XVII.

[136] Gastspielausflüge machte ich außerdem von Stuttgart aus nach Augsburg, Bamberg, Berlin, Bonn, Bremen, Breslau, Detmold, Dortmund, Dresden, Ems, Frankfurt a.M., Freiburg i.B., Fürth, Gera, Graz, Halberstadt, Heidelberg, Heilbronn, Kaiserslautern, Karlsbad, Kissingen, Köln, Kolberg, Leipzig, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Marienbad, München, Nürnberg, Posen, Prag, Pyrmont, Riga, Stettin, Teplitz, Ulm, Wien, Würzburg und Zürich.

Meine Gastspiele schloß ich sämtlich ohne Vermittelung von Agenten, direkt mit den Bühnenvorständen ab; ich erwähne das, um meinen Kollegen zu beweisen, daß sich ein Schauspieler die harten Opfer, die er dem Agenten bringen muß, recht wohl ersparen kann. Meine ausgebreitete Bekanntschaft mit den deutschen Theaterdirektoren hat mir den Abschluß der Gastspiele in den letzten Jahren allerdings sehr erleichtert, aber es gab eine Zeit, wo ich unbekannt war – ich bin durch Innehalten meines Prinzips und durch Energie doch an mein Ziel gelangt.

Die Direktoren zahlen keinen Heller für das Abschließen der Kontrakte durch die Agenten, alles zahlt der Schauspieler. Und was sind das für Kontrakte?!

Ich kenne so viel liebe ehrenhafte Männer unter den deutschen Theaterdirektoren, (die wenigen Peiniger der Schauspieler zählen ja nicht mit), und ich bin überzeugt, mit ernstlichem Willen auf beiden Seiten ließen sich bessere Zustände, menschenwürdigere[137] Kontrakte feststellen. Wir Schauspieler sind ohne Schutz in unseren Verträgen. Der Schauspieler muß sich gedrückt fühlen, da die Erfahrung lehrt, daß er in Prozessen mit Intendanten oder Direktoren fast immer verliert, denn die Kontrakte, die der Schauspieler unterzeichnet, sind und bleiben Mausefallen, in denen fast jeder sich fangen läßt. Die Agenten und Direktoren mögen Kontrakte entwerfen wie sie wollen – der deutsche Schauspieler unterschreibt sie und bereut seinen Leichtsinn hinterher oft mit blutendem Herzen. Die Kontrakte und Theatergesetze enthalten für die Direktoren nur Rechte, für die Schauspieler nur Pflichten. Mir sagte einmal ein hervorragender Advokat: »Der Kontrakt jedes Hausknechts enthält so und so viel Paragraphen zu seinen Gunsten, der Kontrakt des Schauspielers nicht einen, der nicht zu Gunsten des Direktors ausgelegt werden könnte, und ich gebe mich deshalb nicht zur Verteidigung der Rechte von Bühnenmitgliedern her, weil ihre Kontrakte der reine Hohn auf alle Rechte sind!«

Es ist ein altes Sprichwort beim Theater: Wenn der Direktor den Schauspieler braucht, schneidet er ihn vom Galgen, und braucht er ihn nicht mehr, so hängt er ihn wieder daran. Im Glauben an diese seine Brauchbarkeit handelt der Schauspieler stets und fängt sich in der Mausefalle.

Wann wird der Corpsgeist in uns erwachen, daß wir uns in geschlossenen Reihen gegen Willkür und Gesetzlosigkeit erheben? – Ich glaube – nie!

Der Schauspieler ist hastig, nervös, mehr oder weniger haben wir alle einen »kleinen Vogel« und handeln unbedachtsam, wenigstens in der Aufregung und Künstlereitelkeit. Was hülfe es auch dem einen, wenn er diese gefährlichen Klauseln nicht unterschriebe? Weigert er sich, sind sofort 20 andere da, die mit Vergnügen unterschreiben. Der Direktor hilft sich mit einer vorgesehenen Kündigung und das Spiel kann aufs neue bebeginnen.

Wie viel Elend guter Schauspieler habe ich, durch diese Manöver herbeigeführt, in meiner langen Bühnenlaufbahn gesehen![138] Es ist diese Tyrannei in den Mausefallenkontrakten wahrlich nicht nötig, denn ich habe selten einen Kollegen gefunden, der nicht freundlichen, zuredenden Worten seitens der Direktion zugänglich gewesen wäre. Das Talent des Schauspielers soll und muß ja entscheidend sein für den Direktor, aber es gibt Direktoren, die sich zu Beginn der Saison dasselbe Rollenfach 4-, 5- und 6mal engagieren, wo sie doch wissen, daß sie nur Einen für das Fach behalten können. Dieser Eine spielt durch Zufall eine ihm zusagende Rolle und die andern, vielleicht weit bedeutendere Künstler, die nicht zu günstigem Auftreten gelangen, werden gekündigt, entlassen, sind wegen vorgerückter Saison, in der sie kein anderes Engagement mehr finden können, dem Elend, der Verzweiflung in fremdem Lande preisgegeben, und finden kaum die Mittel, heim zu reisen. Dann sind die guten Kollegen wieder da, sie allein müssen helfen – und sie helfen stets.

Wahrlich, ich habe viel Leid und Intriguen in meinem Leben durch Kollegen erfahren aber der Zug der Mildthätigkeit, der in dem Künstler wohnt, läßt mich's vergessen; um dieses schönen Zuges willen habe ich meine Kollegen wie Brüder lieb. Einen Stand, der bei wirklichem Elend mehr für die Seinen sorgt, als der Schauspielerstand, gibt es nicht.

Und wie oft setzt der Künstler sein Talent ein, wenn es gilt, durch öffentliche Wohlthätigkitsvorstellungen die Not Anderer zu lindern – wie viele Tausende werden alljährlich dadurch zusammengebracht; aber eigentümlich, wenn wir für uns selber, für die Kasse unserer Genossenschaft, die unsere eigene Not in alten Tagen lindern soll, auftreten, – bleibt das Publikum meist fern, oder wir müssen die äußersten Kraftanstrengungen machen, um die Leute heranzuziehen.

Ich habe mich nie mit Direktoren auf Engagements-und Gastspielunterhandlungen eingelassen, wenn ich nicht von ihrem ehrenwerten Charakter überzeugt war. Diese ehrenwerten Bühnenvorstände, und deren sind wahrlich nicht wenige, wären gewiß bereit, in gemeinsamer Beratung mit den Schauspielern[139] ein Besserwerden der deutschen Theaterverhältnisse anzustreben, aber leider werden sie erdrückt von einzelnen Machthabern unter ihnen, die Fortuna auf ihre Höhe hob, und die Schauspieler bringen kein Konzil zustande, auf dem Fachmänner mit ihrer inneren, ehrlichen Ueberzeugung zu Worte kämen. Nehmen wir uns doch ein Beispiel an den deutschen Autoren, sie haben ihre Rechte besser zu wahren gewußt. Welche winzigen Honorare bezogen sie früher, während sie heute mit einem einzigen guten Stücke reiche Leute werden. Einigkeit macht stark – jeder Schauspieler fühlt's mit mir, wo unsere Schwäche liegt, und doch wirds' nie anders werden, es liegt das einmal in der leichtsinnigen deutschen Künstlernatur! Unsere Kinder werden uns auslachen ob unserer Kontrakte, vielleicht daß es bei unseren Kindeskindern einmal besser wird. – –

Nach Riga führte mich ein Gastspielvertrag zu meinem alten Freunde Rösicke. Zu ihm wagte ich die Reise nach Rußland gerne, ich wußte, daß er mein Gastspiel unterstützen würde. Er hat es redlich gethan. Ich hatte für die sechstägige Reise von Stuttgart hin und zurück nur kurze Zeit Urlaub, Rösicke hatte ihn mich bestens ausnützen lassen, und ich konnte mit einigen tausend Rubeln in der Tasche wieder heimkehren. Die Russen sind sehr empfänglich für deutsche Kunst, die sie ihren Nationalhaß wahrlich nicht entgelten lassen; ich habe viel Gastfreundschaft und viel Anerkennung bei Publikum und Presse dort gefunden. – –

Zu Direktor Reck ging ich wiederholt nach Nürnberg. Er wurde so oft verkannt, der cholerische Reck mit dem goldenen Herzen, das so mancher Schauspieler nicht erkannte. Wenn gleiche Elemente auf einander platzen, gehts nie gut aus. Der Künstler ist erregt, mit Ruhe wickelt ein Direktor ihn aber um den Finger. Ruhe muß der Direktor haben, wer sie nicht hat, soll besser etwas anderes ergreifen. Der gute Reck hat sich den Keim des Todes durch seine Galle geholt – seine Gattin mußte mit ihrer Engelsmilde alle Zerwürfnisse zwischen ihm und den Mitgliedern wieder ausgleichen. Wenn Recks Zorn[140] verraucht war, wurde er zum Kinde, so weich, so versöhnlich war er. Als ich zum letztenmale bei ihm gastierte, konnte ich ihn nicht mehr sprechen, er war schwerkrank. Wenige Tage später erlöste ihn der Tod von einer Direktion, in der er sich, wie wenn es ihm Bedürfnis gewesen wäre, über 30 Jahre geärgert hatte. Mir war er ein lieber Freund geblieben lange Jahre hindurch, ich kannte ihn und wußte ihn danach zu behandeln, seine guten Eigenschaften waren überwiegend. Er hat mir so manchen Lorbeerkranz gespendet; ich habe ihm nur einen mit Thränen widmen können – es war an seinem Grabe.

Zu Moritz Alexander Krüger, der ehrlichen Haut, ging ich oft; ich gastierte bei ihm in Pyrmont, Detmold, Bielefeld, Augsburg und Graz, in welchen Städten er Direktion führte. Ich kannte ihn, als er noch Sekretär beim Direktor Mewes in Detmold war. Er zog mich, wogegen ich mich so lange gesträubt, als Gast in meine Vaterstadt. Bielefeld hatte von jeher ein höchst primitives Theatergebäude (oder richtiger Saal oder Pferdestall), und dann wollte ich meinem Vater nicht als Schauspieler unter die Augen kommen. Erst als ich mich mehr entwickelt hatte, verstand ich mich dazu. Mein Vater hatte viel Sinn für Musik und Konzerte, aber ich glaube, das Theater hatte er früher nie besucht. Als ich in Bielefeld auftrat, hatten ihn meine Mutter und Geschwister veranlaßt, ins Theater zu gehen. Ich spielte »Die letzte Fahrt« von Stettenheim, ein sentimentales Stück. Meinen Vater ergriff es so sehr, daß ich von der Bühne aus deutlich wahrnahm, wie ihm die hellen Thränen über die Wangen rollten. Aller Augen waren auf das schneeweiße Haupt meines Vaters gerichtet, als ich in der Maske des alten »Klappe« ebenfalls mit weißem langen Haar erschien. »Ah, der alte Kommissionsrat,« flüsterte es durch das ganze Haus. Ich hatte es gar nicht bedacht, daß ich schon im Leben so große Aehnlichkeit mit meinem Vater hatte, nun noch das weiße Haar dazu, und die Kopie war fertig. Beabsichtigt hatte ich die Kopie nicht, vermochte es aber[141] auch nicht zu verhindern, jedoch auf meinen alten Vater hatte es einen furchtbaren Eindruck gemacht, als er sein Ebenbild auf der Bühne sterben sah. Das Publikum ging zu ihm, nachdem der Vorhang gefallen, von allen Seiten wurde ihm zu seinem Sohne gratuliert, und nach dem Theater schloß er mich in seine Arme, ich lag an seiner Brust und weinte mit ihm lange, lange Zeit. Er hatte mir verziehen, daß ich einst seine Pläne durchkreuzte und nach seiner Meinung in Landstreicher geworden war, und eine schönere Stunde hat mir mein Beruf und meine Kunst nie bereitet, als diese am Herzen meines Vaters!!

Später kam ich dann öfter nach Bielefeld zum Gastspiel. Meine Landsleute, obschon die Generation, die ich kannte, jetzt fast ausgestorben ist, sind stolz auf mich, und ich bin zum Dank dafür nicht zu stolz, auf ihrer verfallenen Saalbühne aufzutreten, zumal dieser Saal immer zum Erdrücken voll ist, und so lange ich's vermag und gesund bin, kehre ich[142] auch in meine Vaterstadt zurück. Dieser Rapport wird zwischen mir und meinen Landsleuten so bleiben.

Vor Jahren habe ich meinen Vater zu Grabe getragen, nachdem er 84 Jahre gelebt. Ich wurde plötzlich durch die Todesnachricht in Stuttgart erschreckt.

Ein Dekret des Königs dispensiert den Schauspieler in den Tagen der Trauer vom Auftreten. Ich hatte meinen Vater beerdigt, reiste eine halbe Stunde nach der Beerdigung wieder von Bielefeld nach Stuttgart zurück und mußte abends – »Robert und Bertram« oder »Die lustigen Vagabunden« spielen! O, mein Gott, wie war mir zu Mute! Gerade die tollste aller Possenrollen mußte ich darstellen mit Wehmut und Trauer im Herzen. Ueber den Verlust meines Vaters, dessen Liebling unter seinen Söhnen ich geworden, weinte ich Thränen des Schmerzes – und das Publikum lachte Thränen der Freude über mich! Entsetzlicher Kontrast! Furchtbare Berufspflicht!

An die Intendanz hatte ich mich von Bielefeld aus vergeblich gewandt, mir wenigstens eine ernste Rolle für den Abend anzusetzen. Meiner Bitte wurde nicht Gehör geschenkt, und mein Freund und Kollege Rosner tröstete mich, wie immer, mit dem Citat:


Die fremden Erob'rer, sie kommen und gehn,

Wir aber gehorchen und bleiben stehn!


Freilich blieb ich stehen durch meinen Gehorsam, aber leider – zu lange! Mein Hoffen und Harren in Stuttgart in der Blüte meiner Jahre entzog mir ein sorgenfreies Alter! – –

Nach einem längeren Sommergastspiele in Kolberg suchte ich Erholung und Stärkung an der Ostsee mit ihren freundlichen Gestaden. Nachdem ich die Ostseebäder bereist und auf der Insel Rügen mich einige Tage aufgehalten, fuhr ich über Stettin nach Kopenhagen. Ich hatte im Gefolge des Königs von Dänemark, dem ich in Wiesbaden meine ganze Reuter-Galerie vorgeführt hatte, wofür er mich mit der goldenen Medaille belohnte, den Baron von Güldencrone kennen gelernt. Liebenswürdig nahm er mich in Kopenhagen auf, er veranlaßte[143] mich, dem Kabinettschef des Königs, Staatsrat Baron Rosenstand, meine Aufwartung zu machen.

Als ich meinen Besuch dort machen wollte, erfuhr ich, daß die Gattin des Barons von Rosenstand schwer krank darnieder lag. Ich kehrte ins Hotel zurück. Vom Hotel aus ließ ich durch den Lohndiener anfragen, wann ich den Staatsrat wohl einen Augenblick sprechen könne, ich möchte weiter reisen und könne nicht lange in Kopenhagen verweilen.

Die Stunde wurde mir bestimmt, ich trat ins Haus und wurde in ein Zimmer geführt.

Aus dem Nebenzimmer hörte ich das herzzerreißende Stöhnen der sterbenden Gattin des Barons. Wenige Minuten später erschien mit Thränen im Auge der Baron in furchtbarer Erregung. Ich entschuldigte mich ob meines unschicklichen Verlangens in dieser für den Baron so schweren Stunde. Freundlich hörte er mich an, die Thränen flossen ihm unaufhaltsam über die Wangen. Nachdem ich mein Anliegen vorgebracht, empfahl ich mich. Der Baron kehrte zurück ins Sterbezimmer seiner Gattin, die am selben Nachmittage noch verschied.

Habe ich je einen rührenden Eindruck von der Liebenswürdigkeit der Hochgestellten dieser Erde empfangen, so war es in diesem mir unvergeßlichen Augenblicke. Ich kam als Bittender, und doch wies man bei allem Schmerz und Kummer mir nicht die Thüre, sondern erfüllte mir – dem Fremden, Ungekannten, meine Bitte. Solche Menschen möchte ich in Gold fassen lassen, wenn ich's vermöchte! Was vermag ich indes für den Kabinettschef des Königs von Dänemark zu thun? Nichts! Aber da die Milde und Güte seines Königlichen Herrn auf ihn übergegangen ist, erfreut ihn vielleicht auch der Dank eines einfachen Künstlers, und dieser sei ihm von ganzem Herzen dargebracht! – Den Namen Baron von Rosenstand schreibe ich mit Ehrfurcht in meinem Buche nieder. – –

In Kopenhagen, dieser hochinteressanten Stadt, verlebte ich[144] schöne Tage. Nachdem ich das Thorwaldsensche und ethnographische Museum besichtigt, konnte ich am selben Abend die Jubiläumsfeier des 45jährigen Bestehens des Tivoli-Etablissements besuchen. Das Tivoli in Kopenhagen ist ein Unikum eines Vergnügungslokals, denn keine Stadt der Welt hat Aehnliches an Großartigkeit aufzuweisen.

Tags darauf fuhr ich den herrlichen Sund hinauf. Es war an einem wunderschönen Augustsonntage. Keine Wasserstraße bietet so viel Reiz als dieser von der dänischen und[145] schwedischen Küste mit den herrlichsten Villen und Buchenwäldern eingefaßte Oehresund. Unzählige Schiffe durchkreuzen stets die Flut.

Ich stieg in Helsingör aus, besuchte Hamlets Grab und fuhr herüber nach Helsingborg, von wo aus ich einige Ausflüge nach Schweden machte.

Die Ferien waren zu Ende – ich mußte zurück nach Stuttgart. Folge mir der nachsichtige Leser wieder dorthin.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 136-146.
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