[371] Seit vierundzwanzig Jahren, seit der Weltausstellung von 1862, war ich nicht in London gewesen. Es verlangte mich, die neuen Musikzustände dort kennenzulernen, noch mehr vielleicht, meiner Frau die englische Hauptstadt zu zeigen. Um noch die Höhe der Londoner »season« zu erreichen, gingen wir 1886 schon sehr früh nach Karlsbad und feierten dort unsern Hochzeitstag, den 29. April, mit dem zum Karlsbader Dechanten beförderten Kreuzherrn Pater Dobner, der uns in Wien getraut (und »sehr gut« getraut) hatte. An der Viktoria-Station in London erwartete uns Hofkapellmeister Hans Richter, dem ich diesen Freundschaftsdienst nie vergessen will. Ein Fremder, der spät abends in einem Londoner Bahnhof ausgeladen wird, steht in diesem Getümmel ratlos wie ein neugeborenes Kind. Von dem anregenden, reichhaltigen Monat, den wir in London verlebten, werde ich hier wenig erzählen, da ich über die musikalischen Erlebnisse daselbst bereits anderswo berichtet habe. Manches dürfte aber doch nachzutragen sein.
Vorerst ein offenes Bekenntnis. Ich hatte nach der recht zopfigen Konzertsaison vom Jahre 1862 geschrieben, es sei ganz unwahrscheinlich, daß London je ein Stapelplatz der »Zukunftsmusik« werden würde. Eine irrige Prophezeiung. Ich sah jetzt, wie Wagnersche Opernmusik in der entsetzlichsten Form als Konzert von dem Londoner Publikum mit einer Ausdauer und Geduld genossen wird, die geradezu bewunderungswürdig ist. In der Albert-Hall brachte Hans Richter in einem drei Stunden langen Konzert Stücke aus sämtlichen Opern Wagners, vom »Rienzi« bis zum »Parsifal«. Schlimmer noch war das »Richter-Konzert« in St. James-Hall, das aus dem ganzen (unverkürzten) zweiten Akt »Tristan« und dem dritten Akt »Siegfried« bestand! Diese[371] Opernakte bedürfen durchaus der lebendigen szenischen Handlung, um auch nur verstanden, geschweige denn genossen zu werden. Sie als Konzert anzuhören, ist eine Verkehrtheit und eine Marter. Das Liebesduett, das der kahlköpfige, brillenbewaffnete Tristan und die modern frisierte Isolde steif aus ihren Notenblättern absangen, wirkte geradezu komisch. Ob der andächtige Ernst, mit dem die Engländer diese Parodie zu sich nahmen, ein Zeichen ihrer fortgeschrittenen musikalischen Bildung sei, möchte ich fast bezweifeln. Überhaupt ist es schwer, aus ihnen klug zu werden; sie vertilgen unermeßliche Quantitäten Musik, von allerverschiedenster Qualität mit derselben Andacht, mit demselben Beifall. An ihrer Musikliebe ist nicht zu zweifeln; ob diese Liebe erwidert wird, mag dahingestellt sein. Natürlich hat die Mode auch ein starkes Wort mitzusprechen, und Wagner ist die neueste Mode. Ganze Opernakte von Wagner in Konzertform aufzuführen, scheint mir, wie gesagt, ungemein geschmacklos. Davon abgesehen, fand ich die Konzertmusik in London sehr vorgeschritten und verfeinert seit meiner ersten Anwesenheit. Das ist vollständig Hans Richters Verdienst, welcher den Engländern seit fünfzehn Jahren die klassischen Orchesterwerke und die besten modernen in einer Vollendung vorführt, von welcher die Alte und die Neue »Philharmonic Society« keine Ahnung hatten.
Ebenso zweifellos wie der Fortschritt der Orchesterkonzerte erschien mir andrerseits der Niedergang der Oper in London. Im Jahre 1862 hatte ich die Wahl gehabt zwischen zwei vortrefflichen italienischen Operngesellschaften, die miteinander wetteiferten (Coventgarden und Her Majesty's), und die Wahl war nicht immer leicht. Die ersten Gesangskünstlerinnen: Adelina Patti, Tietjens, Trebelli, Miolan, die Schwestern Marchisio neben Sängern wie Mario, Tamberlick, Faure, Formes, Zucchini! Jetzt gab es italienische Opern nur im Coventgarden-Theater; eine sehr ungleiche, zusammengelesene Truppe (»a scratch company«), aus welcher die einzige Madame Albani als großes Talent und bedeutende Künstlerin hervorragte. Die englische Oper hat sich allerdings von dem armseligen Operettenstandpunkt, den sie noch vor zwanzig Jahren einnahm, zu größerer Bedeutung gehoben – teils durch die gesteigerte Produktivität der einheimischen Komponisten, teils durch den Eifer und die Geschicklichkeit eines Direktors Karl Rosa. Neben der italienischen Oper, so sehr diese gesunken,[372] bleibt aber die englische doch heute noch das Aschenbrödel. Einen nachhaltigen Einfluß auf die musikalische Bildung kann keine von beiden üben, solange London sich nicht beschafft, was jede deutsche Mittelstadt besitzt: eine stehende Oper mit fest engagiertem Personal. Das Coventgarden-Theater war im Sommer und Herbst von Promenaden-Konzerten, zu Weihnachten von Kunstreitern in Beschlag genommen. In Her Majesty's-Theater spielte eine französische Schauspielertruppe, zugleich verkündeten die Zeitungen, dasselbe sei zu verkaufen oder zu vermieten. Der Direktor der Englischen Oper, Karl Rosa, hatte das Drurylane-Theater für vier Wochen gemietet. Nach diesen vier Wochen zieht die Englische Oper ab und macht irgendeiner anderen beliebigen Unternehmung Platz. So hat also Alles mein früheres Urteil bestätigt: das ganze Theaterwesen Londons krankt an seiner unseligen Zerfahrenheit und Zufälligkeit, welche jede einheitliche, vollendete Gesamtleistung verhindert, in den Künstlern die Liebe zur Kunst tötet und nur die Sucht nach Geld lebendig erhält. Die Theater sind durchaus Privatunternehmungen und beziehen keinerlei Subvention. So kommt es, daß das Theater, insbesondere die Oper, als Kunstinstitut keine Achtung genießt in England, sondern lediglich als Modesache und Zeitvertreib angesehen wird.
Auch das Schauspiel in London konnte mir keinen Respekt einflößen; nur derbe Operetten wie der »Mikado« und Possen wie »The Schoolmistress« sah ich talentvoll gespielt. Goethes »Faust« hingegen, im Lyceumtheater mit Henry Irving (Mephisto) und Ellen Terey (Gretchen) gegeben, ist die gräßlichste Verstümmelung und Verhöhnung des Gedichts. Ich weiß nicht, ob Joseph von Eichendorff nicht zu weit geht, indem er die untergeordnete Stellung des Theaters in England noch für eine Folge der Puritanerbewegung im siebzehnten Jahrhundert ansieht. Ganz aus der Luft gegriffen ist seine Ansicht keinesfalls. Nach Eichendorff war es um das englische Schauspiel geschehen, als in England das protestantische Element in den Puritanern zum unbedingten und extremen Sieg gelangte. Aller Groll der Puritaner wandte sich gegen die Bühne als die Repräsentantin der verhaßten, angeblich gottlosen Welt. Sie setzten terroristisch ihre biblische Phantasterei an die Stelle der Phantasie. Mittels Parlamentsakte wurden sämtliche Theater aufgehoben und blieben dreizehn Jahre hindurch (1647 bis 1660) geschlossen; jeder Komödiant[373] sollte mit dem Staubbesen, jeder Zuschauer mit fünf Schilling bestraft werden. Durch die zelotische Barbarei der Republikaner wurde aber das Drama, wo es noch verstohlen fortlebte, gewaltsam aus dem Volke in das Feldlager der gebildeten Royalisten gedrängt. Als jedoch unter Karl II. mit dem Bürgerkriege auch jener Druck endlich wieder aufhörte, war der goldene Faden schon zerrissen und von den alten Kunsttraditionen nur ihr äußerlicher Schein zurückgeblieben. Die aufrichtigste und allgemeinste Verehrung genießt in England noch immer die geistliche Musik. Während in England die Oper als künstlich gezogenes Gewächs ein gleißendes Scheinleben führt, der Nation fremd und gleichgültig, ein Zeitvertreib den Reichen und den Fremden, blüht dort das Oratorium seit Händels Zeit in gesunder zweigtreibender Kraft. Von allen größeren Kunstformen ist das Oratorium die einzig populäre in England, die einzige, welche mit den Anschauungen und Gefühlen des Volkes tief verwachsen, eine ethische Macht über dasselbe ausübt. Davon überzeugte ich mich wieder bei der Aufführung von Gounods »Mors et Vita«, einer recht schwachen Komposition, die aber ein sehr großes Publikum zu rühren und zu entzücken schien. Allerdings war ihre Wirkung für die Engländer wesentlich verstärkt durch die kirchliche Umgebung und verschiedenen geistlichen Zierrat, der uns in Deutschland sehr fremdartig vorkommen würde. Die Westminsterabtei bot einen stimmungsvollen, herrlichen Anblick. Da ward Gounods Oratorium eigens eingepaßt in einen streng kirchlichen Rahmen; alles mußte zusammenwirken, daß nicht die ästhetische, sondern die religiöse Andacht als Hauptsache erscheine. Zu Anfang und zu Ende des Oratoriums sprach der Dechant (Dean) von Westminster einige Gebete und las zwischen den Abteilungen etliche Kapitel aus dem alten Testament. Den Beschluß machte das unausbleibliche Absammeln von milden Beiträgen, hierauf ein Segensspruch des Geistlichen und der hundertste Psalm, in welchen einzustimmen die Gläubigen »ernstlich aufgefordert werden«. Dergleichen kirchliche Musikaufführungen (gegen mäßige Preise) sind die einzigen Lichtpunkte in der englischen Sonntagsfinsternis und locken eine zahlreiche Zuhörerschaft herbei. Sie tragen auch dem Klerus ein hübsches Sümmchen ein. Von lieben alten Bekannten traf ich in London nur noch Ernst Pauer, an dessen frischem Aussehen und heiterer Laune die vierundzwanzig Jahre spurlos vorübergegangen waren. Noch[374] immer gibt er unermüdlich seine Klavierlektionen und freut sich, daß sein musikalisches »Barbiergeschäft« so vortrefflich geht. Noch immer preist er die Sonntagsheiligung, und noch immer ist er nicht in der Westminsterabtei gewesen. Interessante und angenehme Bekanntschaften machte ich an dem Direktor der Englischen Oper, Karl Rosa (einem Hamburger von Geburt) und an den Führern des musikalischen Jung-England, den Komponisten Frederick Cowen, Mackenzie, Littleton und Stanford. Mit Saint-Saëns und Georg Henschel, der in doppelter Eigenschaft, als Sänger und Dirigent, eine glänzende Rolle in dem Londoner Konzertwesen spielt, verbrachte ich einige sonnige Stunden in dem Garten und dem Atelier bei Alma Tadema, dem ebenso liebenswürdigen Menschen als großen Künstler.
Von zwei mir teuren Gesangsköniginnen erhielt ich fast gleichzeitig Einladungen, bevor ich noch sie selbst hatte aufsuchen können: von Christine Nielsson und Adelina Patti. Erstere, die unvergleichliche Ophelia, hatte ich von ihrem Wiener Gastspiel her in guter Erinnerung. Ein Besuch bei Madame Nielsson konnte einen guten Begriff von den Londoner Entfernungen geben. Die Kutscher Londons sind wahre Virtuosen der Topographie; unser Cabman mußte trotzdem nach langer Fahrt noch zwei- bis dreimal anhalten und einen Policeman nach dem Wege fragen. Endlich waren wir in Kensington Court, Kensington Palace angelangt, einem reizenden, parkumkränzten Hause. Die Eleganz des Inneren, die kostbaren Teppiche und Möbel, das schwere Silber- und Goldservice entsprachen ganz der vornehmen Erscheinung der Sängerin. Auf ihrem aschblonden Haar, unter dem die stahlblauen Augen so feurig nixenhaft leuchteten, fehlt nur das Diadem. Eine Grafenkrone zum mindesten hat sie errungen. Sie stellte uns ihren Bräutigam, den spanischen Grafen Miranda, vor und dessen Tochter, ihren besonderen Liebling. Nur drei bis vier Personen, deren ich mich nicht mehr erinnere, nahmen noch an dem Diner teil. Ich weiß auch nicht mehr, wo und wann später die Vermählung der Nielsson stattgefunden hat, wohl aber, daß ich eine vorläufige mündliche Einladung dazu schon damals in London erhielt. – Und fast gleichzeitig bat uns Adelina Patti zu ihrer Hochzeit mit Ernesto Nicolini! Ich hatte keine Lust, unter so und so viel Reportern am 10. Juni als Hochzeitsgast in Craigh-y-Nos-Castle zu erscheinen, gab aber mein Versprechen, mich dort später mit meiner Frau einzufinden.[375]
Kurz vor meiner Abreise von London, am Samstag vor Pfingsten, traten wir die ziemlich verwickelte Fahrt nach dem weltabgelegenen Schloß der Patti in Süd-Wales an. Zuerst führte uns die Eisenbahn über Glocester und Hereford nach Brecon. Neu war mir die Einrichtung, daß man auf dem Londoner Bahnhof von einem Aufgeben und Abwägen des Koffers gegen Gepäckschein nichts wissen wollte. Die Koffer werden ohne diese zeitraubende Manipulation einfach in den Gepäckwaggon geschoben und den Reisenden an der betreffenden Station ebenso brevi manu ausgefolgt. »Aber ich habe keinerlei Bescheinigung in Händen, daß der Koffer mir gehört!« – »Sie brauchen keine.« – »Und wenn das Gepäck verwechselt oder irrigerweise von einem anderen Passagier reklamiert würde?« – »Das kommt nicht vor.« Es kam auch wirklich nicht vor; ich hatte in Brecon lediglich meinen Koffer zu agnoszieren, und er wurde mir ausgefolgt. Von Brecon führt eine Zweigbahn nach dem kleinen Ort Cray, wo uns der Wagen der Patti erwartete. Die Gegend bis Brecon ist freundlich; viel Wald und Wiesen und nette Landhäuser. Dann wird die Landschaft düsterer, monotoner. Ein ziemlich enges Tal, das Swansea-Tal; rechts und links graue, teils kahle, teils schwach bewaldete niedrige Berge, hie und da eine Hütte. In diesem Tal erhebt sich ein wunderliches unregelmäßiges Gebäude mit einem Turme und kleinen Türmchen. Es ist Craigh-y-Nos-Castle. Adelina Patti hatte es von dem Eigentümer gekauft, als das »Schloß« nur aus einem soliden, viereckigen Wohnhaus bestand. Sie ließ hier einen Flügel, dort ein Stockwerk anbauen, hier ein Türmchen, dort einen Glockenturm, bis der Bau seine jetzige stattliche Ausdehnung erhielt und durch die vom Turm herabwehende »Hausfahne« einen romantisch-feudalen Anstrich. Wir kamen – wie dies bei Zweigbahnen und Wagenwechsel auch in England vorkommt – mit bedeutender Verspätung nach sieben Uhr abends an. Die Frau und der Herr des Hauses eilten uns aus dem Speisesaal entgegen und nötigten uns, ohne daß wir vorher die Toilette wechseln durften, hinein zu dem bereits begonnenen Diner. Das war eine seltene monumentale Ausnahme von der strengen Etikette des Schlosses. Der schöne, ebenerdig gelegene Speisesaal war glänzend elektrisch beleuchtet, vor jedem Kouvert funkelte ein elektrisch erleuchtetes Gläschen mit einer Blume darin. Es mochten im ganzen zwölf bis vierzehn Personen an dem Tische sitzen, die Herren in Frack und weißer Krawatte, die Damen dekolletiert,[376] in hellen Kleidern und lichten, ausgeschnittenen Schuhen; Brillanten funkelten an jedem Hals, die größten an dem der Hausfrau, welche täglich ihren Schmuck wechselte. Es waren einige hervorragende englische und französische Journalisten mit ihren Damen da, ein amerikanischer Impresario, mit einem fabelhaften Kontrakt in der Tasche, endlich zu meiner angenehmen Überraschung Herr Wilhelm Ganz mit seinem Sohn. Wilhelm Ganz gehört zu den nicht wenigen deutschen Musiklehrern und Dirigenten, die sich in London ansässig gemacht und eine ehrenvolle Stellung errungen haben. Aus früheren Jahren mit Nicolini befreundet, repräsentiert er jetzt unter Adelinas Hausfreunden das musikalische Element. Nach dem Diner, bei dem ich unsere Reiseerlebnisse zum besten gab, zog sich die Gesellschaft in den anstoßenden »Musiksaal« zurück. Die Damen wiegten sich auf den Schaukelstühlen und Diwans längs der Wand. Die Herren kamen aus dem Rauchzimmer schnell zurück, und mir schien die Frage sehr natürlich, ob wir nicht Musik hören werden? Jawohl, sogleich, erwiderte Nicolini und ruft einen Diener, das »Register« zu bringen. Der Diener John präsentiert mir ein schön gebundenes schmales Buch – ganz wie Leporello der Donna Elvira. »Wählen Sie, was Sie hören wollen!« ersucht Nicolini verbindlich. »Sehen Sie dort in der Ecke das große Orchestrion, ein famoses, sehr teueres Werk, das wir aus Deutschland kommen ließen. Es spielt eine Menge Stücke. Wählen Sie eines aus dem Register!« – Da es sich also um ein Orchestrion handelte, ersuchte ich um die Ouvertüre zu »Fra Diavolo«, denn die kleine Trommel ist mein Liebling unter den automatischen Instrumenten; sie arbeitet immer mit so ergötzlicher Präzision. »John! Nummer sechsundzwanzig!« ruft Nicolini dem Diener zu. Dieser eilt fort, legt die Walze sechsundzwanzig ein, und die hübsche Ouvertüre rollt ab – wie ein Uhrwerk, hätte ich bald gesagt. Der Hausherr legt nun die magna charta der Musikstücke in die Hände meiner Frau, welche, sei es aus Artigkeit, sei es aus Humor, die erste Arie der »Traviata« wählt. »John, Nummer vierzehn!« John eilt zu dem Instrumentalofen, heizt ihn mit einem neuen Scheit Musik, und die Arie sprüht heraus. Die »Traviata« vor Adelina Patti von einem Automaten georgelt! Es wurden noch ein bis zwei »Nummern« aus dem Bauche des Orchestrions befördert, und die Gesellschaft ging auseinander. Am folgenden Tag nach dem Diner dasselbe Manöver: »John, das Register!« Nachdem ich zwei »Nummern«[377] mit Adelina und der schönen, geistreichen Miss Beatty-Kingston verplaudert, faßte mich ein wahrer Heißhunger nach einem Stück, nur einem kleinen Stückchen lebendiger Musik. Der Hausfrau durfte man mit so einem Wunsch natürlich nicht kommen; in ihrem home war sie nicht »Sängerin«, wollte es durchaus nicht sein. Sie mochte nicht einmal mit mir, unter vier Augen, vormittags eine neue Oper durchsehen, in welcher sie die Hauptpartie studieren sollte. Da begann ich mit Herrn Ganz krampfhaft in den Noten zu wühlen und richtig fanden wir ein vierhändiges Stück für uns – obendrein die G-moll-Symphonie von Mozart! Gott weiß, wie sie hergekommen ist. Wir setzten uns sofort ans Klavier, spielten die Symphonie und damit dem »Register« das Prävenire. Obwohl die Konversation nach dem Diner nicht die allerlebhafteste war, ging doch alles spät zu Bett – offenbar um recht spät aufzustehen. Ein Diener leuchtet uns hinauf in unser Zimmer; eine lange verwirrte Reise. Wie alle alten Gebäude, welche durch allmählichen, regellosen Zubau vergrößert wurden, so hat auch Schloß Craigh-y-Nos sonderbare und nicht leicht zu behaltende Kommunikationen zwischen seinen einzelnen Teilen. Wir konnten ohne Führer den Weg nicht finden von unserem Gastzimmer in den Speisesaal oder zur Wohnung der Hausfrau. Reisende werden Ähnliches in beliebten alten Gasthöfen gefunden haben, welche sich für den wachsenden Andrang um jeden Preis ausdehnen mußten, wie das Hotel Leinfelder in München, das Hotel zum blauen Schiff in Salzburg u.a.
Meine Frau und ich erwachten ziemlich früh, in der Hoffnung auf einen schönen Spaziergang. Man hatte ja Wunder von der herrlichen Gegend erzählt und auch drucken lassen. Wir fanden aber nichts als eine staubige Landstraße rechts gegen Brecon, links gegen Swansea. Ob man denn nicht irgendwo auf die Hügel hinauf gelangen könne, welche das Tal einengen? Nein, da gäbe es keine Wege, kaum einen Pfad für kletterkundige Ziegenhirten. Die Stunden vor dem Lunch wurden meistens in dem »Wintergarten« zugebracht, einem großen gewärmten Glashaus. Das ist der Glanzpunkt des Schlosses und der Stolz der Hausfrau. Wer es aber nicht gewohnt ist, lange in einem stark erwärmten und narkotisch duftenden Glashaus zu verweilen, der fühlt sich bald ermattet von dieser Luft. Adelina bricht mit uns auf und zeigt uns die Schätze in ihren Privatzimmern. Da sind Reichtümer aufgespeichert an Schmuck aller Art, silberne und goldene Lorbeerkränze,[378] Ehrenbecher, kostbare An denken von gekrönten Häuptern und dankbaren Städten. Nach dem Lunch fährt die Gesellschaft zu einem gewissen forellenreichen Teich, wo Nicolini seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Fischfang, obliegt. Wir machen die Fahrt nicht mit, da wir noch immer hoffen, zu Fuß einen landschaftlich schönen Punkt oder lohnenden Seitenweg zu entdecken. Trotz der kundigen Begleitung des Herrn Ganz gelingt es uns aber durchaus nicht; wir bleiben auf der zwischen Hecken eingefriedeten Landstraße gebannt. Über den Geschmack ist nicht zu streiten, auch in landschaftlichen Dingen nicht. Herzlich freute es mich, meine verehrte Freundin so glücklich zu sehen über ihren Besitz; die Bewunderung seiner Schönheit konnte ich aber nicht teilen. Ich dachte mir, einige Stunden weiter, bei Swansea müßte es ja am Meeresufer viel schöner sein und auf der anderen Seite einige Stunden landeinwärts ebenfalls. Hatten wir doch die freundliche, üppige Gegend bei Hereford und Glocester durchfahren und uns an dem Anblick der vielen reizenden Villen (eine davon gehörte der Jenny Lind) erfreut. Möglich, daß die übertriebenen Lobpreisungen von Craigh-y-Nos mich ungerecht gemacht gegen das, was ich eben unter diesen Erwartungen vorfand – es blieb mir verwunderlich, wie jemand, der so begünstigt ist, sich in jedem beliebigen Land das Allerallerschönste auszusuchen, gerade diesen Punkt wählen konnte. Ich bekenne mich schuldig, auch den Verkehr im Schlosse steifer, etikettemäßiger, unfroher gefunden zu haben, als ich ihn mir, im erquickenden Gegensatz zum konventionellen Zwang der Londoner Gesellschaft, ausgemalt hatte. Wir blieben die beiden Pfingstfeiertage unter dem Dach der Patti. Als aber Herr Ganz erklärte, er müsse Dienstag früh nach London zurückkehren, waren wir gleich dabei, uns ihm und seinem Sohn anzuschließen. Dem freundlichen Drängen und Schmollen Adelinas, die uns noch nicht fortlassen wollte, widerstanden wir tapfer und fuhren in den schönen Morgen hinein, über Hereford, Malvern und Worcester nach London zurück. Man hatte uns ein großartiges Frühstück und Wein mitgegeben, das die gute Laune unseres Quartetts lebhaft erhöhte. Wir unterhielten uns vortrefflich auf dieser Fahrt – ohne Frack und weiße Krawatte. In ihrer Sangesherrlichkeit konnten wir unsere Schloßfrau von Craigh-y-Nos noch in einem Konzert bewundern, das in der riesigen »Albert-Hall« stattfand. Das Gebäude war mir neu, den Platz kannte ich wohl: hier stand ehedem[379] das Weltausstellungsgebäude von 1862! Zwölftausend Personen haben Raum in diesem unabsehbaren Konzertsaal, und die zwölftausend Personen waren auch wirklich da. Ein solcher Konzertsaal – voll und ausverkauft! Man muß das Unglaubliche selbst gesehen haben und begreift es noch immer nicht recht. Fast besorgt sah ich dem Auftreten der zierlichen Adelina Patti entgegen. Mit Freuden konnte ich wiederholen, was ich vierundzwanzig Jahre früher gesagt: Adelina Patti ist die vollendetste Gesangskünstlerin, die ich kenne.
Vor meiner Abreise aus England überraschte mich ein Spektakel, das zur Zeit meines ersten Londoner Aufenthalts noch nicht existiert hatte: ein Aufmarsch der »Heilsarmee«. Wenn dieser Haufe ungezogener Menschen, die mit Fahnen und Musik johlend durch die Straßen ziehen, mit Religion zusammenhängt, dann glaube ich, gibt es kein kräftigeres Abschreckungsmittel gegen religiöse Schwärmerei. Auf die Engländer scheint aber die komödiantische Exaltation dieser Heilsarmee merkwürdigerweise mehr Anziehung als Abstoßung zu üben. Die religiöse Borniertheit der Engländer, dieses starken, freien und mächtigen Volks, ist mir immer rätselhaft geblieben. Folgendes Erlebnis gab mir eine neue, höchst merkwürdige Probe von dieser partiellen Geistesverwirrung, welche in einem Winkel eines sonst ganz gesunden Gehirns nisten kann. Theodor Steinway hatte als seinen Geschäftsführer in der Londoner Filiale »Steinway-Hall« (Konzertsaal und Klaviermagazin) einen jungen Mann, Mr. T., angestellt, mit dem ich nicht ungern verkehrte. Es war ein netter, bescheidener Mensch, fleißig, gewissenhaft, von zärtlicher Liebe zu Frau und Kindern. Sein in sich gekehrtes, stilles Wesen bemerkte ich wohl, doch fiel es mir nicht als bedenklich auf, ebensowenig wie seine Weigerung, je ein Glas Wein oder Bier zu berühren. Also ein frommer Mäßigkeitsapostel. Eines Sonntags vormittags erscheinen zwei Fräulein in dem Klaviersalon und wünschen ein Pianino zu kaufen. Herr T. wird blaß; anstatt ihnen die Honneurs des Geschäfts zu machen, fragt er erschrocken, ob sie denn wirklich am Sonntag Musik machen wollten?! »Ja«, erwiderten die jungen Damen, »wir können die ganze Woche nicht abkommen und haben nur Sonntags Zeit«. Mit diesen Worten öffnet die eine das nächste Pianino und probiert eine Chopinsche Etüde. Unser T. aber fällt auf die Knie und beginnt zerknirscht für das Seelenheil dieser Unglücklichen zu beten! Wahrscheinlich hat der unglückliche[380] Mann sich dadurch um seine Stelle gebracht und seine Familie der Not preisgegeben. Alles aus Sonntagsheiligung.
London ist während der Saison ein anstrengender Genuß, zumal für den Musik- und Theaterfreund. Ein paar Wochen ländlicher Erholung müssen die normale Ruhe für Geist und Körper wieder herstellen. Wir beschlossen, nach kurzem Aufenthalt in Ostende, über Belgien und den Rhein in die Schweiz zu gehen. Die Überfahrt von Dover nach Ostende gehört zu meinen unerfreulichsten Erinnerungen. Wir hatten sehr stürmische See und brauchten zur Fahrt dreimal soviel Zeit als gewöhnlich. Unausgesetzt schlugen hohe Wellen über Bord, und unten in den Kabinen lagen wir jämmerlich krank. Daß Ostende während der eigentlichen Badesaison ein ungemütlicher Aufenthalt sei, hatte ich oft gehört, und glaube es. Daß es aber vor der Saison nicht erfreulicher ist, kann ich beteuern. Es war Ende Juni, kein Mensch auf den Straßen, die Häuser schliefen förmlich hinter ihren geschlossenen Fensterläden, alles totenstill, noch nicht einmal die Kurmusik eingerückt. Es gab nur zweierlei: entweder eine Promenade über den breiten, menschenleeren Damm im Kampf gegen den schneidenden Wind oder ein Gang durch die engen, winkeligen Gassen der Stadt, zum Fischmarkt, wo die Fische und Seekrebse nach dem Gewicht lizitiert werden.
Wir fuhren über Brüssel nach Bonn. Hier fühlten wir uns so angeheimelt von der Erinnerung an das vorjährige Musikfest, so wohl aufgehoben in Ermenkeils »Hotel royal« mit seinen lieblichen Gartenanlagen und dem Ausblick auf den Rhein, daß wir unsere Schweizerreise verschoben. Die schöne Gegenwart genießen, den Tag, die Stunde, das war stets meine beste Philosophie. Obendrein brachte uns ein günstiger Zufall drei gute Bekannte: zuerst den Sänger Emil Götze, den stattlichen jungen Mann mit der herrlichen Tenorstimme und dem ebenso beneidenswerten, ungetrübten Glücksgefühl. Seine Heiterkeit ist echt, kindlich, ansteckend. Sodann den Violinspieler Robert Heckmann, der mit seinen Kölner Quartettgenossen kurz zuvor Wien entzückt hatte. Er war ein Meister seiner Kunst. Das sind viele. Aber keiner ist mir bekannt, der von seiner Kunst so vollständig alles Handwerksmäßige abgestreift hatte, alles Mechanische, Mühselige, Blasierte. Wenn er ein Quartett von Beethoven, von Schumann, von Brahms zu spielen begann, leuchteten seine Augen, er schwelgte in dem Genuß schöner Musik. Und all die arbeitsvollen[381] Proben, die anstrengenden Konzertreisen vermochten diesen schönen Enthusiasmus nicht zu erkälten, zu ermüden. Endlich Theodor Steinway, der Chef der weltberühmten New-Yorker Klavierfabrik, einer der tüchtigsten, ehrenhaftesten Männer, denen ich begegnet bin. Er hatte seiner kränklichen Frau zuliebe, welche das Klima von New York nicht vertrug, sich in Braunschweig, der deutschen Heimat seiner Eltern, niedergelassen, wo er auch als Witwer verblieb. Dort lebte er vereinsamt, kinderlos, als stiller, freigebiger Wohltäter aller Armen. Dabei betrieb er unablässig seine akustischen Forschungen und Versuche. Er hatte in seinem Hause in Braunschweig, einem alten, winkeligen, abenteuerlichen Gebäude, ein Museum von Klavieren aller Zeiten und Formen zusammengebracht, desgleichen eine große Sammlung kostbarer Geigen, deren Klanggeheimnisse er auf das Pianoforte zu übertragen suchte. »Verbiete Du dem Seidenwurm, zu spinnen« – das Wort Tassos gilt nicht bloß vom Poeten. Die Liebe zu seiner Kunst, der Eifer, sie immer weiter zu vervollkommnen, ließen Steinway nicht rasten, selbst auf einer Höhe des Erfolgs, welche die meisten nur als eine Ruhebank der Bequemlichkeit begrüßen. Im Sommer nahm er eine Nichte samt ein oder zwei Freundinnen derselben auf Erholungsreisen mit, machte ihnen alles erdenkliche Vergnügen und scherzte über seine Pflichten als »alter Erbonkel«. So kam er auch nach Bonn als Reisemarschall zweier jüngerer und einer älteren Dame. Seine immer gleiche freundliche Ruhe, sein gravitätischer Humor, sein langsames, stoßweises Lachen – das alles breitete eine Atmosphäre warmer Behaglichkeit um ihn. In seiner Gesellschaft machten wir nebst Heckmann und Goetze einige Partien in die reizende Umgebung Bonns. Es gibt nichts Köstlicheres als so ein Sommerabend auf dem Drachenfels oder Rolandseck in Gesellschaft guter Freunde und die Rückfahrt auf dem Dampfschiff, wo Gesang und Rheinwein alle fröhlichen Geister entfesseln! Auf dem Drachenstein hatte ein bescheidener Photograph seine Bude aufgeschlagen. Auf Steinways Drängen ließen wir uns, meine Frau und ich, Steinway und Heckmann auf einem Bildchen verewigen. Es fiel ziemlich roh aus, wie alle solche Minutenporträts; ich hege es aber als teures Andenken. Denn bald nachher waren sowohl Steinway als Heckmann nicht mehr unter den Lebenden.
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro