[303] »Le mois d'avril c'est une fille de quatorze ans,« sagt Balzac irgendwo. Meine Schwärmerei für vierzehnjährige Mädchen (die nichts davon erfuhren) hat sich seit meinen Studentenjahren beruhigt – der Zauber des Aprils ist geblieben. Wenn die Fliederbüsche die ersten blauen Spitzen ansetzen, ein Schimmer von Grün über den Wiesen leuchtet und balsamisch linde Lüfte uns den Frühling vorlügen, da wird mir heute noch das Herz so weit und sehnsuchtstrunken wie in der Jugendzeit. Es zieht mich gewaltsam ins Freie, ich möchte reisen, reisen, wo immer hin! Im April 1875 traf es sich prächtig, daß die Neugierde des musikalischen Publikums allerwärts auf die neu eröffnete Große Oper in Paris gerichtet war. Man erzählte Wunderdinge davon, und die Herausgeber der »Neuen Freien Presse« waren es zufrieden, daß ich ihren Lesern von diesen Wunderdingen berichte.
Auf der Hinreise verweilte ich in Straßburg, wo mir Wilhelm Scherer den Abend und den folgenden halben Tag schenkte. Scherer, früher mein Kollege als Professor an der Wiener Universität, lehrte seit kurzem an der Straßburger Hochschule. Noch immer derselbe frische, anregende Feuergeist! Nur viel angenehmer im Verkehr als in seinen Jugendjahren. Ich erinnere mich, wie eines Abends Ernst von Teschenberg, damals Redakteur der »Wiener Zeitung«, den jungen Studenten in unsere Abendgesellschaft brachte. Scherer war damals schon von einer fast unheimlichen Gelehrsamkeit und nach Art sehr talentvoller junger Leute davon förmlich besessen. Ein Wort über die Burgtheater-Aufführung von »Nathan dem Weisen« genügte, um alle Schleusen seiner erstaunlichen Literaturkenntnis zu öffnen; er sprach über die Quellen des Nathanstoffs; zitierte alle Jahreszahlen, verglich und korrigierte die Lessingausgaben von Danzel und Guhrauer, die Lessingbiographien von Stahr und Düntzer, und das alles in immer gleichem schnellsten Redefluß, so daß wir ihm erstaunt, aber etwas erkältet zuhörten. Der junge Mann machte mir damals den Eindruck eines verfrühten Büchergelehrten und Pedanten, den das Studieren um seine Jugend betrogen habe. Ich täuschte mich; Scherers Jugend, die nur in den ersten Jahren seines Strebens wie[303] verschüttet lag, sprudelte unversehrt und doppelt frisch wieder an die Oberfläche, sobald er Amt und Anerkennung als sicheren Boden unter den Füßen fühlte. Ich fand ihn schon in Straßburg viel heiterer und bücherstaubfreier als ehedem in Wien. Als ihn später gar die Liebe packte und er Bräutigam und Gatte einer anmutigen Sängerin geworden war, da prangte er wie ein Baum in voller Blüte. Die Pedanterie war abgeschüttelt, der geistreiche Gelehrte erfreute und fesselte nun auch Nichtgelehrte durch seine lebendige Empfänglichkeit für alles, was das Leben Schönes und Gutes bietet. Scherer machte mir in Straßburg mit unermüdlicher Liebenswürdigkeit den Cicerone, führte mich in den Dom, auf die Universität, zu Goethes Wohnhaus auf dem Fischmarkt. Er freute sich des Jubels, womit ich jeden Reichsadler auf den Gebäuden der wieder deutsch gewordenen Stadt begrüßte. Er lebte ganz in literarischen Studien; die Tonkunst stand ihm ferner. Als Nichtmusiker maßte er sich darüber kein Urteil an; aber von seinem Standpunkt, dem der deutschen Sprache und Dichtkunst, eiferte er heftig gegen Richard Wagner. Der »Ring des Nibelungen« war ihm ein Greuel, und als wir von Wagners »Tristan und Isolde« sprachen, äußerte Scherer, er wolle sich einmal »ex officio des armen verballhornten Gottfried von Straßburg annehmen«. Fast wörtlich tat er gegen mich die Äußerung, die ich ein Jahr später in der »Deutschen Rundschau« von ihm las: daß er sich freue, »überall noch Leute anzutreffen, die nicht zur Bayreuther Religion gehören, die mit Lessing nach der Begrenzung der Künste streben statt nach ihrer Vermischung, welche Sinn und Verstand für ein unentbehrliches Ingredienz der Poesie halten und welche die Sprache Lessings und Goethes nicht zum Lallen und Blöken herabdrücken wollen«. Als ich auf dem Straßburger Bahnhof von Scherer Abschied nahm, ahnte ich nicht, daß wir ihn so bald, im kräftigsten Mannesalter, verlieren würden. Auf seine riesige Arbeitskraft vertrauend, scheint er schließlich ihr doch zuviel zugemutet, zuviel abgezwungen zu haben. Im rastlosen Dienst der Wissenschaft hat er sich aufgerieben.
In Paris genoß ich das Glück eines herrlichen Vorfrühlings. Paris ist niemals schöner, als wenn im Park Monceau die Kastanien ausschlagen und der Flieder blüht. Ich schwelgte in den von fröhlichen Menschen belebten Gärten und in dem herrlichen Grün der Umgebung. Einen düstern Kontrast dazu bildeten die Ruinen, welche von den Schrecken der Belagerung und der Rasereider Kommune erzählten. Die Tuilerien, der oberste Rechnungshof, das herrliche Schloß von Saint-Cloud, – lauter Brandstätten! Im Publikum gewahrte ich wenig Niedergeschlagenheit und gar keine Teilnahme am Schicksal Napoleons. Der Deutschenhaß hatte an Heftigkeit etwas abgenommen. Als ich mit Stephen Heller in seinem Lieblingsrestaurant bei der »Mère Morel« nächst der Opéra comique speiste, war ich erstaunt, daß er meine französisch begonnene Konversation deutsch fortsetzte. »Nehmen Sie keinen Anstand, hier deutsch zu sprechen?« – »Vor drei Jahren,« antwortete er, »hätte ich's nicht gewagt; jetzt braucht man sich nicht mehr zu genieren.«
Von Heine, der in gesunden Tagen dort ein häufiger Gast gewesen, erzählte mir Heller manchen drolligen Zug. Heine nahm unmäßig viel Senf zu jeder Speise. »Sehen Sie,« erklärte er dem erstaunten Heller, »mit viel Senf kann ich alles vertragen, – ich glaube sogar Musik.«
Stephen Heller gehört zu den Personen, an die ich mit besonderer Wehmut und Innigkeit zurückdenke. Er war im persönlichen Verkehr ein feiner, vornehmer Geist wie in seinen Kompositionen. Diese zeigen eine Chopin verwandte Natur, erinnern auch mitunter an Schumann, welcher der erste gewesen, der das Talent des jungen, nach Paris verschlagenen Ungarn erkannt und ans Licht gezogen hat. Heller ist als Tondichter stets in dem engen Rahmen von Klavieretüden, Präludien, Charakterstücken verblieben. In dieser Begrenzung offenbarte er jedoch eine reiche, bewegliche Phantasie, originellen Geist und zarte Empfindung. Ich möchte ihn den Meissonier unter den Klavierkomponisten nennen. Er ist von unseren konzertgebenden Virtuosen schmählich ignoriert worden. Viel zu stolz, um zu klagen, konnte er gegen mich doch die bittere Empfindung nicht verhehlen, sich immer mehr ins Dunkel zurückgedrängt zu sehen. Seine Erscheinung hatte etwas Aristokratisches und zugleich unendlich Weiches. Die langen grauen Haare umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht, aus dem zwei große blaue Augen träumerisch hervorblickten. Als ich ihn kennenlernte, war er nicht mehr in der Mode und schien sich mitunter knapp behelfen zu müssen. Er gab Unterricht, aber nur an sehr talentvolle Schüler, und die sind nicht eben häufig. Daß ihm das Unterrichtgeben eine Last war, wird dem Poeten niemand verübeln. »Hat er keine Stunden?« fragte ich einmal den alten Fétis, als dieser das unzureichende Einkommen[306] Hellers erwähnte. »Oui, – il a quelques leçons, qu'il ne donne pas«, lautete die maliziöse Antwort. Niemand hat aus Hellers Munde je ein Wort des Neides oder der Gehässigkeit gegen glücklichere Kollegen vernommen. Auf einem Spaziergang mit ihm blieb ich einmal bewundernd vor einer herrlichen Villa stehen. »Wer ist denn der glückliche Besitzer?« – »Ich weiß es nicht,« antwortete Heller, »aber glücklich ist er gewiß nicht. Verlassen Sie sich darauf! Wenn ich an so einem Prachthaus mit Garten vorbeikomme, denke ich mir immer: der Mann leidet ganz gewiß an der Gicht oder am Magenkrebs, oder er hat ungeratene Kinder, oder seine Frau ist ihm untreu, – mit dem möchte ich doch nicht tauschen.«
Heller war einer der sehr wenigen Menschen, mit denen Berlioz in seinen letzten verbitterten und vereinsamten Jahren vertrauensvoll verkehrte. Er hat Berlioz, den Künstler und den Menschen verehrt und genoß in seltenem Grade dessen Zuneigung und Vertrauen. Aus Anlaß meiner Ausstellungsberichte von 1878 schrieb mir Heller einen Brief, welcher über Berlioz in biographischer wie in künstlerischer Hinsicht soviel Neues und Interessantes enthält, daß ich mir kaum versagen darf, ihn hier mitzuteilen. Hellers Schreiben ist aus Paris, 1. Februar 1879 datiert und lautet, mit Hinweglassung einiger freundschaftlicher Eingangs- und Schlußworte, wie folgt:
»Schon im Jahre 1838, als ich zuerst nach Paris kam, stand Berlioz apart unter den dortigen Künstlern. Man konnte ihm schon damals den Ruf eines kühnen, nach Großem strebenden Künstlers nicht mehr streitig machen. Seine Werke, seine Reden, sein ganzes Gebahren gaben ihm das Air eines Revolutionärs vis-à-vis dem alten Musikregime, welches Berlioz gern als abgelebt betrachtete. Ich weiß nicht, ob er Girondin oder Terroriste gewesen, aber ich glaube wohl, daß er nicht abgeneigt war, die Rossini, Cherubini, Auber, Herold, Boïeldieu usw., diese ›Pitts‹ und ›Coburgs‹ der verderbten Musikwelt, zu Hochverrätern zu erklären und ihnen einen lebensgefährlichen Prozeß zu machen. Diese gräulichen Musik-Aristokraten wurden täglich gespielt und sogen mit der Tantième das Mark ihrer Untertanen, das heißt des Publikums, aus. Aber Paris ist der einzige Ort in der Welt, wo man alle Situationen versteht, und wo man es liebt, den seltsamen unter ihnen nachzuspüren und in einem gewissen Maße Aufmunterung und Beistand zukommen zu lassen. Nur muß[307] diese Situation etwas Absonderliches, eine gewisse Physiognomie, etwas Pathetisches haben. Mit einem Worte, es muß sich um einen Mann irgendeine Legende verbreitet haben. Und Berlioz hatte deren mehrere. Seine unüberwindliche Musik-Passion, die weder Drohungen noch Armut vermindern konnten; er, der Sohn eines angesehenen, vermögenden Arztes in Grenoble, gezwungen, Chorist in einem der kleinsten Theater zu werden, seine phantastische Liebe zu Miß Smithson, die ihn als Ophelia und als Julia hinriß, obgleich er kein Wort Englisch verstand – endlich seine ›Sinfonie fantastique‹, welche seine Liebe schilderte, und deren Anhörung die englische Schauspielerin, welche gar nichts von Musik verstand, bewog, seine Liebe zu erwidern – Alles dies gab Berlioz diese Situation, die hierzulande nötig ist, um die Sympathien gewisser Enthusiasten zu erringen. Diese Art von verständigen, zugeneigten, zu jedem Dienste willfährigen, oft jeder Aufopferung fähigen Menschen findet jedes echte Talent in Paris, vorausgesetzt, daß es sich in einem gewissen Lichte zeigt. So sah ich denn wenige Monate nach meiner ersten Bekanntschaft mit Berlioz, daß er als Haupt und Spitze der verkannten Genies in Paris zu gelten anfing. Er war verkannt, das ist richtig; aber wie ein solcher, an dem zu verkennen war. Berlioz hat die Verkennung des Talents bis zu einer Würde erhoben; denn die Anerkennung, ja die Bewunderung eines großen Kreises ließ die Verkennung so grell und so unliebsam hervortreten, daß sie Berlioz täglich neue Freunde gewann. Einer etwas mehr philosophischen Natur hätte dieses Gegengewicht hingereicht, ihn glücklicher zu machen. Es beleidigte, kränkte den feinen Sinn der Pariser (ich meine darunter eine gewisse Klasse von Menschen), einen Künstler verfolgt, getadelt und in Armut zu sehen, welcher jedenfalls Proben eines hervorragenden Talentes, eines glühenden Eifers und hohen Mutes gegeben. Und die Franzosen begnügen sich nicht, still platonisch zu lieben, einem Freunde alles Glück zu wünschen und die Dinge walten zu lassen, wie sie wollen. Sie sind tätig, gar nicht faul, legen tüchtig die Hände d'ran und lassen sich nicht bei allen Heiligen beschwören, doch den Mund aufzutun, um einige enthusiastische Worte zum Besten eines lobbedürftigen verkannten Künstlers von sich zu geben. Das französische Gouvernement in Person des Ministers Grafen Gasparin machte den Anfang und bestellte bei Berlioz ein Requiem: später eine Trauermusik für die Totenfeier der Juli-Gefallenen.[308] Inzwischen reihten sich alle mehr oder weniger begabten, mehr oder weniger verkannten Kunstjünger und Lehrlinge um ihr verehrtes Oberhaupt. Sie waren die von der Natur gegebenen Apostel, Klienten und Sachwalter Berlioz'. Namentlich waren es die Künstler anderer Fächer, welche sich nicht immer durch die Musik, aber von ihren poetischen Vorwürfen, von den pittoresken Programmen angezogen fühlten. Fast alle Maler (die durchgängig für Musik Sinn haben), Graveure, Bildhauer, Architekten waren Anhänger Berlioz'. Zu diesen muß man viele der besten Dichter und Romanciers zählen: V. Hugo, Lamartine, Dumas, de Vigny, Balzac, die Maler Delacroix, Ary Schefer, welche in Berlioz mit Recht einen feurigen Adepten der romantischen Schule sahen. Alle diese großen Schriftsteller und gänzlich musiklosen Menschen, welche in ihren Dramen bei schauerlichen Szenen einen Walzer von Strauß im Orchester spielen ließen, um die Rührung oder das Entsetzen noch zu steigern (es ist wahr, der Walzer wurde langsam, feierlich, mit Sordinen und einigem Tremolo gespielt), alle diese Leute schwärmten für Berlioz und betätigten ihre Sympathie in Schrift und Wort. Und endlich gesellte sich zu allen diesen tätigen Verbreitern des alias verkannten Berlioz eine gewisse Zahl, klein, aber gewichtig, von der vornehmen, der eleganten Welt Paris! Das waren Leute, die auf wohlfeile Art den Ruf von Freigeistern erlangen wollten. Sie sind nicht kapable, eine Sonate von Wanhal oder Diabelli von einer Beethoven'schen zu unterscheiden. Aber sie schrien gegen den sündlichen Reiz der modernen Musik; sie spotteten ihrer Stammgenossen, welche in Meyerbeer, Rossini und Auber schwelgten, prophezeiten den Untergang jener lasterhaften, hochaufgeschürzten Melodien und den Sieg einer neuen weltbewegenden, hehren, ewig männlichen Kunst.
Fügen Sie noch die nicht geringe Zahl guter und echter Musiker hinzu, welche das wirklich Kühne und Großartige, die oft wundersame Originalität, die zauberhafte Orchestrierung zu verstehen wußten, so werden Sie zugeben, daß Berlioz nicht so vereinsamt gelebt und gewirkt hat, wie er selber es liebte vorzugeben. Von 1838 an, noch mehr später, haben einzelne Stücke seiner Symphonien glänzende, ja, allgemeine Anerkennung gefunden. Sie wurden da capo verlangt und stürmisch applaudiert. Ich will davon nur anführen: den Hinrichtungsmarsch, den Pilgermarsch, die Serenade in den Abruzzen (Harald), das Fest der Capulets,[309] Stücke aus Flucht von Ägypten, Ouvertüre zum römischen Karneval usw. Daß vieles höchst Bedeutende schwachen Erfolg gehabt, ist nicht zu leugnen und schmerzlich, zu sagen. Aber wieviel großen, ja größeren Künstlern ist es nicht so ergangen? Schwerlich war je ein Künstler so entfernt von aller Resignation, dieser deutschen Tugend, wie Berlioz. Fruchtlos machte ich den deutschen Plutarch, ihm Züge erzählend aus dem Leben eines Weber, Mozart, Beethoven, Schubert, Schiller (den er sehr liebte) und Anderer. Wenn er so bitter klagte und seine Erfolge verglich mit denen der herrschenden Theater-Komponisten, so sagte ich ihm: Lieber Freund, Sie wollen zuviel, Sie wollen alles. Sie verachten das große Publikum, und Sie wollen von ihm bewundert werden. Sie verschmähen, und zwar mit dem Rechte des edlen, originellen Künstlers, den Beifall der Majorität und entbehren ihn dennoch schmerzlich. Sie wollen ein kühner Novateur, ein Bahnbrecher sein und zugleich von allen verstanden und gewürdigt. Sie wollen nur den Edelsten und Stärksten gefallen und zürnen dem Kaltsinne der Gleichgiltigen, der Unzulänglichkeit der Schwachen. Wollen Sie nicht auch einsam, groß, unnahbar und arm dastehen wie ein Beethoven und zugleich umringt sein von den Kleinen und Großen dieser Welt, beschenkt mit allen Glücksgütern und Auszeichnungen, Titeln und Ämtern? Sie haben erlangt, was die Natur Ihres Talents und Ihres ganzen Wesens erlangen kann. Die Majorität haben Sie nicht, aber eine geistvolle Minorität bemüht sich, Sie aufrecht und mutig zu erhalten. Sie haben einen ganz besonderen Platz in der Kunstwelt sich errungen, haben viele begeisterte rührige Freunde – ja, es fehlt Ihnen auch nicht, Gott sei es gedankt, an tüchtigen Feinden, die Ihre Freunde wach erhalten. Ihre äußere Existenz ist auch seit einigen Jahren gesichert, was nicht zu verachten ist, und endlich können Sie mit Sicherheit auf etwas rechnen, was bis heute von allen Menschen von Geist und Herz geschätzt worden ist: auf eine vollständige Genugtuung, welche Ihnen die Nachwelt bewahrt.
Manchmal gelang es mir, ihn wieder aufzurichten, was er stets mit freundschaftlichen und rührenden Worten zugestand. Besonders gern erinnere ich mich eines derartigen Erfolges. Es war eines Abends bei dem trefflichen, nun auch dahingeschiedenen B. Damcke. Diesen und seine Frau, deren Herzensgüte und gastliche Aufnahme, hat Berlioz auch in seinen ›Memoires‹ dankbar[310] erwähnt. Wir waren dort fast allabendlich versammelt: Berlioz, J. d'Ortigue, ein gelehrter Musik- und Literatur-Historiker, Léon Kreutzer und Andere. Da wurde geplaudert, kritisiert, musiziert, so recht frank und frei. Der Tod hatte auch diesen kleinen Kreis gelichtet; in der letzten Zeit waren nur Berlioz und ich bei Damckes. Als nun an jenem Abend Berlioz wieder sein altes Klagelied anstimmte, entgegnete ich ihm in der Weise, wie ich oben erzählte. Ich hatte meinen Sermon geendigt; es war 11 Uhr geworden; eine kalte Dezembernacht lag draußen in trauriger Finsternis. Müde und verdrießlich zündete ich eine Zigarre an; da sprang Berlioz rasch und jugendlich vom Sofa auf, wo er die Gewohnheit hatte, sich mit seinen kotbespritzten Stiefeln hinzustrecken, zum stillen Leidwesen der reinlichen, ordnungsliebenden Frau Damcke: ›Ha!‹ schrie Berlioz auf, ›Heller hat Recht – wie? Er hat immer Recht. Er ist gut, er ist klug, er ist gerecht und weise; ich will ihn umarmen‹ – er küßte mich auf beide Wangen – ›und dem Weisen eine Tollheit vorschlagen.‹ – ›Ich gehe auf jede ein,‹ sagte ich. ›Was wollen Sie beginnen?‹ – ›Ich will mit Ihnen bei Bignon (ein berühmtes Restaurant an der Ecke der Chaussée d'Antin) soupieren gehen. Ich habe wenig zu Mittag gegessen und Ihr Sermon hat mir Lust zur Unsterblichkeit und einigen Dutzend Austern gegeben.‹ – ›Gut,‹ erwiderte ich, ›wir wollen Beethovens und auch Lucullus' Gesundheit trinken und unsere Seelenleiden in edelstem Franzwein und angemessenen Gänseleber-Pasteten ersäufen und vergessen.‹ – ›Unser Wirt‹, sagte Berlioz, ›kann zu Hause bleiben, denn er hat eine liebenswürdige Frau. Wir aber haben keinerlei Frau, und wir gehen ins Wirtshaus – keine Widerrede! Das ist abgemachte Sache.‹ Der alte, feurige Berlioz war wieder erwacht. Und so schlenderten wir Arm in Arm, scherzend und lachend, die lange Rue Blanche, die ebenso lange Chaussée d'Antin hinunter und traten in den glänzend erleuchteten Salon des Restaurant. Es war halb 12 Uhr, und nur wenige Fremde waren noch da, was uns sehr lieb war. Wir verlangten Austern, Straßburger Leberpasteten, ein kaltes Geflügel, Salat, Früchte, besten Champagner und echtesten Bordeaux. Um 1 Uhr löschte man das Gas, und die Garçons schlichen gähnend um uns (wie waren ganz allein, die anderen hatten den Saal verlassen), als wollten sie uns mahnen, aufzubrechen. Man schloß die Türen und brachte Wachslichter. ›Garçon!‹ rief Berlioz, ›Sie wollen uns durch allerlei Pantomimen glauben machen, es sei[311] spät. Ich aber bitte Sie, uns zwei demi-tasses café zu bringen und auch einige wirkliche Havanna-Zigarren.‹ So wurde es 2 Uhr. ›Jetzt‹, sagte Berlioz, ›jetzt wollen wir aufbrechen, denn um diese Zeit liegt meine Schwiegermutter im besten Schlafe, und ich habe die gegründete Hoffnung, sie aufzuwecken.‹ Während unseres Soupers sprachen wir von unseren Lieblingen: Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Heine, Gluck, und so beim langen, langsamen Wege nach seinem Hause, unweit dem meinigen gelegen. Es war der letzte heitere, lebendig gesellige Abend, den ich mit ihm verlebt; wenn ich nicht irre, im Jahre 1867 oder 1868. Es war, glaube ich, in demselben Jahre, als er eine Art von Leidenschaft hatte, einigen Freunden Shakespeare in der französischen Übersetzung vorzulesen. Man versammelte sich bei ihm abends 8 Uhr, und er las uns wohl sieben bis acht Stücke. Er las gut, aber war oft zu sehr ergriffen; bei besonders schönen Stellen rannen ihm die Tränen von den Wangen. Er fuhr aber fort zu lesen und trocknete die Augen eilends, um sich nicht zu unterbrechen. Bei diesen Vorlesungen waren nur zugegen Damckes und zwei bis drei Freunde. Einer von diesen, ein alter, bewährter Kamerad Berlioz', aber wenig literarisch gebildet, übernahm aus eigenem Antriebe die Rolle eines Klaqueurs. Er hörte sehr angestrengt zu und suchte in den Zügen des Vorlesers und der Zuhörer den rechten Moment zu finden, wo er seinen Enthusiasmus kundgeben konnte. Da er nicht zu applaudieren wagte, erfand er sich eine originelle Beifallsäußerung. Jede ausgezeichnete Stelle, mit Bewegung vorgetragen und nachempfunden, wurde von ihm mit einem halbleise ausgestoßenen Fluche begleitet, wie sie in den Volksklassen und in Ateliers gebräuchlich sind. So hörte man denn nach den rührendsten oder heroischen Passagen Shakespeares: Nom d'un nom! Nom d'une pipe! Sacre matin! Nachdem das nun einige Dutzend Male stattfand, fuhr plötzlich Berlioz zornig auf und, den Vers unterbrechend, donnerte er: ›Ah! Ça voulez vous bien ficher le camp avec vos nom d'une pipe!‹ Worauf der andere schreckensbleich die Flucht ergriff, während Berlioz wieder ganz ruhig die Balkonszene von Romeo und Juliette aufnahm.
Das, was ich Ihnen einst über Berlioz' geringes musikalisches Gedächtnis gesagt, bezieht sich auf moderne Musik, mit der er weniger vertraut war. Aber die Musik, die er studiert hatte, war ihm sehr gegenwärtig. Namentlich die Orchesterwerke Beethovens[312] (weniger die Quartette und Klavierwerke desselben), dann die Opern von Gluck, Spontini, ebenso Grétry, Méhul, Dalayrac und Monsigny. Trotz seines wunderlichen Hasses gegen Rossini war er ein sehr warmer Verehrer zweier Partituren dieses Meisters: ›Graf Ory‹ und ›Barbier von Sevilla‹. Berlioz gehörte zu den echten Kunstmenschen, die von jeder in ihrer Weise vollkommenen Produktion hingerissen und bis zu Tränen gerührt sein konnten. So war ich mit ihm beim ersten Gastspiel der Adelina Patti im ›Barbier‹. Sie werden es mir glauben, wenn ich Sie versichere, daß ihm bei den heitersten, liebenswürdigsten Stücken dieser Oper die Augen überquollen. Was soll ich erst von der ›Zauberflöte‹ sagen, die ich auch in seiner Gesellschaft hörte! Berlioz hatte einen etwas kindischen Zorn gegen das, was er strafbare Konzessionen Mozarts nannte. Er meinte damit die Arie des Don Ottavio, die Arie Doña Annas in F sowie die famosen Bravour-Arien der Königin der Nacht. Er war nicht zu bewegen, die relative Vortrefflichkeit dieser allerdings weniger dramatischen Sätze anzuerkennen. Aber wie innig erfreut war ich, den tiefen, gewaltigen Eindruck zu sehen, den die ›Zauberflöte‹ auf ihn machte. Er hatte sie oft gehört; aber sei es bessere Stimmung oder Wirkung einer vortrefflichen Aufführung, Berlioz sagte mir, nie wäre ihm diese Musik so tief ins Herz gedrungen. Ja, einigemale äußerte sich seine Exaltation so laut, daß sich unsere Nachbarn des Parketts, welche sich die Zähne stocherten und ruhig ihr Diner verdauen wollten, über diesen ›indiskreten‹ Enthusiasmus beschwerten. Eines Abends hörten wir in einem Quartett-Vereine das Beethovensche in E-moll. Wir saßen in einem entfernten Winkel des Saales. Mir war bei Anhörung dieses Wunderwerkes wie etwa einem frommen Katholiken, der die Messe hört, mit tiefer Andacht und Inbrunst, aber zugleich mit Ruhe und klarer Besonnenheit: er ist mit dieser hohen Empfindung längst vertraut. Berlioz schien mir ein später Eingeweihter; er war innigst erbaut, aber seiner Andacht gesellte sich etwas wie ein freudiger Schreck vor dem heilig-süßen Geheimnis, das sich ihm offenbarte. Sein Gesicht war wie verzückt beim Adagio – es war wie eine Wandlung in ihm vorgegangen. Es wurden noch andere gute Werke aufgeführt. Wir entfernten uns aber, und ich begleitete ihn an sein Haus. Kein Wort wurde gewechselt zwischen uns. Das Adagio betete in uns fort. Als ich von ihm Abschied nahm, ergriff er meine Hand und sagte: ›cet homme avait tout ... et nous n'avons[313] rien.‹ So zerknirscht, so niedergedonnert fühlte er sich in dieser Stunde vor der Riesengröße des ›Mannes‹.
Eine kleine Anekdote noch. Nahe beim Hause, welches Damcke bewohnte, Rue Mansard, war auf dem Trottoir ein besonders großer und weißer Pflasterstein eingekeilt. Auf diesen Stein stellte sich Berlioz jeden Abend, wenn wir von der Rue Mansard kamen, um mir gute Nacht zu sagen. Eines Abends (kurz vor seiner letzten Krankheit) trennten wir uns eilig, denn es war kalt und ein dicker gelber Nebel lag auf den Straßen. Wir waren schon zehn Schritte entfernt, als ich Berlioz rufen hörte: ›Heller! Heller! Wo sind Sie? Kommen Sie zurück! Ich habe Ihnen nicht auf dem weißen Steine gute Nacht gesagt!‹ Wir finden uns wieder, und nun suchen wir in stockfinsterer Nacht den unentbehrlichen Pflasterstein, der übrigens auch eine besondere Form hatte. Ich ziehe meine Zündhölzchen hervor, aber sie zünden nicht in der feuchten Nachtluft. Wir kriechen Beide auf allen Vieren auf dem Trottoir herum – endlich schimmert uns das verwitterte Weiß entgegen. Berlioz setzt sehr ernsthaft den Fuß auf den edlen Stein und sagt: ›Gott sei gelobt, ich stehe darauf – nun gute Nacht!‹ Es war unser letztes ›Gutenacht‹ auf dem weißen Steine.« Berlioz starb im März 1869. Stephen Heller selbst hat sein Leben traurig zu Ende geführt. Dürftig und fast gänzlich erblindet ist der liebenswürdige Mensch und vornehme Künstler 1888 in Paris gestorben.
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