[212] Sonnabend und Sonntag waren die zwei einzigen Tage, da ich mir selbst leben konnte. Und mir selbst leben, hieß, nicht einen Augenblick von dem Krankenbett meiner Mutter sein. Durch den vielen Blutverlust, den sie seit Jahren gehabt, kam die Auszehrung und Wassersucht. Mit einer bewundernswürdigen Heiterkeit, der Heiterkeit einer Christin, sah sie ihr Ende nahen. Eines Tages sagte sie zu Karl und mir, es war des Mittags: »Kinder, warum weint ihr? Freut euch, daß Gott endlich mein Leiden enden will. Ich bin euch jetzt doch nur eine Last, kann nicht mehr arbeiten. Das weiß Gott, wie gern ich sterbe. Ja, wenn ihr noch kleine Kinder wäret! Wie zufrieden kann ich diese Welt verlassen! Ich laß euch gesund zurück, nicht reich, aber auch nicht arm. Ihr seid geliebt, geachtet in der Welt, habt was gelernt, um euch euer Brot zu verdienen, seid nicht lüderlich, nicht gottlos, habt keine Schulden. Glaubt, wenn ihr weint, so beneidet ihr mir mein Glück und macht mir das Herz schwer. Seid noch fröhlich[212] mit mir die wenigen Tage ich bitte euch!« Mein Bruder stand vom Tisch auf, legte seine Serviette hin und sagte zu mir: »Gib mir für jede Mahlzeit 100 Taler, ich esse nicht mehr zu Hause, das kann ich nicht aushalten.« »Oh, unsere Mama! Ich soll also allein für den Rest bleiben? Karl, tue es nicht!« »Wie du es aushalten kannst, weiß ich nicht; ich kann's nicht.« Weg war er. Nur Augenblicke ließ er sich sehen. Der Mutter war es empfindlich, und ich hatte meine ganze Beredsamkeit nötig, daß sie sein Betragen so nahm, wie sie es doch nehmen sollte. Er war zu weich.
Karoline selbst ist es aber mehr gewohnt. Sie schläft nachts in Hauskleidern auf einer Matratze am Fußboden. Ihre Schmerzen am Fuße nehmen freilich nach jedem Ballett wieder zu. An Gage bezieht man jetzt wöchentlich 18 Gulden. Der Kranken kann man also ohne Schwierigkeiten bieten, was sie braucht, auch Austern, nach denen sie sich sehnt. Am 14. morgens steht es mit der Mutter schon recht schlimm, ist ihre Geschwulst schon sehr weit. Trotzdem ermahnt sie Karoline, zur Probe zu gehen.
Wie mir war? Gott, du allein weißt es. – Hatten den Tag noch dazu ein neues Stück: »Die Waise« oder »Der bestrafte Betrüger«; ich gab die Lisette. Ein Stück und eine Rolle, das erste und die erste, wovon ich auch von allen nichts, nichts wußte, als die Namen. Wie oder wann hätte ich lernen sollen? Und wie war ich gequält! Jede Woche neue Rollen – Und wenn wir noch so ein altes Stück gegeben hätten, wäre das Haus ebenso voll geworden; denn es war die letzte Komödie, den Tag vor der Fasten. Aber Ackermanns sei's nachgesagt, die hatten für so was kein Gefühl. Noch lebten sie alle zusammen und waren gesund. Als die Komödienprobe vorbei war, zog Ekhof seine Uhr aus der Tasche, sah darauf und sagte: »Das Stück spielt zu kurz, muß noch ein Nachspiel gegeben werden.« »Warum nicht gar!« sagte ich. Ekhof: »Nur ein kurzes. Den ›Herzog Michel‹.« – »Nun, so wollte ich, daß Sie der Teufel holte! Jetzt fehlt nichts, als daß ich auch noch tanzen soll.« Ekhof, der selbst den Herzog Michel gern spielte, und wußte, daß den Abend das Haus voll sein würde, bestand darauf. In solcher Rage hatte man mich wohl noch nie gesehen. »Ha! Das geht zu weit! So ist gegen mich kein Erbarmen, kein Mitleid? Muß ich[213] heute auch noch tanzen, so – – (ich tat einen fürchterlichen Schwur), bin ich heute das letzte Mal hier auf dem Theater. Ihr kennt mich, nichts in der Welt kann und soll mich mehr halten. Meine Mutter stirbt, nun kann ich reisen. Ihretwegen litt ich manches, das zu leiden nicht meine Schuldigkeit gewesen wäre.« Schröder, der mich so noch nie sah, kam auf mich zu. »Beruhigen Sie sich, ich will ein Ballett geben, in welchem Sie nichts haben. Können ja geben, was wir wollen, da keins auf dem Zettel benannt ist.« »Gut! Aber noch eins, das Nachspiel muß gleich nach der Komödie sein.« Ekhof: »Sie werden nicht fertig!« »Oh, darum bekümmern Sie sich nicht! Wer frägt sonst, ob ich fertig werden kann. Muß wohl immer fertig sein.« Nun ging ich nach Hause.
Vom Arzt bekommt sie wenig tröstlichen Bescheid; sie sinkt auf ihre Knie und weint. Nachdem sie sich aufgerafft, tritt sie an das Bett und empfängt von der Kranken Weisungen über das Begräbnis, bei dem aller Pomp vermieden werden soll. Vor ihrem Weggehen zur Theatervorstellung trägt sie ihrem Hauswirt auf, in ihrer Abwesenheit bei der Mutter zu sein. Eine etwaige Todesnachricht soll man ihr nicht ins Theater bringen und sie ihr, wenn sie nach Hause kommt, behutsam beibringen.
Die Stunde vier rief mich zu meiner Arbeit; gesprochen hatte ich nichts den Nachmittag. Nun trat ich an ihr Bett, küßte ihr Hand, Mund und Stirn und ging fort in mein lustiges Elend. Was ich gespielt, weiß ich nicht mehr. Das weiß ich, daß ich kein ander Wort sagte, als was ich aus dem Souffleurloch hörte. Staken ein paar die Köpfe zusammen und sahen mich dazu an, ach, so dachte ich, mein Hauswirt hätte nicht Wort gehalten und die Nachricht von ihrem Tode wäre bereits da. Ich spielte mein Hannchen im Nachspiel gewiß nur mechanisch. Denn, laß Kunst und Zwang alles anstrengen, ich war Mensch. Endlich war ich fertig, und wie ich fortging an meinem Stocke, war das Ballett bereits angegangen. Karl sprang herum, und die Tränen flockerten ihm über die Backen. Ein erbärmlich Tanzen und Lustigseinsollen! Je näher ich meiner Wohnung kam, je mehr nahm meine Angst zu. Zitternd und schwankend stieg ich die Treppe hinauf. Sachte klopfte ich an. Mein Wirt kommt und macht mir auf. Ich sehe[214] ihn an und rufe laut: »Sie lebt – ja, sie lebt noch, ich seh's an seinem Gesicht.« »Ja, sie lebt auch,« antwortete er mir. Nun war alles vergessen, all mein Leiden. Oh, wie kann ich sagen, wie mir war? Als wenn sie mir von neuem wäre geschenkt worden. Ich warf meinen Pelz von mir, um nicht so viele Kälte ins Zimmer zu bringen, und eilte zu ihrem Bett, küßte sie mit Tränen der Freude. »Bist du da, liebe Line? Oh, das ist gut! Gelt, nun bleibst du auch bei mir?« »Ja, liebste Mama! Nun komme ich keinen Augenblick mehr von Ihnen.«
Es folgen nun alle Einzelheiten aus den letzten Stunden der Mutter: ihre Verfügung über die 9 Gulden, die sie sich einzeln mit gelegentlicher Aushilfe beim Theater verdient hat (die Kinder sollen sich silberne Löffel zum Andenken davon machen lassen), Gebete, der Besuch der Geistlichen, der das Abendmahl reicht, Aeußerungen der innigsten Kirchengläubigkeit, Kummer der Sterbenden über die Abwesenheit Karls, sein endliches Erscheinen, Jammer und Ungestüm, Segnung der Tochter und das schließliche Erlöschen des schwachen Lebensfunkens, viel Beklemmendes und Herzzerreißendes.
Die Uhr war vier am Sonntagmorgen, den 16. Februar, da ich überzeugt war: nun ist sie bei ihrem Jesu. Karln wollte ich noch nicht rufen und erst den Tag vollends erwarten. Etwas nach 6 Uhr löschte ich das Licht und zog die Vorhänge von den Fenstern weg. Herr Kummerfeld zog auch seine Vorhänge auf, und wir sahen einander. Ich machte still mein Fenster auf und winkte ihm. Er öffnete das seinige, und nun sagte ich ihm, daß meine Mutter gestorben wäre. Der Mann hatte täglich geschickt und sich nach ihrem Befinden erkundigen lassen, mir Zitronen zugeschickt und, wenn er Freunde hatte und sich unter seinen Schüsseln ein Krankenessen mit befand, solches für meine Mutter mitgeschickt. Wer aus diesen Blättern nachgerade meinen Charakter hat kennen lernen, kann leicht den Schluß machen, wie verehrungswürdig mir der Mann geworden: der erste und einzige, der für mich in Hamburg den Namen Mensch hatte. Wie ich ihm den Tod angekündigt hatte, antwortete er zwar nichts, aber in seinem Gesicht stand alles. Ich machte mein Fenster zu, blieb aber stehen, um ihn zu beobachten. Denn ich beobachtete von jeher die Menschen dann am liebsten, wenn sie nicht dachten,[215] beobachtet zu werden. Und wer das nicht tut, kann auch nicht sagen, er habe Menschen gesehen. Auch er machte sein Fenster zu, nahm sein Schnupftuch aus seinem Schlafrockärmel, setzte sich ans Fenster nieder und verhüllte, auf den Arm sich stützend, sein Gesicht.
Als Karl geweckt wird und das Geschehene erfährt, gibt es noch einen furchtbaren Sturm der Aufregung. Die Vorbereitungen zur Beerdigung übernimmt ein katholischer Schuhmacher. Doch braucht der Kirchhof nicht katholisch zu sein; denn jede Erde ist Erde des Herrn. Ersparnisse Karolinens im Betrage von 57 Gulden machen die Annahme einer Beihilfe zu den Kosten von Ackermanns unnötig. Diese haben zuerst durch die Souffleuse Klara kondolieren lassen.
Mad. Ackermann kam auch den Abend selbst und bezeugte mir ihr Beileid. Sie zog mich an die Seite und sagte: »Kind, seien Sie aufrichtig! Brauchen Sie Geld, so sagen Sie es mir! Ich dachte, Sie wollten es der Klara nicht gestehen. Es würde mich kränken, wenn Sie von Fremden borgten. Solche Fälle kosten Geld.« Nochmals versicherte ich ihr meinen aufrichtigen Dank für ihre gütige Vorsorge, versicherte sie aber zugleich, daß ich Geld hätte und hinlänglich, hoffte ich. »Hannover und Bremen haben mich in den Stand gesetzt, und die 24 Dukaten hoffe ich nicht anrühren zu dürfen. Von dem Gelde kommt nichts dazu. Meine Mutter ist mir zu lieb.« »Sind doch immer ein närrisches Mädchen! Doch ist's mir lieb, daß Sie in der Verfassung sind.« – –
Dienstag, den 18., des Abends 7 Uhr, wurde sie nach hamburgischem Gebrauch mit 14 brennenden Laternen, ohne weiteres Gefolge, fortgetragen. Wie gerne wären wir mitgegangen, aber wir durften nicht, ist ja dort so der Gebrauch. Niemand war weiter bei uns den Abend, wie die Mamsell Klara von Ackermanns und H. Steinfeld, ein Bekannter von meinem Bruder, und ein gutes Mädchen, die in demselben Hause mit mir wohnte und mir bei der Trauerarbeit Dienste leistete. Nun kam mein alter Schuhmacher im langen Trauermantel mit weißglasurten Handschuhen in die Stube und berichtete, daß sie glücklich zur Erde gekommen, wünschte, uns auch bei freudigeren Vorfällen dienen zu können. Und wie er mit seiner Rede fertig war, hub er an: »Ja, Herr[216] Schulze und Mamsell! Ich habe rechte Angst ausgestanden.« »Ja, wir auch! Denn wir dachten, ihr würdet bei dem elenden Gehen auf den Straßen durch euer Hin- und Herschwanken den Sarg von der Bahre werfen.« »Nein, das nicht, das ist der Stand und muß so getragen werden, die Träger verstehen das schon. Aber hören Sie nur! Um Ihnen die großen Kosten zu ersparen – denn hat es doch nicht Geld genug gekostet? –, gab ich die Mama für lutherisch aus, sonst wäre sie nicht auf den Kirchhof gekommen, und Sie hätten sie müssen nach Altona fahren lassen. Nun war unter allen Trägern und Laternenträgern kein einziger Lutheraner. Also begegneten uns verschiedene, die bei den Lutheranern die Laternen tragen, und die wollten mit uns Händel anfangen und sagten: ›Das ist eine katholische Leiche.‹ Wir stritten es ihnen aber ab, und der Totengräber wußte nicht, sollte er sie einsenken oder nicht. Ich drückte ihm aber geschwind noch eine Mark in die Hand, und nun sagte er: ›Was wollt ihr? Ist eine lutherische Frau.‹ Und damit war's gut.« Mir bebten alle Knochen bei dem Gespräch. »Aber, Meister ist er toll? Wenn sie mir die Mutter wieder ausgrüben! Nun, das fehlte mir noch in Hamburg. Wie kann ich ihn schützen? Ich weiß von nichts und übergab ihm ja alles.« »Sorgen Sie nicht; aber ich tat's aus Liebe zu Ihnen.« »Seine Liebe kann mir aber noch teuer zu stehen kommen.« Nun gab ich ihm die Mark wieder und zahlte ihm für seine Bemühungen, und er ging froher fort, als Karl und wir waren.
Wir wurden nach und nach heiterer, sagten oft: wenn das Mama noch gewußt hätte! Und wie mich denn in allen Begebenheiten meines Lebens mein munteres Temperament nicht ganz verließ und ich immer alles sehen mußte, so sagte ich zu Karl, wie wir wieder ganz allein waren: »Karl, du weißt, Mama war so schön von Wuchs. Und nie müssen bei einem Leichenbegängnis so viele schiefe und bucklichte Leute beisammen gewesen sein wie heute. Des Schusters Tochter, ihre Mutter und die andere Trauerfrau, die bei dem Sarg waren den Nachmittag, die drei, die zum Besuch bei uns waren, und die Hälfte der Laternenträger, doch alle[217] schief und bucklicht!« »Hast wirklich recht!« und wir mußten lächeln. Von seinem und meinem Bette, das ich geborgt hatte, hatten wir uns des Abends eine Streu auf dem Fußboden in meinem Zimmer gemacht, und da schliefen wir zusammen.
Verschiedene Abende ist man nun bei Herrn Kummerfeld, einem Mann, aufrichtig, ohne Umstände, recht vergnügt. Mit lebhaftem Briefwechsel verschafft sich Karoline einige Ablenkung. Die Geschwister machen auch eine Wagentour nach Nienstedten, bei der freilich der Hund Allegro auf traurige Weise ums Leben kommt. So erscheinen wieder allerlei Widerwärtigkeiten. Herr Kummerfeld will nachträglich noch seinen Beitrag zu dem Präsent leisten, tut es aber auf wenig taktvolle Weise und wird zurückgewiesen. Sie möchte jene verwünschten 24 Dukaten um jeden Preis los sein. Karl würde sie am liebsten auf Dreyers Kaffeehaus in die Stube werfen, eben nicht mit dem höflichsten Kompliment. Der Schauspieler Boeck findet, es sei von Ackermann schlecht gewesen, ihr damals zur Annahme des Geschenks zu raten; denn in einer Gesellschaft beim Münzmeister Knorr habe man ihn bestürmt, das Gegenteil zu tun, weil die Sache von Derslin, der ein Spieler sei, ausgegangen wäre. Man wolle ihr's doppelt und dreifach ersetzen. Sie beschließt, Ackermann derb die Wahrheit zu sagen. (Er hatte ihr übrigens nach dem Fall auf dem Theater wieder 2 Gulden zugelegt.)
Sagte es ihm auch. Ja, was antwortete er? »Schulzen, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, die, die den meisten Lärm gemacht, waren bange um die paar Dukaten, die sie haben schandenhalber hergeben sollen, verspielen sie lieber am L'hombretisch und verführten durch ihr Gewäsche andere, die nicht wußten, was recht oder nicht recht ist, daß die nichts gaben. Bei dem Theater muß man sich niemand zum Feind machen. Und wenn Sie 50 Jahre hier spielten, keiner hätte Ihnen was zugeschickt. Nun haben sie gut reden und die beste Entschuldigung. Wenn ich nicht alle die Leute kennte, die zusammen in Knorrs Hause waren, daß keiner Ihnen einen Schilling an Wert zugeschickt, würde ich der erste gewesen sein, der Ihnen gesagt: Nehmen Sie nichts. Großprahlerei war's. Und da ich weiß, daß Sie's verdienen, wär's mir leid gewesen, wenn Sie gar nichts bekommen hätten.« Nun, alles Geschwätz an die Seite gesetzt, so denke ich immer: Ackermann hatte doch recht. Derslin war ja ein Fremder. Der bracht's aufs Tapet, und das war genug.
Buchempfehlung
1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.
84 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro