6.

[225] Während der Jahre 1871–1872 wurden unendlich viel Wohltätigkeitskonzerte von Berufenen und Unberufenen – die sich »oben« lieb Kind machen wollten – arrangiert, die daraufhin oft genug auch dekoriert wurden. Es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn ich sage, daß Marianne Brandt, die ewig Wohltätige und Gutmütige, und ich, in mindestens 25 Konzerten zum Besten der Krieger und ihrer Hinterbliebenen sangen. Nach einem dieser Konzerte, dessen Protektorin die Kaiserin war, erhielt ich ein Dankschreiben mit eigener Unterschrift, das ich als Andenken an die hohe Frau bewahre.[225]

Mir ist der Gedanke stets unerträglich gewesen, mich für eine Wohltat, die ich so gern erwies, belohnen zu lassen; man kennt mich auch genug, um mir zu glauben, daß ich nicht daran dachte, mir eine Dekoration dafür zu erringen. Da aber so viele »Charpiezupfende« und »Leibbindennähende« – die auch noch in so feinfühlender Weise »auf Wiedersehen« hineingestickt hatten – hohe Dekorationen erhielten, so frage ich wohl nicht unberechtigt: wie es kam, daß Künstler, die in so reichem Maße selbstlos und aufopfernd wohltätig waren, sind und immer sein werden, nicht gleich den »Charpiezupfenden« und »Leibbindennä henden« Wohltätigkeitskollegium auch einmal dekoriert wurden? Meinetwegen Eine für Alle! Und Marianne Brandt hätte ich diese Auszeichnung von Herzen gegönnt. Wie tief unter dem Niveau der obengenannten Tätigkeiten die göttliche Kunst in den Augen so Vieler steht, die zu erlernen, Talent, Geist, ja das Opfer eines ganzen Lebens erfordert, das lernt man bei solchen Anlässen leider nur zu gut kennen, und tiefe Trauer beschleicht mich bei der Erkenntnis, wie weit die allgemeine Bildung noch davon entfernt ist: Kunst und Künstler einzuschätzen.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 225-226.
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