Braunschweig.

[165] Ich kam nach Braunschweig, und mein erstes Geschäft war, dem Major zu schreiben. Bald bekam ich Antwort. – Doch welch ein Brief! Seine Hand war es, doch kaum zu kennen, so verzogen und verzerrt. Ich erbrach und las die Worte zusammen: »Ich bin meinem Ende nahe, wollen Sie mich noch einmal sehen, so erbarmen Sie sich Ihres sterbenden Dalwig.« Ohne Sinn schlug ich zur Erde. Meine Mutter war allein bei mir, nach vieler Sorge brachte sie mich wieder zu mir selbst. »Was ist dir? Was ist vorgefallen? Unglückliches Mädchen, bringst dich und mich noch um.« – »Mutter, Mutter, mein Dalwig ist tot, ich bin seine Mörderin. Da, da, lesen Sie!« – Sie hob das Blatt auf, las und weinte, wollte mich trösten. Doch für mich war kein Trost. Sie wollte das Blatt ins Kuvert stecken, und wird gewahr, daß noch ein Blatt darin stak. »Siehe, sieh, da ist noch ein Brief.« Das Wort war Balsam. Ich las daraus, er wäre den Sonnabend[165] bis spät in die Nacht hinein geritten, in der Hoffnung, mich noch einmal zu sehen. Weil er geglaubt, wir würden mit dem Frühesten von Cassel fortgefahren sein. Da er mich aber nicht fand, hoffte er, die Reise wäre verschoben worden. Den Sonntag hätte er einen Freund sprechen müssen, und im Weggehen bekam er auf der Treppe einen Schwindel, schlug solche ganz herunter und hatte sich sehr beschädigt. Er hätte sich in einem Wagen nach seiner Wohnung bringen lassen, man wäre nach Cassel um Hilfe geeilt. Die Doktors, die mit seiner Mutter zu ihm gekommen, fanden ihn in der größten Gefahr seines Lebens. Nur mich wünschte er noch einmal zu sehen. Er hätte sein Verlangen seiner Mutter entdeckt, und in dieser Hoffnung, weil seine Mutter bei ihm gewesen, hatte er an mich die beigelegten wenigen Zeilen geschrieben. Der Bediente erhielt Order, mir das übrige mündlich zu sagen, doch da er zurückkam mit dem Brief und der Nachricht, daß ich den Morgen fort wäre, hätte dieses seinen elenden Zustand noch vermehrt. Noch wäre er sehr matt; ob er besser oder nicht würde, wäre ihm gleichviel.

Mit mir war es auch nicht viel besser. Meine starke Arbeit, der innerliche Gram machte mich zusehends abfallen. Ich fing an, Blut zu brechen, und dem ohngeachtet arbeitete ich fort, denn ich wollte mein Leiden, mein Leben enden. Der Major wurde besser, und wir wechselten noch einige Briefe. Alles, was ich von ihm so oft mündlich und schriftlich gehört hatte, wiederholte er aufs neue, – und ich blieb bei meinem festen Entschluß. Er ward böse und antwortete nicht wieder. Ich schrieb ihm noch dreimal die freundschaftlichsten Briefe, obgleich nichts von Liebe mehr, noch Vorwürfen, aber ich erhielt keine Antwort. – –

Einen Geliebten sollte ich verlieren, aber eine Freundin wiederfinden. Ich war keine zwei Tage in Braunschweig, als ich mich nach meiner Demoiselle Günther erkundigte. Ich erfuhr, daß sie ihren Bräutigam, Herrn Fleischer, der Hofbaumeister war, geheiratet hatte, und nahm Abrede, daß ich mich, weil ich ihre Wohnung nicht wußte, den ersten Tag, wenn keine Komödie war, wollte hinführen lassen. Erst den fünften Tag, als ich in Braunschweig war, wurde nicht gespielt.[166] Ich sagte am Morgen meiner lieben Mutter: »Nun, heute Nachmittag will ich gewiß mein Rikelchen aufsuchen.« Ich kleidete mich also schon besuchgemäß an und ging zu Madame Ackermann zur Leseprobe, die wir hatten. War kaum eine Stunde da, als man mir sagte, ein Bedienter wolle mich sprechen, hätte an mich einen Brief. Madame Ackermann scherzte: »Nun, das ist früh! Noch keine fünf Tage da, erst dreimal gespielt, und schon Briefe?« »Wird für mich nicht gefährlich sein.« Ich spreche mit dem Bedienten, und indem er mir den Brief reicht, kannte ich gleich die Hand meiner Friederike: Die erste Freude, die ich seit langer Zeit wieder zu fühlen imstande war. Kurz, sie war in der Komödie gewesen, erinnerte sich meiner Züge, ließ sich erkundigen und hatte erfahren, daß ich dieselbe Schulze sei, die 1755 in Braunschweig gewesen. Nun ließ sie mich auch gleich bitten, sie den Nachmittag zu besuchen.

Der Bediente holte mich ab, und ich ging nicht, ich flog nach ihrer Wohnung. Ein allerliebster Knabe von 5 Jahren stand auf der Gasse, und da er mich mit dem Bedienten sah, lief er in ein Haus und schrie: »Mama, Mama! Karlinchen, Karlinchen!« Das Rufen wies mir das Haus an, in welches ich gehen sollte. Die teuerste, beste Freundin stürzte mir schon auf der halben Treppe entgegen. Wir lagen einander um den Hals, konnten nichts sprechen; Tränen der Freude mischten sich in unsere Küsse. Oh, der seligen Empfindung! Oh, der freudigen, nie zu vergessenden Augenblicke! Ihr vortrefflicher Mann sagte nun: »Riekchen, soll ich denn meine kleine Freundin nicht auch küssen? Kenne ich sie nicht ebenso lange wie du? Da, da sehen Sie meinen kleinen August; der hat Sie uns gemeldet, und der hat noch keinen Kuß zur Belohnung von Karolinchen bekommen.« Ich nahm den Knaben auf den Arm, und so hielten wir uns alle vier lange umschlungen. Wie wir denn uns so von dem ersten Wiedersehen erholt hatten und noch mehr Besuch kam, nämlich ihre Schwägerin mit ihrem Mann, dem berühmten Musikus Fleischer, und ein Offizier, mit Namen Fredersdorf, Premierleutnant unter des Durchl. Erbprinzen von Braunschweig Regiment, sagte meine Fleischer zu mir. »Aber, Karolinchen,[167] mich so ganz vergessen zu haben!« Ich sah sie an. »Ich, Sie vergessen? Hier ist meine Antwort,« und in dem Augenblick überreichte ich ihr ihre Adresse, die sie mir vor 71/2 Jahr gegeben hatte. Da lag sie wieder an meiner Brust und weinte mit mir. Alles war bewegt. Ich versicherte sie, daß ich von Potsdam aus ihr geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Das viele Herumreisen, die weite Entfernung, der Mangel an Geld und nachher, da ich zwar hätte in Ansehung des letzteren tun können, hätte ich mich nicht mehr recht auf den Namen ihres Bräutigams besinnen können: Fleisch, Fleisch wäre mir wohl eingefallen, aber ob Fleischmann oder Fleischhart usw. hätte ich nicht gewußt. Also wollten wir nicht mehr daran gedenken, die Zeit wäre vorüber. Genug, daß ich sie nicht vergessen, bezeugte ihr die solange wie ein Heiligtum verwahrte Adresse. Daß sie mich nicht vergessen, wäre der Beweis ihres heutigen Briefes an mich. Und daß wir gewiß recht zusammen sympathisieren müßten, so hätte sie mich den selben Tag zu sich rufen lassen, da ich gewilligt war, sie aufzusuchen.

Nun war Abrede genommen, daß, so oft Komödie wäre, sie keine, ohne solche auch zu sehen, würde vorbeigehen lassen. Und die Nachmittage, wenn nicht gespielt würde, sollte ich bei ihr oder ihrer Schwägerin sein. Der Zirkel war also von uns sechsen geschlossen, ohne die Kinder mit dazuzurechnen. War auch sonst außer meiner Arbeit und einigen Aufwartungen, die ich bei Hof zu machen die Gnade hatte, für sonst niemand in Braunschweig. Alle Mühe, die auch angewandt wurde, so wollte und konnte ich sonst für niemand leben. Das Auge meiner Freundin sah tief in mein Herz. ich einmal mit ihr allein war, sprach diese gute Seele zu mir: »Kind, wenn ich Sie auf dem Theater tanzen oder eine muntere Rolle spielen sehe, so sind Sie ganz ein anderes Wesen, als bei mir und in der Gesellschaft. Da bei mir denke ich Sie mir nur als eine Sara, Lindane, Pamela; alle Ihre Munterkeit ist Zwang. Oft leide ich viel mit Ihnen, wenn ich sehe, wie viel Gewalt Sie sich antun, es nicht merken und, wenn wir fröhlich sind, entgelten zu lassen. Ich würde es für Ihr Temperament halten, aber einmal, Kind, haben Sie sich verraten,[168] daß ein innerer Gram Sie nagt. Als Sie das letzte Mal die Sara spielten, Blut spien, wo der ganze Hof und alle Ihre Freunde Todesangst um Sie ausstanden, und wie ich Ihnen einen zärtlichen Verweis gab, da man sie so schwach und elend nach Hause trug. Sie sagten: ›Gottlob, vielleicht habe ich bald alles überstanden.‹ Tanzten den zweiten Tag wieder mit zwei verbundenen Armen so entsetzlich – trotz alles Bittens und Vorstellens des Doktors und Ihrer Freunde. Das ist nicht Eifer für Ihr Brot. Das ist aus Verzweiflung, sich das Leben zu kürzen. O meine Karoline, kann ich Ihnen helfen?« »Sie nicht und kein Mensch, nur Gott, Gott allein, der mich rufen soll.« Ich fühlte wieder aufs neue, daß ich liebte, noch nicht von der tiefen Wunde, die diese Liebe meinem Herzen geschlagen, geheilt war. Ich schüttete dieses Herz ganz in den treuen Busen meiner Freundin. Sie teilte meinen Schmerz mit dem ihrigen; und ihrer zärtlichen Sorgfalt, ihren eifrigen Bemühungen hatte ich meine Ruhe zu verdanken.

Zeit, Nachdenken und der Vorsatz, nicht wieder zu lieben und der Freundschaft allein mein Herz zu weihen, brachte in mir bald meine ehemalige Munterkeit wieder her. Ist der Major dir bestimmt von Gott, sollst du mit ihm glücklich sein, so wird er der Deinige. War er aber nur ein Feind deiner Tugend, so hat Gott für dich gewacht und alles so gelenkt zu deinem Besten. Doch leugne ich nicht, sein Bild lag lange Jahre noch tief in meinem Herzen und konnte nicht ganz verdrängt werden.

Jeder Tag in Braunschweig unter meinen fünf Freunden verschwand mir kürzer, als alle meine Tage, die ich von meinem Dasein an verlebt hatte. An Kartenspiele, um die langweiligen Stunden zu verschleudern, wurde nicht gedacht; denn wir hatten immer Stoff zum Gespräch. Ich zweifle, ob noch so ein vereinigter Zirkel vor uns oder nach uns in der Welt war.

Doch auch dieses Vergnügen sollte ich mich gewöhnen, zu verlieren, im Verluste noch mehr ertragen zu lernen. Im Oktober war unsere Reise nach Hannover angesetzt. Der Abschied von meinem Riekchen und den übrigen war traurig. Wir versprachen uns, durch fleißigen Briefwechsel den Verlust[169] der Trennung erträglich zu machen, und so schieden wir auseinander.

(W.H.: H. Ackermann hatte in Braunschweig einen Akkord mit H. Nicolini geschlossen. Im Juli waren wir in Braunschweig angekommen. Die Gesellschaft bestand damals aus H. Ackermann und seiner Familie, H.u. Mad. Doebbelin, H.u. Mad. Schröter, H. Boeck und dem kranken Mylius. Noch ein junges Frauenzimmer, nachherige Mad. Courte, die aber nur tanzte, Herr Hensel nebst ein paar französischen Figuranten kamen dazu. Gute Stücke, die wenige Personen erforderten, wählte H. Ackermann, und wir arbeiteten alle, alle mit gleichem Eifer. Wir ernteten Lob und Beifall. Damals war es noch gebräuchlich, daß, wenn das Stück nicht sehr lang war, nebst dem Ballett auch ein Nachspiel gegeben wurde. Ballett war alle Abende. Und so weiß ich, daß H. Boeck oft an einem Abende zwei neue Rollen hatte. Er spielte jetzt alle Tage mit und gewiß meist immer eine oder zwei Rollen, die er nie gespielt; denn er mußte alle Rollen von Mylius übernehmen, der gar nicht mehr fortkonnte.)

Das Stück »Miß Sara Sampson« hatte sehr gefallen und mußte auf Befehl des Hofes wieder gegeben werden. Ich hatte mich schon einige Zeit nicht wohl befunden und fühlte einen Schmerz auf der Brust, hatte dabei einen fatalen Husten. In der Nacht von Montag auf Dienstag kam der Husten stärker und mit solchem ein Blutauswurf. Meine Angst, wie kann ich die schildern! Nicht um mich, das weiß Gott, nur wegen Ackermanns jammerte ich. Ach Gott, wenn ich morgen nicht spielen könnte! Das Stück von Ihrer Hoheit verlangt! Müssen froh sein, wenn wir ein Stück wiederholen können, da so wenige besetzt sind. Nach Hilfe wurde geschickt. Mir sollte eine Ader geschlagen werden. »Das geht nicht,« sagte ich, »sonst kann ich morgen nicht spielen und tanzen.« »Tanzen? Tanzen dürfen Sie gar nicht,« sagte der Medikus, »wenn Sie nur spielen können!«

Den Morgen eilte mein Bruder zu H. Ackermann und meldete den Vorfall. Herr Ackermann, sehr aufgebracht, sagte: »Das Stück muß sein und das Müllerballett« (für mich eins meiner fatigantesten Pas de deux). »Meine Schwester spielt, und wenn sie halbtot wäre, aber weiß Gott, sie kann und darf heute nicht tanzen.« Lange stritten sie, endlich drang mein Bruder durch, und es sollte ein Ballett ohne mich gegeben[170] werden. Mein Bruder kam nach Hause. Tränen hatte er im Auge und sagte: »Weiß Gott sie glauben es nicht, daß du krank bist. So habe ich mich noch nie geärgert wie heute.« »Laß es gut sein, Karl. Werden es wohl sehen.« Ich raffte mich aus dem Bette, kleidete mich an, ließ mich nach dem Theater tragen und spielte. Bei dem Schloß des vierten Aktes, wo Sara die Marwood erkennt und ich nach der heftigen Rede abeilte, stürzte mir das Blut aus dem Halse. H. Boeck, derselbe, der jetzt noch in Mannheim ist (Anm. Jetzt zur Zeit der Abschrift tot), trug mich in die Garderobe bei H. Ackermann vorbei, der seine Pfeife Tabak rauchte und jetzt sagte: »Ja, nun sehe ich's: tanzen hätte sie heute nicht können.« H. Boeck sah meine Bewegung, die ich machte, und sagte: »Um Gottes willen, ärgern Sie sich nicht! Sie kennen ihn ja, es ist Ackermann.«

Ich dachte für Angst und Schmerzen, es wäre mein Ende da. Der Blutsturz ging über. Ich schluckte meine Mixtur und nahm auf einmal, was mir zu drei Malen war verordnet worden. Ackermanns kümmerten sich um mich nicht weiter, als nur insoweit, ob ich nicht bald den 5. Akt anfinge. Dafür aber hatte Ihre Hoheit die Gnade, mir sagen zu lassen, ich möchte mich schonen, und der 5. Akt sollte lieber nicht gespielt werden. Ihre Hoheit hätte meinetwegen viele Angst das Stück hindurch gehabt, wie ich die schwere Rolle aushalten könne. Denn trotz aller der vielen weißen Schnupftücher, die ich mitgenommen, konnte ich's doch nicht so ganz verbergen, daß man es nicht hätte sehen sollen. Ich ließ Ihre Hoheit in Untertänigkeit für die hohe Gnade danken und hoffte, noch die Rolle zu enden. Ich spielte meinen 5. sterbenden Akt ohne weiße Schminke gewiß nie so natürlich. Das Stück wurde aus. Herr Doebbelin half mir auf und sagte: »Wie ist's Ihnen, arme Schulzen?« Ich: »Schlimm, sehr schlimm.« Er: »Das sieht man.« Ich: »Es ist ja doch nur Verstellung.« Er: »Ha, es ist abscheulich!«

Das war das erstemal, wo ich gegen das Theaterleben einen Widerwillen fühlte und in mir der sehnliche Wunsch rege wurde: Ach, könntest du es verlassen! Bei dem Theater ist kein Dank zu verdienen.[171]

Elend kam ich nach Hause. Und noch denselben Abend wurde mir an beiden Armen zur Ader gelassen. Dieser für mich unvergeßliche Tag war der 7. September 1763. Den Tag darauf wurde nicht gespielt, aber am 9. stak ich schon wieder im Müllersack, tanzte, ohne daß man von Direktions wegen hätte fragen lassen, ob ich auch könnte.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 165-172.
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