Der Pfarrer.

[112] Im allgemeinen besitzt der Geistliche im Untersuchungsgefängnis mehr Einfluß als in der Strafanstalt. Nicht nur die Aufsichtsbeamten der Anstalt fügen sich seinen mehr oder weniger energisch vorgebrachten Wünschen und Ratschlägen, selbst die Justizbehörde hört mitunter gern seine Ansichten, wie er denn überhaupt in Bezug auf das Zeugnis der in die Strafanstalten Einzuliefernden eine mehr als beratende, sogar eine ausschlaggebende Stimme hat.

Der unserer Frauenabteilung zugeordnete Geistliche war ein noch ziemlich junger Mann von höchst idealer Anschauungsweise, ohne indessen dabei die Realitäten des Lebens außer acht zu lassen. Mit seinem psychologischen Verständnis pflegte er in das innerste Seelenleben der seiner Fürsorge anvertrauten Gefangenen einzudringen. Er begnügte sich nicht damit, ihnen ihre Sünden vorzuhalten und allenfalls[112] geistlichen Trost durch Bibelsprüche zu spenden. Vielmehr stellte sich der hochherzige Mann vor allem auf den allgemein menschlichen Standpunkt und behandelte seine Untersuchungshäftlinge wahrhaft brüderlich. Mit warmem Interesse hörte er ihre mannigfachen Klagen an und ließ sich ihre Leidensgeschichten vortragen. Gern spendete er Trost und verschmähte nicht, hin und wieder nicht nur in weltlichen Angelegenheiten guten Rat zu geben, sondern ging sogar in Sachen von einschneidender Wichtigkeit zu einem oder dem anderen Oberbeamten der Justiz, um im besten Sinne aufklärend zugunsten seiner Schützlinge zu wirken.

Es lag in dem Wesen dieses Mannes, daß man nicht gleich Vertrauen zu ihm zu fassen vermochte. Im Gegenteil konnte ich beim ersten Besuch des Pfarrers nicht entfernt ahnen, welchen Einfluß er auf mich gewinnen, welchen tief einschneidenden Wert seine menschenfreundliche Fürsorge für mein Schicksal haben sollte.

Mit kurzem Gruß betrat er meine Zelle; fast wollte es mir scheinen, als sei er ein wenig voreingenommen. Die üblichen Fragen nach Namen, Stand und Herkommen, sowie nach dem zur Last gelegten Delikt vorausschickend, notierte er alles in sein Taschenbuch, und nachdem er noch eine kurze Erkundigung[113] wegen der Lektüre an mich gerichtet, verließ er mich wieder in derselben Weise.

In meiner völligen Unkenntnis der Gefängnisverhältnisse hätte ich garnicht gewußt, mit wem ich es eigentlich zu tun habe, doch ließ mich mein Besucher darüber nicht im Zweifel.

»Wissen Sie, wer ich bin?«

Und als ich verneinte, setzte er hinzu: »Ich bin der Geistliche.«

Dann hatte er meine konsequente Nahrungsverweigerung erfahren und schien mich von da ab als Kranke anzusehen. Seelisch mochte er darin auch in gewissem Sinne recht haben, während ich körperlich zu jener Zeit durchaus gesund war.

»Warum wollen Sie denn nicht essen?« fragte er schon mit einer erhöhten Teilnahme. »Das Essen ist doch gut hier. Oder denken Sie vielleicht, daß es vergiftet sei?« forschte er, mir mit seltsamem Ausdruck in die Augen sehend.

»Nein, wie sollte ich denn auf so etwas kommen?« fragte ich sehr verwundert.

»Nun, das hat sich vor kurzem eine alte Frau alles Ernstes eingebildet. Sie ist darüber verrückt geworden.«

»Verrückt könnte man hier leicht werden. Weshalb läßt man mich nicht hinaus. Ich laufe doch,[114] nicht davon,« sagte ich erregt, auf meine erfolglosen Beschwerden gegen die Inhaftierung anspielend.

Nun versuchte mich der Pastor zu trösten. Er mochte sich immer mehr überzeugt halten, daß ich seelisch krank sei.

»Ich werde Ihnen gute Bücher bringen, damit Sie auf andere Gedanken kommen,« sagte er.

»Was nützt mir das? Ich kann sie ja doch nicht lesen. Man hat mir meine Brille fortgenommen,« murrte ich.

»Nun, die werden Sie schon wieder bekommen. Die kann man Ihnen nicht dauernd entziehen, wenn Sie sie brauchen. Haben Sie nur ein wenig Geduld,« redete er mir zu.

»Und meine Beinkleider bekomme ich auch nicht,« fuhr ich fort zu klagen. »Man läßt mich frieren und mich erkälten. Da brauche ich auch nicht zu essen. Krank werde ich doch einmal.«

Ohne auf das Unlogische dieser Zusammenstellung einzugehen, suchte er auch hier mich zu beruhigen.

»Wegen Ihrer Beinkleider brauchen Sie sich nur an den Arzt zu wenden,« riet er. »Wenn Sie daran gewöhnt sind, müssen Sie sie bekommen. Lassen Sie sich doch melden. Auch wegen der Brille würde ich ihn befragen. Aber essen könnten Sie deswegen doch,« meinte er.

»Das ist noch nicht alles,« beharrte ich. »Man[115] hält mich hier fest und fragt nicht darnach, was inzwischen draußen für mich alles zugrunde geht. Man steckt mich in Sträflingskleidung und läßt mich hier so herumlaufen zum Gespött der Leute, die mich kennen. Es kommt mir immer so vor, als sei ich schon verurteilt, schon gebrandmarkt. Glauben Sie vielleicht, daß das Lebensmut erwecken soll, Herr Pastor?«

Darauf wußte auch er mir nicht viel zu erwidern, und ich bin überzeugt, daß der Menschenfreundliche selbst in seinem Innern eine Maßregel verurteilte, die nur geeignet war, bittere Gefühle zu erregen und Schaden zu stiften.

Durch solche und ähnliche Unterredungen, die sich öfters wiederholten, immer länger ausdehnten, war das gegenseitige Interesse geweckt worden. Die ideale Lebensauffassung des Geistlichen zog mich immer mehr an. Sie entsprach meinem eigenen Empfinden und machte etwas Verwandtes in mir anklingen. Bald hatte der junge Menschenfreund mein ganzes Vertrauen gewonnen. Ich erzählte ihm meine Lebens- und Leidensgeschichte, berichtete aber auch rückhaltlos alles, womit ich mich gegen die Gesetze vergangen. Dabei sprach durchaus nicht der Umstand mit, daß ich erfuhr, der Pfarrer dürfe das ihm anvertraute nicht weiter sagen, müsse vielmehr das ihm anvertraute Beichtgeheimnis auch dann streng wahren,[116] wenn ihm etwas Verbrecherisches gebeichtet werde. Im Gegenteil hatten mich anfänglich die wiederholten Versicherungen des Geistlichen, er sei von amtswegen zum Schweigen verpflichtet, etwas argwöhnisch gemacht. Jetzt war das anders geworden. Ich schenkte ihm mein volles Vertrauen umsomehr, als ich auch vor Gericht kein Hehl daraus machte, wo mir mein eigenes Empfinden sagte, daß ich gefehlt. Dagegen bin ich bis zuletzt fest dabei geblieben, wo ich mich nicht schuldig fühlte, wo nur der Schein gegen mich sprach.

Der treffliche Mann hatte aber auch an mir, an meiner Persönlichkeit, meinen Angelegenheiten und Schicksalen ein sehr reges Interesse gewonnen. Er kümmerte sich um alles eingehend und zeigte den lebhaftesten Anteil an dem Gange meiner weltlichen Geschicke. Für »meinen Fall« interessierte er sich vornehmlich, stand mir in allem mit Rat zur Seite und entwickelte dabei ganz erhebliche juristische Kenntnisse.

Während seiner jetzt ziemlich häufigen Besuche sprachen wir jedoch nicht allein von meiner Strafsache, obgleich er auch darin mir manchen nützlichen Wink, manchen ausgezeichneten Rat gab.

Er hatte mich endlich durch seine rastlosen, wahrhaft väterlichen Bemühungen dahin gebracht, wieder Nahrung aufzunehmen, wobei er es keineswegs unter seiner Würde hielt, mitunter einen Scherz zu machen.[117]

Einmal kam er Mittags. Die Aufseherin ließ gerade Linsen ausspeisen.

»Was?« rief er, meine Weigerung bemerkend. »Was? Linsen gibt es?! Das ist gerade meine Leibspeise. Und Sie wollen es nicht essen? Wenn Sie sich nun noch eine Jauersche Wurst dazu kommen lassen, dann haben Sie in der Tat mein Lieblingsgericht.«

Eines Tages wandte er sich wieder mit liebreichem Vorwurfe zu mir, daß ich trotz seiner freundlich verständigen Mahnungen noch immer nicht essen wolle. Ich brachte dagegen vor, daß ich fürchte, das immerhin etwas schwere Essen werde meinem ausgehungerten Magen nicht bekommen. Da ging der gute Mensch plötzlich eilends weg und kehrte bald darauf mit einer Semmel zurück.

»Hier! –« sagte er. »Die werden wir jetzt zusammen verzehren.«

So brach er Stück um Stück von der Semmel ab. Ein Stück genoß er selbst, das andere mußte ich essen. So fütterte er mich wie ein Vögelchen, und diese rührend fürsorgliche Art und Weise, verbunden mit seinen wirklich verständigen Mahnungen und Ratschlägen entwaffnete mich und gewann mich der Welt und dem Leben wieder.[118]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 112-119.
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