Beim Untersuchungsrichter.

[179] Der Wechsel der vorgesetzten Behörde war mir nicht mitgeteilt worden. Die Genehmigung der vorher versagten Brieferlaubnis hatte mich zwar sehr angenehm berührt, doch zog ich sonst keinerlei Schlüsse daraus. Bald aber sollte ich darüber belehrt werden.

Wieder wurde ich vorgeführt, wunderte mich aber nicht wenig, als der Gerichtsdiener diesmal mit mir einen ganz anderen Weg einschlug und mich zu einer Tür geleitete, auf welcher geschrieben stand:


Landrichter Dr. Sch., Untersuchungsrichter.


Eintretend erblickte ich in einem mäßig großen Raume zwei Schreibtische mit hohen Rücklehnen. An jedem derselben arbeitete ein Justizbeamter, doch[179] obwohl sie sich gegenübersaßen, konnte einer den anderen nicht sehen.

Der ältere der Beiden, ein schon etwas ergrauter Herr mit ernsten, nicht unsympathischen Gesichtszügen winkte mich jetzt zu sich heran. Es war der Untersuchungsrichter. Er begann das Verhör. Aber obwohl sich dasselbe ziemlich in die Länge zog, so gestaltete es sich doch durch die humane Weise, in der dieser Vorgesetzte mit mir verkehrte, weit weniger peinlich und unangenehm. Ich bin bei ihm ziemlich oft und meist stundenlang verhört worden. Er behandelte mich aber höflich, hieß mich stets setzen, und wenn er auch bisweilen bei besonderen Veranlassungen etwas derb werden konnte, so gewährte er mir doch alle erbetenen Briefe, ließ mich auf eigene Meldungen jederzeit sofort vorführen und erteilte mir auf meinen Wunsch bereitwilligst Rat und Auskunft in den verschiedensten Rechtssachen.

Allerdings erwiderte er später, meinen Dank für sein höfliches Entgegenkommen zurückweisend: »Sie wissen ja gar nicht, ob ich nicht bestimmte Absichten dabei verfolgt habe.«

In diesem Falle war er in der Tat ein seiner Psychologe. Denn es läßt sich keineswegs bestreiten, daß nur rohe, verdorbene Naturen mit brutaler Härte in Furcht gesetzt und im Zügel gehalten werden können, daß man dagegen bei anständigen, seiner empfindenden[180] Menschen mit humaner Behandlung am weitesten kommt.

So waren mir die Vorführungen zu diesem Vorgesetzten anfangs kaum unerwünscht. Ich konnte es jetzt begreifen, daß mitunter Gefangene sich ohne eigentlichen Grund zu Vorgesetzten vormelden ließen, die nicht erst nach dem Zweck der Meldung zu fragen pflegten. Nicht immer geschah dies aus einer unbestimmten, nagenden Angst und Unruhe.

»Ich bin froh, mal aus dem Loch herauszukommen; – 's ist doch mal wenigstens 'ne Abwechselung,« äußerte einst eine Leidensgefährtin.

Und so denken Viele. Wer es versteht, sich in den Gedankengang, in das gänzlich veränderte Seelenleben eines plötzlich seiner Freiheit Beraubten zu versetzen, was Außenstehenden allerdings kaum in vollem Umfange möglich sein dürfte, der wird den Drang begreifen, mit dem die von der Welt Abgeschlossenen bestrebt sind, ihrem Gefängnis wenigstens auf kurze Zeit zu entfliehen und eine wenn auch noch so lose Verbindung mit der Außenwelt wieder anzuknüpfen.

Dazu kommen allerdings noch bei den meisten ausgesprochen praktische Beweggründe. Sie suchen durch die Vormeldungen etwas zu erreichen. Die einen bemühen sich, Entlastungsmomente vorzubringen, neue Zeugen zu beantragen, die andern wollen direkt oder durch ihr Benehmen eine ärztliche Untersuchung[181] erzwingen. Noch andere wünschen die Ihrigen zu sehen und zu sprechen oder Briefe zu schreiben.

Das alles war nun zwar bei mir nicht maßgebend. Dennoch sah ich die Vorführungen zum Untersuchungsrichter zunächst umso weniger ungern, als die Treppe, die zu diesen Zimmern führte, beiweitem nicht so sehr den Blicken des großen Publikums preisgegeben war wie die anderen Räume des Gerichts. Ich fühlte mich also hier viel ungenierter und nicht so bedrückt von der Sträflingsmäßigkeit meines Aeußeren.

Bald aber sollte das völlig anders werden.

Eines Tages erschrak ich bis ins Innerste, als ich ins Zimmer tretend statt des gewohnten fremden jungen Mannes den mir wohlbekannten Sohn eines höheren Beamten erblickte, in dessen Vaterhause ich einst viel verkehrt hatte.

Der noch sehr junge Mann besaß allerdings zuviel Anstandsgefühl, um sich den jedenfalls sehr unästhetischen Eindruck merken zu lassen, den meine so arg verwandelte Erscheinung auf ihn hervorrief. Vielmehr hatte er mich nicht sobald erblickt, als er von seinem Sitz an dem Nebenpult aufsprang und mir in meinem lächerlich grotesken Aufzuge die tadelloseste Salonverbeugung machte.

Hinfort traf ich ihn stets an diesem Platze. Er mußte sogar die Protokolle gegenzeichnen, denn es ist[182] beim Untersuchungsrichter gesetzliche Vorschrift, daß die Vernehmungen in Gegenwart eines Zeugen stattfinden müssen.

Allmählich gewöhnte ich mich auch an diesen Umstand. Doch war dies durchaus nicht die einzige derartige Begegnung, die ich im Untersuchungsgefängnis über mich ergehen lassen mußte.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 179-183.
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