Reise nach Cassel.

[143] Nun verließen wir Mainz, und da ließ ich Freunde und Gönner die Menge zurück. Wir wollten nach Hessen-Cassel.

W.H.: Ackermann war von dem Herrn Landgrafen verschrieben worden, mit seiner Gesellschaft in Cassel zu spielen. Ackermann schlug es keinen Augenblick aus. Der Herr Landgraf wollte mit ihm einen Akkord schließen. Aber Ackermann wollte erst zeigen, was er könnte, und dem Fürsten gefiel die Entschlossenheit; er war voll Verlangen, voll Begierde. (Das Ballhaus sollte schleunigst instandgesetzt werden.)

Dem Adel von Mainz war's sehr unangenehm, daß Ackermann fort wollte, und ungern ließen sie ihn. Das Wetter war ihnen sehr erwünscht, wir spielten also alle Tage: heute zum letzten Mal – und spielten noch in Mainz, da wir schon in Cassel hätten spielen sollen; denn der bestimmte Tag war vorbei. Ganz herrlich fuhren wir in zugemachten Kutschen fort. Aber Fuhrleute, die des Wegs herkamen, wo wir hinwollten, versicherten, daß der Weg so schlecht sei, daß wir kein Stück von den Kutschen bis den halben Weg nach Cassel brächten. Die Knechte wurden stutzig, wollten nicht weiter, wir blieben in einem Dorf. Ackermann zurück nach Mainz! Der Herr von den Wagen sagte, wenn's so wär, sollten uns seine Wagen entweder wieder zurück nach Mainz oder nur bis nach Frankfurt bringen. Ackermann kam und dachte: Laß mich nur erst in Frankfurt sein. Es ging zur Klage. Aber die Frankfurter Herren wollten keinen Ausspruch tun, weil's Mainzer und nicht Frankfurter Fuhrleute waren, und so wurden wir denn auf Leiterwagen gepackt und fuhren den Dienstag von Frankfurt weiter. Und den Mittwoch vorher waren wir aus Mainz gefahren

Allgemein wurde es nun, daß Friede in Europa war, und wir fuhren sozusagen mit den Friedensherolden zugleich zum Frankfurter Tor hinaus. Wir waren nicht lauge gereist, als wir fanden, daß die Fuhrleute recht hatten. Denn kaum konnte man mit den Leiterwagen durch. Tragikomischer wird schwerlich wieder eine Reise gemacht.

[144] W.H.: Die Herren gingen fast alle zu Fuß; sogar der kranke Mylius wollte gehen, es half kein Abraten; er ging mit Schuhen und weißen seidenen Strümpfen. Da versank er bis auf die Knie im Morast. Er schrie, man sollte im helfen. Die jungen Herren konnten's nicht, ein guter Freund erbarmte sich des Kranken, wanderte durch den Kot. Mylius mußte sich auf seinen Rücken hocken – plauz, da lagen beide, der Menschenfreund unten, der Kranke auf ihm. Wir alle wollten uns totlachen, denn der Auftritt mit allen Nebenumständen war gar zu komisch. Der Kranke selbst lachte herzlich und drückte dadurch seinen Retter immer tiefer in den Kot. – Wir Frauenzimmer mochten uns auf unsern Wagen setzen, wie wir wollten, so lagen wir immer eins auf dem andern mitten im Wagen auf dem Stroh.

Zum Glück hatten wir uns alle gut verproviantiert. Denn kaum Brot fand man in den Dörfern und Städtchen. Wie oft wir umgeworfen und alle im Kot lagen, wie viele Pferde gestürzt, die kaum wieder aufkamen, wie viele Räder und Achsen und Deichseln gebrochen, das war nicht zu zählen.

Um sich einen Begriff von der Fahrt zu machen, so will ich der Geschwindigkeit wegen eines Tages nur gedenken. Das Dorf hieß Langdorf, gewiß seiner Länge wegen. Denn des Morgens 7 Uhr fuhren wir aus dem Wirtshaus, das an dem einen Ende stand, und des Abends 7 Uhr kehrten wir am andern Ende des nämlichen Dorfes in dem Wirtshaus, das an dem Ende stand, wieder ein. 12 Stunden! Ja, 12 Stunden; aber das ist auch wahr, daß der Schmied und Wagner von dem Dorf ebensowenig die 12 Stunden was essen konnte wie wir. Denn unsere vier Wagen mit Menschen und Bagage, sogar der mit Heu und Hafer aufgeladene Wagen, alle fielen, einer nach dem anderen. An jedem brach was. Die Pferde fielen in Löcher bis an die Bäuche. Kurz, es war zum Erbarmen, so sehr ich auch und wir alle nachher gelacht haben. Gottlob, daß keiner von uns zu Schaden kam. Denn daß wir alle braun und blau gestoßen und gefallen waren, wurde nicht geachtet. Willigere und gutere Bauern habe ich noch nie gefunden, als auf der Reise. Aber die armen Leute hatten selbst nichts, wir gaben ihnen. Da, wo es von der Poststraße abging, glaubten sie es erst durch uns, daß gewiß Friede wäre. Sie hielten uns für geflüchtete Hessen, die der Krieg aus ihrem[145] Vaterlande verscheuchte, und die nun wieder in ihre Vaterstadt zurückkehrten. Und wir ließen sie dabei. Sie sahen uns als Engel vom Himmel gesandt. Ein Knabe von sechs Jahren brachte uns Salz und Wasser; denn sonst war nichts da. Das Brot, das die armen Menschen aßen, war nicht zu genießen. Wie er uns das hingesetzt, reichte er seiner Mutter einen Stuhl. Die setzte sich, er stand vor ihr, und sie reichte ihm eine von ihren Brüsten hin und ließ ihn trinken. »Mein Gott! Frau, der Junge trinkt noch die Brust? Wie alt ist er?« Da erfuhren wir's: 6 Jahre vorbei. »Wie hätte ich ihn sonst erhalten können in dem Elend. So aber hatte er Nahrung von mir mit. Aber von heute an soll er sie nicht mehr haben. Gottlob, Sie sagen, es ist Friede.«

In dem Dorfe, wo wir abends so früh einkehrten, fing ich eine Wäsche an; denn ich konnte mich nicht länger ansehen. Fünf Tage, hatte es geheißen, würden wir zubringen. Also, wer hätte sich da mit vieler Wäsche belästigen sollen? In meinem Kämmerchen hatte ich mir mein Schäffchen hingestellt und wusch. Mama kochte Kaffee statt Suppe, daß wir was Warmes in die Gedärme bekommen sollten. Ein treuherziger Bauer, der alles verloren und nun auf seine alten Tage Knecht bei dem Wirt war, sah mir zu, und wir schwatzten zusammen vom Krieg und von der Hoffnung besserer Zeiten. Darauf ging er weg und kam bald wieder und brachte mir ein langes Halstuch von ihm. »Oh,« sagte er, »wasche Sie mir das doch mit; ist morgen Sonntag!« Die treuherzige Art gefiel mir; ich besann mich nicht lange und wusch es nach allem Fleiß mit aus. Nun sollte ich zum Kaffee kommen. »Gleich!« Der Bauer sagte: »Gehe Sie, und ich will bei der Wäsche bleiben. Soll Ihr nichts wegkommen!« Ich hüpfte fort und erzählte, was ich wieder für einen neuen Auftritt hätte, o ganz wieder für mein Herz. Mag so gerne Menschen sehen, wie sie sind. Von etwas Haarpuder in einem zinnernen Löffel machte ich so viel Stärke, als ich zu dem Tuche nötig hatte, kam wieder – und seitdem ich weg war, hatte mir der gute Bauer drei schöne, große Aepfel auf den Tisch gesetzt. »Oh, da, verschmähe Sie mir solche nicht!« Noch indem ich das schreibe, kommen Tränen[146] in meine Augen. Sehen hätte man den guten Alten, hören müssen, was er sagte. Und wahrlich, auch ein weniger gefühlvolles Herz, als das meinige, hätte müssen davon gerührt werden. Wo der Mann die Aepfel noch hergenommen? Denn es war nicht für Geld das mindeste Obst zu haben. Oh, die Soldaten ließen's nicht zur Reife kommen, schlugen die Blüten ab! So hörten wir und noch viel mehr, wo wir hinkamen und Obst forderten. Meine Wäsche mußte ich den Morgen halbnaß mitnehmen. In Ermangelung eines Bügeleisens strich ich das Tuch mit meinen Händen glatt, legte es zusammen und trocknete es auf meiner Brust. Und am Morgen gab ich's ihm, der sich bedankte. Wir fuhren weiter.

An einem Abend sehr spät kamen wir in ein erbärmliches Dorf, wo nur ein Wirthaus war. Wir traten in die Gaststube. Die Wände waren so schwarz wie Kohlen. Der Wirt, ein Mann so gegen die 50 Jahre, sah sehr ernst. Er wußte selbst nicht, was er aus uns machen sollte. Denn unser aller Losungswort war in jedem Haus, wo wir einkehrten: »Nun lustig, Herr Wirt, lustig, es ist Friede!« Wie wir alle in der Stube waren, sagte er: »Ach, ich kann Ihnen nichts geben. Hab' nichts. Feuer will ich Ihnen machen. Branntwein habe ich und Wasser. Das wenige Brot werden Sie nicht essen können. Morgen erst bekomme ich frisches.« »Auch nicht Stroh zum Lager?« »So viel ich habe. Will's gern hergeben. Betten habe ich gar keine.« So schlecht hatten wir's in keinem Nachtlager getroffen. Doch was sollten wir machen? Es hieß: Geduld! Jeder packte seinen Vorrat aus. Wer keinen Wein hatte, goß Branntwein in Wasser, und das tranken einige Herren. Eine Frau, so in die 40er Jahre, saß ganz stille in einer Ecke der Stube, schien uns alle, ohngeachtet wir sehr laut waren, nicht zu bemerken und blickte mit starr angehefteten Blicken immer auf eine Stelle an der schwarzen Mauer. Ich, die immer alles gleich zuerst bemerkte (denn um die Wirtschaft bekümmerte ich mich zu den Zeiten nicht, Mama besorgte alles), saß still, die Bauersfrau aber erregte wieder meine ganze Aufmerksamkeit. Blaß, hager, die tiefste Schwermut in allen Zügen! Was muß ihr sein? Ist nicht zu helfen? So in[147] den Gedanken suchte ich den Wirt, den ich auch in der Küche fand, wo er mit Holz und Reiserbruch für uns Feuer machte und aufs Wasser sah, daß es kochen sollte. »Lieber Herr Wirt, wer ist die Frau in der Stube? Ich glaube, sie ist krank?« »Ach liebes Jüngferchen, es ist meine Frau, sie ist tiefsinnig aus lauter Kreuz über den traurigen Krieg und all das Unglück, so uns betroffen.« – »Mein Gott, könnte ich ihr doch helfen!« – »Schwerlich«, sagte der Alte und wischte sich Tränen aus den Augen. Ich ging wieder in die Stube und setze mich zu der Wirtin, grüßte sie. Sie sah mich an, nickte mir Dank zu, ohne ihre Miene zu verändern. Ich fing an zu weinen, nahm ihre Hand in die meinige und sagte zu ihr: »Mutter, gute Mutter! Munter, ist ja Friede! Nun wird, will's Gott, alles besser werden. Der alte Gott lebt noch.« Aufmerksam sah sie mich an und sprach endlich. »Ja, ist's Friede?« – »Gewiß, liebe Frau; wir gehen ja selbst wieder zurück nach Cassel.« »So? Gut! Für mich kommt kein Frieden.« – »Liebe Frau, was sagt sie? Wird auch für sie Friede kommen.« Ich holte ihr ein Stückchen Kalbsbraten, den die Mutter zu einem Ragout einschnitt, und ein gutes Glas Wein und Brot. Sie nahm's von meiner Hand, und auf langes Zureden genoß sie etwas von allem. »Aber, liebe Frau, warum denn keinen Mut zu besseren Zeiten?« »Liebes Kind, sie weiß nicht, wie man es mir gemacht.« »Oh, diese bösen Menschen! Haben sie ihr so hart begegnet?« »Wohl hart! Drei meiner Söhne schleppten sie mit Gewalt fort, mußten Soldaten werden und wurden alle drei erschossen. Fünfmal haben sie mich rein ausgeplündert, und was sie nicht mitnehmen konnten, zerschlugen sie und zerschmissen's. Das letzte Mal hatten uns die Hannoveraner alles aufgezehrt, wir hatten nichts, nichts mehr. Es kamen gleich nach ihnen Franzosen, die waren besoffen. Wir sollten ihnen was geben und hatten selbst nichts. Nun schlugen sie mich und meinen Mann, hieben mit ihren Säbeln in Tische und Stühle. Und einer, als ich bat, riß meinen jüngsten Sohn aus der Wiege, schleuderte ihn an die Mauer. – Da, da sehen Sie noch sein Gehirn!!« – »Ach Gott, Gott!« schrie ich; ich fiel der Frau um den Hals. Die Tränen, die noch in dem Augenblick[148] mir hinrollen und auf dieses Blatt fallen, bezeugen die Wahrheit dessen, was die arme, unglückliche Frau mir gesagt hat. Der Ort, wo sie hinwies, war die Stelle, die sie immer mit unverwandten Augen angesehen hatte. Von Gehirn oder Blut war nichts an der Wand zu sehen. Dieses war nur noch der schreckliche Augenblick, der ihr's noch wie lebend vorstellte. Meine Tränen bewegten sie, daß sie auch einige fallen ließ. Aber auch nur einige; denn sie hatte wohl schon alle Tränen verweint. Ich lief herum wie verrückt: »Können wir denn der Frau nicht helfen?« Nicht alle nahmen Teil an dem, was ich fühlte. Zum Essen hatte ich keine Lust, die Frau mußte meine Portion Ragout haben. Oh, ich hätte mir das gar nicht nehmen lassen, sie zu erquicken, gab ihr Wein und sprach ihr zu, so gut ich konnte. Ob der Wein, ob mein Mitleid, kurz, mag's gewesen sein, was es wollte, das ihr Kräfte gab: sie stand von der Bank auf, ging in die Küche und legte Holz hin, schürte das Feuer. Im Grunde war's freilich nichts, was sie tat. Aber sie ging herum, doch immer starr vor sich weg sehend. Ihr Mann sagte zu mir, das hätte sie in vier Jahren nicht getan. Er hätte durch sie gar keine Hilfe mehr gehabt. Den Morgen kleidete er sie an und des Abends aus, und von der Bank wäre sie nicht wegzubringen seit dem unglücklichen Augenblick, da man sein Kind so grausam gemordet. Ich gab ihm den Rat, er solle die Stube ausweißen lassen, vielleicht, daß sich dann die Einbildung verlöre, und an die Stelle einen Schrank oder so was setzen. Er sagte, er wolle es tun, wenn ihm Gott die Mittel wieder gäbe.

Schlafen konnte ich die Nacht nicht; immer sah ich nach dem Fleck, wo sie hingewiesen. Den Morgen, als wir aufstanden, war sie mit ihm in der Küche und hatte geholfen das Wasser zum Frühstück kochen. Die Leute mußten mit uns trinken. Wir zahlten alle mehr, als der Mann gefordert hatte, und er dankte und segnete uns. Als ich Abschied nahm, weinte er laut und sprach: »Gott geleite Sie, Jüngferchen, Ihr muß es gut gehen. Hat ein gar gutes Herz. Gott vergelte es Ihr! Ach, ich hoffe, Sie hat mir meine Frau wiedergegeben. Vier Jahre war sie wie tot, und seit gestern Abend nahm sie sich[149] der Wirtschaft wieder an.« – »Oh, ich hoffe. Hab er nur Geduld mit ihr, lieber Mann, und folge er meinem Rat!« Ich küßte die Frau. Sie drückte mir die Hand und sagte: »Vergelt es Gott!« Und so stieg ich in den Wagen, und wir fuhren fort. Den ganzen Rest der Reise war's mit meiner Munterkeit vorbei, und von Herzen wünschte ich mich an Ort und Stelle.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 143-150.
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