Ratsherrngestalt »aus dem Reich«; Johann Herbeck, voll Jugendfeuer, Enthusiasmus und Ehrgeiz, Wiener durch und durch; endlich Otto Dessoff, der zierliche, kühle Leipziger von[231] vielseitiger Bildung und geselligem Schliff. Esser, von 1847 bis 1869 erster Kapellmeister am Hofoperntheater, war einer jener gründlich gebildeten Musiker älterer Schule, bei denen man sich zuversichtlich Rats erholen konnte. Das hob ihn so bedeutend über die Mehrzahl seiner Berufsgenossen, daß er über eine allgemeine wissenschaftliche Bildung verfügte und Fragen seiner Kunst aus einem höheren Gesichtspunkt zu fassen und aus einem reicheren Schatz durchdachter Grundsätze zu beantworten wußte. In Deutschland als Komponist geachtet und beliebt, machte er doch in Wien nicht den mindesten Versuch, seine komische Oper »Die beiden Prinzen« zur Aufführung zu bringen, überhaupt für seine Kompositionen zu wirken. Sein Ehrgeiz beschränkte sich auf sorgfältigste Pflichterfüllung. In dieser und in seinem schönen, glücklichen Familienleben fand Esser völliges Genügen. Sein freundlicher Ernst, seine ungesucht würdevolle Haltung flößten Achtung und Vertrauen ein!

Esser war unter anderem mein Kollege in einem gar seltsamen Komitee: dem »Artistischen Beirat«, welchen die Hofbehörde sich veranlaßt fand, dem Operndirektor Matteo Salvi an die Seite zu setzen. Salvi, im Jahre 1861 auf diesen Posten erhoben, hatte vorher eine italienische Saison im Theater an der Wien mit Glück geleitet. Das war allerdings ein ungenügender Rechtstitel für den Direktorsposten an einer deutschen Hofbühne. Der Mann besaß nur Erfahrungen im Bereich der neuitalienischen Oper und sprach obendrein sehr schlecht deutsch. Diese Mängel zeigten bald bedenkliche Resultate und veranlaßten die Einsetzung des erwähnten »Beirates«, welcher aus dem Doktor Leopold von Sonnleithner, den Kapellmeistern Esser und Dessoff, dem ökonomischen Sekretär Steinhauser und mir bestand. Eine aussichtslose Maßregel, denn die Leitung eines Theaters muß in einer starken Hand liegen. Die Unmöglichkeit eines solchen vielköpfigen Regiments und eines gedeihlichen Zusammenwirkens mit Salvi, mit dem wir stets im Streite lagen, stellte sich bald heraus, und wir gaben unsere Demission. Salvi blieb nunmehr unbeschränkter Direktor bis zum Jahre 1867, wo Franz Dingelstedt – ein ganz anderer Mann! – ihm folgte. Eine hübsche Probe seiner Urteilskraft gab Salvi unter anderem, als er gegen meinen Vorschlag, Gounods »Faust« aufzuführen, heftig opponierte. Er hatte die erste deutsche Aufführung dieser Oper in Darmstadt angehört und behauptete, »Faust« sei lärmend, verworren, ganz wagnerisch[232] und müsse in Wien durchfallen. Zum Glück trauten die »Beiräte« meinem Urteile mehr als dem Salvis, und wir setzten die Oper durch. »Faust« wurde (1862), mit Ander und der Dustmann in den Hauptrollen, vortrefflich gegeben und von dem nachhaltigsten Erfolg begleitet, dessen sich seit den »Hugenotten« irgendeine große Oper rühmen konnte.

Otto Dessoff kam 1860 als jüngster Kapellmeister ins Kärntnertortheater. Seinem höheren musikalischen Bedürfnis vermochte die ausschließliche Beschäftigung mit Opernmusik nicht zu genügen; er nahm den fallengelassenen Faden der von Otto Nicolai gegründeten »Philharmonischen Konzerte« wieder auf und brachte diese zu hoher Blüte. Durch Dessoff gewannen die Philharmonischen Konzerte neue Anziehungskraft und sind eine nicht wieder unterbrochene, ständige und glänzende Institution des Wiener Musiklebens geworden. Dessoff war eine in den besten Gesellschaftskreisen geachtete und beliebte Persönlichkeit. Auch Esser fühlte sich sympathisch zu Dessoff hingezogen; die Familien beider Männer verkehrten freundschaftlich miteinander, während sie Herbeck und seinem Hause ferner standen. Im Leben, wie am Dirigentenpult bewahrte Dessoff stets eine etwas abgemessene, norddeutsch kühle Korrektheit; er besaß die volle Achtung seiner Musiker, aber nicht ihren Enthusiasmus. Das konsequente Übelwollen eines namhaften Kritikers bewog ihn, eine glänzende Anstellung als Hofkapellmeister in Karlsruhe anzunehmen, von wo er später einem Ruf nach Frankfurt a.M. folgte. Ich habe sein Hinscheiden (1892) aufrichtig beklagt.

Was Esser und Dessoff abging, jugendliches Feuer und die Gabe, die Musiker zu begeistern, besaß in hohem Grade Johann Herbeck. Er war von den drei Kapellmeistern die interessanteste und genialste Persönlichkeit, zugleich die turbulenteste. Ich hatte Herbeck als ganz jungen Mann in einer Soirée bei Vesque von Pütlingen kennengelernt, wo er mit gewohnter Gefälligkeit die zweite Tenorpartie in einigen Vokalquartetten sang. Das geniale offene Gesicht, das feuerige braune Auge Herbecks sprachen mich sofort sympathisch an. Ein echter Künstlerkopf. Es entspann sich zwischen uns ein freundschaftliches Verhältnis, während dessen zwanzigjähriger Dauer sich Herbeck immer gleich treu und vertrauensvoll erwies. Vor die Öffentlichkeit trat Herbeck zuerst als Chormeister des Männergesang-Vereins, sodann des Singvereins. Mit unbedingter Folgsamkeit und Hingebung[233] hingen die männlichen und weiblichen Mitglieder dieser Chorvereine an ihm. Er übte als Dirigent eine geradezu demagogische Wirkung. Vom Chor stieg Herbeck rasch auf zu den großen Orchesterkonzerten, als artistischer Direktor der »Gesellschaft der Musikfreunde«. Wie aus den Wolken fiel dann (1866) die Ernennung des jungen Mannes zum Ersten k.k. Hofkapellmeister. Es war ein alle Traditionen niederwerfender Vorgang; Herbeck war zu dieser Höhe über viele Köpfe hinweggestiegen, worunter meistens leere. An diesem großen, Kirche und Konzertsaal, Chor- und Orchestermusik umfassenden Wirkungskreis ließ sich Herbeck leider nicht genügen; er gab ihn auf, um Direktor des Hofoperntheaters zu werden. Sein Interesse an der Oper, am Theater überhaupt, war stets ein geringes gewesen, aber der Ehrgeiz, diese nimmer ruhende Triebfeder seines Strebens, gönnte ihm nicht Rast noch Frieden. Wir gratulierten Herbeck zu seiner Würde nicht ohne innerliche Besorgnis. Herbecks schnelle Auffassungs- und Assimilierungskraft machte ihn zwar auch im Opernfache bald heimisch und tüchtig. Wäre nur die drückende Unterordnung unter die Generalintendanz nicht gewesen, die mit kleinlicher Strenge und eitlem Besserwissen ihn überall bevormundete! Herbeck bewies hier eine rührende Beamtentreue und Unterwürfigkeit, aber der Beamte begann den Künstler zu überwuchern. Die öffentliche Meinung feierte den Triumph, daß die Generalintendanz aufgehoben, somit Herbeck künstlerisch frei wurde, aber wenige Wochen später empfing er selbst, der Hofoperndirektor im »Reiche der Unwahrscheinlichkeit«, seine Demission. Ich hatte eben ein Feuilleton über diese Angelegenheit abgeschickt, als Herbeck mich besuchte. Ob er es nicht sehen könne? Nein, es ist zu spät. Da läßt mich Herbeck abends aus dem Theater herausbitten und ersucht mich dringend um eine Karte an den Setzer der »Neuen freien Presse«, dieser möge ihn den Bürstenabzug meines Feuilletons lesen lassen. Herbeck erklärte, er könne seine Aufregung nicht länger bemeistern und unmöglich bis morgen früh warten auf meinen Aufsatz. Es peinigte ihn die Angst vor Angriffen, nicht auf seine Person, sondern auf die oberste Theaterbehörde, deren Sündenregister ich sehr wohl kannte. Und doch hatte er von der Generalintendanz nichts mehr zu fürchten! Dieses kleine Erlebnis zeigte mir mit schrecklicher Deutlichkeit, welche zerrüttende Unruhe Herrschaft über ihn gewonnen hatte. Herbeck hat seine Enthebung von der Hofoperndirektion[234] niemals verschmerzt, wenn er auch zu stolz war, es einzugestehen. Er trat (1876) wieder an das Dirigentenpult der Gesellschaftskonzerte, welchen Platz Brahms mit ritterlicher Courtoisie ihm sofort räumte. Herbecks Kunstbegeisterung und Energie waren die alten geblieben, aber diese Energie bekam einen Anflug von wunder Heftigkeit. Er wurde reizbar, in hohem Grade nervös. Der früher so kräftige siebenundvierzigjährige Mann vermochte einem jähen Krankheitsanfall nicht mehr zu widerstehen und erlag im Herbst 1877.

Nach der Ernennung Herbecks zum Hofoperndirektor wurde Anton Rubinstein sein Nachfolger in der Leitung der Gesellschaftskonzerte. Das war wohl der berühmteste, aber keineswegs der beste unsrer »artistischen Direktoren«. Seine Wirksamkeit dauerte nur ein Jahr und hat in der Geschichte unsres Konzertwesens keine Spuren hinterlassen. Als zuerst von einer Berufung Rubinsteins die Rede ging, dachte jedermann an den unvergleichlichen Virtuosen. Man hatte vorausgesetzt, die Gesellschaft der Musikfreunde werde das mit bedeutenden Opfern erkaufte Engagement Rubinsteins nicht ohne Rücksicht auf die höhere Ausbildung des Klavierspiels in Wien geplant haben. Das unterblieb; Rubinsteins Meisterschaft auf dem Klavier existierte nicht für die »Gesellschaft« und ihr Konservatorium. Was er als bloßer Konzertdirektor hier geleistet hat, war ganz unerheblich. Persönlich hatte ich zu ihm niemals auch nur die leiseste Beziehung. Obwohl er in einer ständigen Musikanstellung über ein volles Jahr in Wien lebte und nicht weit von mir wohnte, war es doch genau so, als läge das Weltmeer zwischen uns. Und doch hatte ich zwei Jahre zuvor Rubinstein in einem Hause kennengelernt, das ihm vor allen teuer und wichtig war: bei der Großfürstin Helene von Rußland.

Es war im Sommer 1868, daß die Großfürstin im Bad Gastein mich durch ihren Leibarzt, einen hochgebildeten Deutschen aus Livland, zu sich bitten ließ. Die Großfürstin, eine deutsche Prinzessin, besaß bekanntlich große Verdienste um die Hebung der Musikzustände, insbesondere um die Pflege deutscher Musik in Rußland. Die Konservatorien in Moskau und Petersburg erfreuten sich ihrer beständigen, kundigen Obsorge. Sie ersuchte mich, ihr für eine eben erledigte Professur des Klavierspiels jemanden zu empfehlen. Ich schlug ihr Alexander Winterberger vor, einen die Orgel wie das Klavier meisternden, genialen Liszt-Schüler,[235] welcher die Stelle auch erhielt. Das ernste, musikalische Interesse der hohen Frau erkannte ich unter anderem auch daraus, daß sie meine »Geschichte des Konzertwesens« lesen wollte. Ich ließ für sie das Buch aus Wien kommen und erhielt wenige Wochen später als fürstliches Gegengeschenk ein großes Malachitalbum mit Porträts berühmter Komponisten auf den ersten Blättern. Außerdem sandte sie mir sechs bis acht der beliebtesten russischen Opern von Glinka, Seroff, Dargomyzsky u.a. Außer Glinkas »Leben für den Zaren«, dem eine italienische Übersetzung unterlegt war, hatten alle übrigen Klavierauszüge nur russischen Text, waren also in der Hauptsache für jeden der kyrillischen Schrift Unkundigen nicht brauchbar. Die nationale Abgeschlossenheit der Russen birgt große Nachteile für ihre Komponisten. Sie beharren auf ihren kyrillischen Lettern und sehnen sich doch nach europäischer Anerkennung. Russische und tschechische Opern werden nie über die Grenzen ihres Landes hinaus wirken, solange ihre Komponisten in falschem Nationalstolz glauben, einer deutschen, italienischen oder französischen Übersetzung entbehren zu können. – Nach meinem ersten Besuch wurde ich zu einem intimen kleinen Diner der Großfürstin geladen. Zugegen waren nur noch ihre Hofdame, Baronin Edith von Rhaden, eine der geistvollsten und liebenswürdigsten Deutsch-Russinnen, der Leibarzt und mein Freund Professor Hlasiwetz, dessen Bekanntschaft mit dem Leibarzt ich vermittelt hatte. Nach dem Diner wurde im Garten das »russische Kegelspiel« probiert, an dem sich auch die Großfürstin beteiligte. Da erschien Rubinstein, welcher tags zuvor in Gastein angekommen war. Man kehrte in den Salon zurück, und Rubinstein spielte auf Wunsch der Großfürstin die F-moll-Sonate (Appassionata) von Beethoven. Die ersten Sätze wunderbar schön, das Finale in so wahnsinnigem Tempo, daß die Großfürstin mir zuflüsterte: »Das heißt ja nicht mehr spielen, sondern rasen.« An Rubinstein gefiel mir sein offenes, gerades Wesen, an dem nichts Affektiertes oder Komödiantisches haftete. Auch von slawischer Unterwürfigkeit keine Spur, eher ein Anflug von slawischem Trotz, der ihn nicht übel kleidete. Nach diesem Zusammentreffen bei seiner hohen Beschützerin habe ich Rubinstein nie wieder gesprochen, obwohl er, wie erwähnt, bald darauf nach Wien übersiedelte und ein Jahr lang die Direktion der Gesellschaftskonzerte geleitet hat. Weshalb er mich sein Lebelang so konsequent ignorierte? Ich weiß es nicht. Hätte[236] er meine Berichte gelesen – was er natürlich niemals tat, denn welcher Virtuose kümmert sich um Kritiken! –, er würde mich als einen der allerwärmsten und treuesten Bewunderer seines unvergleichlichen Spiels kennengelernt haben. Vielleicht mag ihm doch zu Ohren gekommen sein, daß ich über manche seiner Kompositionen nicht eben rosenrot geschrieben. Aber was konnte das einen Künstler wie Rubinstein anfechten, der sich stets der vollkommensten Gleichgültigkeit gegen Lob und Tadel rühmt?

Von der »Verachtung aller Kritik« habe ich übrigens einmal ein erheiterndes Beispiel erlebt. Bauernfeld, dem es bekanntlich ein Bedürfnis war, über alles zu schimpfen, über den ersten Minister wie über den letzten Statisten, wetterte mit ganz besonderer Passion gegen die Kritiker. Eines seiner späteren Stücke wurde im Burgtheater vorbereitet. »Die Kritiker werden es wahrscheinlich heruntermachen,« äußerte er am Vorabend der Aufführung bei Baron Todesko, »aber was diese Ignoranten schreiben, ist mir ganz gleichgültig; es fällt mir gar nicht ein, so ein Blatt auch nur anzusehen!« Am Morgen nach der Premiere huschte aber zeitlich früh unser Bauernfeld in ein von ihm sonst nicht besuchtes Kaffeehaus, setzte sich in den entferntesten Winkel und ließ sich alle Zeitungen bringen; sein Kopf steckte hinter diesem Papierhaufen wie hinter einer Verschanzung. Dergleichen kommt gewiß nur äußerst selten vor. Schriftsteller, Komponisten und Virtuosen lesen ja, wie gesagt, niemals eine Zeitung, in welcher von ihnen die Rede ist! So behaupten sie wenigstens. Sänger und Schauspieler machen eine Ausnahme; sie schämen sich nicht, zu gestehen, was ja so natürlich, so selbstverständlich ist: daß sie ein menschliches Interesse an Lob und Tadel, einen Zusammenhang mit der öffentlichen Meinung haben. Der Kritiker braucht deshalb noch nicht eitel zu werden. Ein berühmter Sänger äußerte einmal frank und frei: »Der Kritiker ist immer ein Esel; mag er nun tadeln – mich nämlich, oder loben – einen anderen Sänger.«

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 231-237.
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