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[157] 1832–1838
Im Herbste 1832 machte mich mein Bruder Wilhelm in Braunschweig brieflich darauf aufmerksam, daß im November d.J. die goldene Hochzeit unsrer Eltern sei, und schlug mir vor, daß sämtliche Kinder in Gandersheim zusammenkommen, den Eltern gratulieren und sie mit einer Spieluhr beschenken wollten. Daß es die Eltern doppelt erfreuen würde, wenn ich damit auch eine musikalische Feier verbände, konnte ich mir leicht denken, und ich veranlaßte daher Wilhelm Wolff, den Bruder meines Schwiegersohnes, mir ein Gedicht zu machen, bei dessen Aufführung meine Frau und ich mit Piano und Geige das Orchester vorstellen wollten, meine drei Töchter die Solostellen und meine Brüder mit ihren Frauen sowie meine Schwiegersöhne den Chor singen sollten. Ich machte mich denn, sobald ich nach meiner Angabe den Text erhalten hatte, sogleich an die Arbeit, schrieb eine heitere Polonaise (bei deren Vorspiel ich meiner Frau und mir sogar Gelegenheit gab, unsere Virtuosität auf unsern Instrumenten zu entwickeln), ließ dieser einen allgemeinen Chor folgen, an welchen sich dann die drei Soli meiner Töchter, die sich zum Schlusse dreistimmig vereinten, anreiheten, und fügte endlich noch einen allgemeinen Schlußchor hinzu. Während ich mit Frau und Kindern die Festkantate einstudierte, schickte ich auch den Brüdern zu gleichem Zwecke ihre Chorstimmen zu, und wir kamen dann einige Tage vor dem Fest, welches am 26. November stattfand, in Gandersheim zusammen. Da uns die Eltern nicht alle logieren konnten, so mietete ich für mich und meine zahlreiche Begleitung sämtliche Räume eines Wirtshauses und beratschlagte dann mit meinen Brüdern und Schwiegersöhnen, wie wir am besten und glänzendsten die Feier begehen[158] könnten. Wolff schlug vor, vor allem den schönsten Saal der Stadt zu mieten, ihn mit Festons von Tannenzweigen, Immergrün und gemachten Blumen zu schmücken, dort unsre Geschenke aufzustellen und vor den Eltern und befreundeten Familien unsre Kantate aufzuführen. Nach dem Saal war nicht lange zu suchen, denn es gab nur einen am Orte, der überdies für alle die eingeladenen Freunde kaum groß genug war. Das Nötige zur Ausschmückung desselben ließen wir nun in großer Menge aus dem Walde herbeischaffen und waren dann sämtlich mehrere Tage lang mit dem Winden der Festons und dem Verfertigen der Papierblumen sowie mit Zeichnen und Malen von Transparenten beschäftigt. Wenn wir dann alle dieser Arbeit müde waren, begann ich die Proben zur Kantate und mußte den Fleiß der Frauen bewundern, die ihren meist total unmusikalischen, aber mit guten Stimmen begabten Männern die Tenor- und Baßpartie der Chöre doch so gut einstudiert hatten, daß es sich wie Musik anhören ließ. So verging die Zeit bis zum Feste sehr schnell, und wir hatten dann die Freude, die Eltern von unsrer Feier tief ergriffen und unsre Geschenke von den Gandersheimer Freunden sehr bewundert zu sehen. Es bestanden diese aus einer Spieluhr, welche besonders angestaunt wurde, in einem bequemen und sehr schön von den Braunschweiger Schwiegertöchtern gestickten Lehnstuhle für den Vater und in zahlreichen von den Kasseler Frauen angefertigten Arbeiten für die Mutter. Das Festmahl, welches zum Teil aus dem elterlichen Hause, zum Teil aus einer Restauration herbeigeschafft wurde, war sehr reich, und die von uns Brüdern mitgebrachten Getränke fanden ebenfalls großen Beifall, so daß das Spohrsche Jubelfest sehr zufriedenstellend ablief und in Gandersheim noch lange davon die Rede war. Erfreulich war dabei die allgemeine Teilnahme der Stadt und der Umgegend, welche sich unter anderm auch darin äußerte, daß meiner Mutter für die zahlreichen Gäste als Beisteuer für deren Unterhalt das Haus voll Viktualien geschickt wurde, z.B. Wildpret, Würste, Mehl, Eier, Früchte und Kuchen. Das ganze Fest hatte dadurch einen echt patriarchalischen Charakter; ein jeder strebte darnach, sich dem alten, würdigen Paare freundlich und erkenntlich zu zeigen und den Mann zu ehren, der ihnen seit einer langen Reihe von Jahren als Arzt mit Rat und Hilfe beigestanden und die Not der Armen, wo er konnte, stets gelindert hatte.
Nach meiner Rückkehr erhielt ich vom Kurprinzen den Befehl, anstatt der seit dem Frühjahre bereits eingestellten Theatervorstellungen während des Winters eine Reihe von Konzerten zu veranstalten, die allwöchentlich am Sonntag zum Vorteil der Theaterkasse stattfinden, und[159] in welchen die zurückgebliebenen Sänger beschäftigt werden sollten. Das Publikum aber, aufgebracht darüber, daß die Konzerteinnahmen nicht, wie bisher, in die Unterstützungskasse für die Witwen der Orchestermitglieder fließen sollten, traf die Verabredung, gar nicht darauf zu subskribieren, und so war die Einnahme fast null. Nur wenige Konzerte, z.B. das, in welchem »Die Weihe der Töne« zuerst gegeben wurde, waren zahlreich besucht; in den andern aber sah es wüst und leer aus. Indessen mochte dem Kurprinzen sowie der Gräfin Schaumburg der Winter ohne Theater sehr langweilig vergangen sein; denn gegen das Frühjahr hin bekam ich den Auftrag, mich nach Meiningen zu begeben und eine daselbst befindliche herumziehende Schauspielergesellschaft unter der Direktion von Bethmann aus Berlin für die Monate März, April und Mai zu engagieren. Da ich den Wunsch äußerte, meine Frau mitzunehmen, so befahl der Kurprinz dem Oberstallmeister von der Malsburg, mir einen bequemen Hofwagen aus dem Marstall zu geben, und wir reisten darin mit Extrapost nach Meiningen ab. Es gab aber außer den Unterhandlungen mit Bethmann noch andre Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Dieser hatte nämlich bis über den Sommer hinaus Engagement beim Meininger Hof, und der Herzog mußte für eine frühere Entlassung der Gesellschaft gestimmt werden, wozu mir aber die Herzogin, obgleich sie mit ihrem Bruder wegen der Zwistigkeiten mit der Mutter damals nicht gut stand, dennoch verhalf. Bald nach meiner Rückkehr traf denn auch Bethmann mit seiner Gesellschaft ein und gab zur Eröffnung des neuen Theaters den »Freischütz« mit vielem Beifall; besonders gefiel Fräulein Meiselbach als Agathe sehr. Der bisherige Theaterdirektor Feige und ich wurden dann als Aufsichtsbehörde über Herrn Bethmann bestellt und demselben die drei noch in Engagement befindlichen Sänger, das Orchester sowie das ganze Maler- und Theaterarbeiterpersonal, die reiche Garderobe und die Dekorationen usw. zur Verfügung überwiesen. Wir entwarfen von nun an das Repertoire gemeinschaftlich, Feige und Bethmann für das Schauspiel und ich für die Oper, und waren bald imstande, alle frühern, auf unserm Theater gegebenen Opern wieder zu besetzen.
Im Juni desselben Jahres war wieder ein großes Musikfest in Halberstadt, welches von dem Prediger Augustin und dessen Sohn als sechstes Elbmusikfest unternommen worden, und zu dessen Direktion Friedrich Schneider und ich eingeladen wurden. Es zeichnete sich von den frühern hauptsächlich dadurch aus, daß zu Bewirtung und geselligem Zusammensein der Fremden, sowohl der Zuhörer als auch der[160] mitwirkenden Künstler, ein kolossales Zelt, oder vielmehr eine Bretterbude auf dem Domplatz errichtet war, in welcher sich alle Fremden zu jeder Stunde des Tages versammeln konnten. Die Musikaufführungen fanden an drei Tagen statt und begannen mit Händels Oratorium »Samson« unter Schneiders Direktion. Am folgenden Morgen wurden die Sehenswürdigkeiten Halberstadts, insbesondere die Gemäldesammlung des Domherrn von Spiegel und Dr. Lucanus, in Augenschein genommen. Abends sollte ein Konzert im Schauspielhause stattfinden, da aber das Lokal nicht ausreichte, um die zahlreichen Zuhörer alle aufzunehmen, so veranstaltete man zu gleicher Zeit ein zweites Konzert im Saale des »Goldenen Engel«, und die Vorträge der fremden Virtuosen und Sänger wurden an beiden Orten gleichmäßig verteilt. Die ausgegebenen Billetts waren auch zu den Proben gültig, weshalb jeder das eine Konzert in der Probe, das andere aber am Abend der Aufführung hören konnte, wobei nur ein einziges Musikstück in beiden Konzerten gegeben wurde, nämlich das beliebte Duett aus »Jessonda« zwischen Amazili und Nadori, gesungen von Madame Schmidt und Herrn Mantius, weil kein Teil sich dieses wollte nehmen lassen. Ich dirigierte im Saal und spielte mit dem Konzertmeister Müller aus Braunschweig meine neueste Concertante in H-moll. Im Konzerte des dritten Tages wurden unter meiner Direktion die Symphonien in C-dur von Mozart und in C-moll von Beethoven, das Vaterunser von mir und ein Tedeum von Schneider gegeben, und ich hatte die Freude zu bemerken, daß auch bei diesem Musikfeste meine drei Kompositionen den ungeteiltesten Beifall fanden. Mittags beschloß ein brillantes Festessen in dem großen Zelte, bei dem es sehr tumultuarisch herging, das großartige Fest.
Den Rest der Ferienzeit mußten wir zu einer Reise nach Marienbad in Böhmen verwenden, wo meine Frau, die fortwährend an den Nerven litt, sich durch Trinken und Baden sowie durch den Genuß der Gebirgsluft womöglich stärken sollte. Wir trafen unter den Badegästen auch Raupach aus Berlin; und ich machte mit ihm weite Spaziergänge, bei welchen er mir vielerlei von seinen bevorstehenden Theaterarbeiten erzählte. Er war damals ganz erfüllt von einem neuen Schauspiele, welches er gleich nach der Rückkehr in die Heimat schreiben wollte, in dem er die Mucker und Frömmler zu geißeln beabsichtigte, und dessen Szene er nach China verlegen wollte. Die Arbeit ist aber wahrscheinlich nicht fertig geworden, oder die Berliner Mucker haben Gelegenheit gefunden, die Aufführung zu hintertreiben; denn es ist meines Wissens kein derartiges Stück von Raupach öffentlich bekannt geworden. Die Musikgesellschaft[161] in Marienbad, deren Direktor ein Leinweber aus der Umgegend war, hatte mich mit der sehr gelungenen Ausführung der Cherubinischen Ouvertüre zur »Medea« bei dem mir gebrachten Empfangsständchen erfreuet und überrascht, weshalb ich mich nun um so leichter bereden ließ, für sie einen Walzer à la Strauß zu schreiben, da ich hierzu bei meiner Neigung, mich in allen Kunstgattungen zu versuchen, schon längst Lust gehabt hatte. Anfangs, als ich ihn dem dortigen Orchester eingeübt hatte, gefiel mir der Walzer auch ganz gut; später habe ich aber doch an ihm die Frische und Originalität vermißt, welche die meisten Walzer von Strauß und Lanner auszeichnen. Er ist demohnerachtet auf den Wunsch meines Verlegers Haslinger in Wien als Op. 89 nicht nur in der ursprünglichen Gestalt als Instrumentalstück, sondern auch im Arrangement zu zwei und vier Händen von ihm veröffentlicht worden. Nach Kassel zurückgekehrt, schrieb ich zunächst sechs vierstimmige Gesänge für Männerstimmen, die in Hamburg bei Schuberth als Op. 90 erschienen, und mein viertes Quintett in A-moll, das ich im Februar des folgenden Jahres beendigte (Op. 91 bei Simrock in Bonn).
Im Frühjahr 1834, am 5. April, überraschten mich meine Kinder und Freunde mit einer außergewöhnlichen Feier meines fünfzigsten Geburtstages. Ich hatte für den Abend gerade eine Oper angesetzt und konnte gar nicht begreifen, weshalb diese von Seiten der Intendanz plötzlich aufbestellt wurde, was natürlich von den Meinigen hinter meinem Rücken erbeten war. Meine Frau und ich folgten nun an dem frei gewordenen Abend einer Einladung zu meinem Schwiegersohn Zahn und waren beide nicht wenig erstaunt, hier in den festlich geschmückten und mit meiner bekränzten Büste sowie mit sinnreichen Transparenten, Kandelabern und Blumen gezierten Räumen eine glänzende Gesellschaft versammelt zu finden, die den Tag mit Musik (eine Kantate von Hauptmann), Anreden etc. feierlich begehen wollten.
Es war dies leider die letzte Festlichkeit dieser Art, welche meine gute Frau erlebte. Der Aufenthalt in Marienbad hatte ihr nicht dauernd geholfen, und da ihr leidender Zustand schon mit dem Beginn des Winters zurückgekehrt war, so mußte sie in der nächsten Ferienzeit die Kur wiederholen. Diesmal trafen wir daselbst die Gebrüder Bohrer, und nachdem ich die frühere Bekanntschaft mit diesen geschickten Künstlern erneuert hatte, machten wir häufig Quartettpartien zusammen, wozu wir auch den alten Leinweber, in welchem wir einen guten Violinspieler kennenlernten, heranzogen. Diese Musikpartien erheiterten auch meine Frau, die ihre Kur mit so gutem Erfolge gebrauchte, daß wir die Rückreise[162] nach Kassel in der besten Hoffnung antreten konnten. Bald nachher verschlimmerte sich aber ihr Zustand aufs neue, und ich fühlte mich nun wenig aufgelegt, an die Fortsetzung meines im April begonnenen neuen Oratoriums zu gehen. Schon im vorigen Jahre hatte mir nämlich Hofrat Rochlitz bei unsrer Durchreise in Leipzig ein von ihm verfaßtes Passionsoratorium: »Des Heilands letzte Stunden« zur Komposition angetragen. Obgleich dasselbe schon einmal unter dem Titel: »Das Ende des Gerechten« von Schicht komponiert worden war, so nahm ich es doch mit Freuden an, da er mir versicherte, die frühere Komposition sei zwar mit Beifall, aber ohne genügende Wirkung zu machen, aufgeführt; er habe deshalb den Text noch einmal umgearbeitet und halte ihn nun dem Zwecke entsprechender. Nachdem ich indessen erfahren, daß er diesen neuen Text auch Mendelssohn zur Komposition vorgeschlagen habe, so fragte ich, bevor ich die Arbeit begann, bei diesem schriftlich an, ob er das Oratorium zu komponieren gedenke? Da die Antwort verneinend ausfiel und Mendelssohn mir schrieb, daß er sich selbst einen Text aus Bibelstellen zusammensetzen werde, so begann ich im Frühjahre 1834 meine Arbeit, die später durch die Badereise unterbrochen wurde. Als ich indessen bemerkte, daß meine Frau trotz ihres leidenden Zustandes sich doch ebenso lebhaft für meine jetzige Arbeit interessierte als für die früheren, so vergaß ich bald alles über die Begeisterung, mit welcher ich mich derselben hingab. Empfing mich auch Dorette beim Nachhausekommen aus den Theaterproben stets mit kummervoller Miene und ängstlichen Andeutungen wegen ihrer Gesundheit, so zeigte sie doch auch wieder so große Teilnahme an dem Fortschreiten meiner Arbeit und hörte mit so lebhaftem Interesse zu, wenn ich das, was fertig war, im Cäcilienvereine probieren ließ, daß ich immer wieder mit neuem Mut an die Fortsetzung des Werkes ging. Häufig unterbrach sie mich wohl mit der melancholischen Frage: »Was soll aus unsrer Therese werden, wenn ich meinem Zustand erliege?« – denn die Sorge um Therese war in jener Zeit ihre fixe Idee geworden –, und wenn ich ihr darauf antwortete: »Eine glückliche Frau, wie es unsere andern Kinder auch geworden sind«, dann flog ein heiteres Lächeln über ihr Gesicht, denn sie mochte wohl auch bemerkt haben, daß sich trotz Thereses Jugend schon manche Bewerber um ihre Gunst bemühten, und daß auch von ihr namentlich ein Mitglied unsres Cäcilienvereines nicht ungern gesehen wurde. So kam ich mit meinem Oratorium bis zum Schlusse des ersten Teils, und meine Frau erlebte noch die Freude, zu sehen, mit welcher Teilnahme und Begeisterung es vom Cäcilienvereine gesungen wurde; dann nahmen aber ihre Kräfte schnell[163] ab, und sie wurde bettlägerig. Als ich das bedenkliche Gesicht unsres Arztes und Hausfreundes Dr. Bauer sah, zog ich auch noch den berühmtesten Arzt unsrer Stadt, den Geheime Hofrat Dr. Harnier, hinzu. Doch auch er schüttelte den Kopf und konnte wenig Hoffnung zur Rettung geben. Da sich meine Töchter Emilie und Therese der Pflege der Mutter mit großer Sorgfalt unterzogen, so konnte ich auf Dorettens Wunsch, da sie sich für die Vollendung des Oratoriums lebhaft interessierte, während des Tages fortarbeiten, mußte des Nachts aber abwechselnd mit Emilien bei ihr wachen. Doch war ich kaum bis zur dritten Nummer des zweiten Teils gekommen, so ging es, da sich ihre Krankheit zu einem Nervenfieber gestaltet hatte, mit ihr zu Ende, und heute noch gedenke ich mit tiefer Wehmut des Momentes, wo ich ihrer Stirn den letzten Kuß aufdrückte!
Mein Schwiegersohn Wolff übernahm alle die traurigen Besorgungen der Bestattung, wozu ich mich in meiner Verzweiflung außerstande fühlte, und so konnte ich mit meiner jüngsten Tochter, die sich über den Tod ihrer Mutter gar nicht zu fassen wußte und schon den letzten Tag zuvor bei ihrer ebenfalls kranken Schwester Ida zugebracht hatte, die Stadt auf acht Tage verlassen. Ich mietete mich im Gasthause zu Wilhelmshöhe ein, und wir versuchten durch langes und ermüdendes Umherlaufen in den benachbarten, winterlichen Wäldern die nötige Fassung wiederzugewinnen. Als wir dann aber nach der Stadt zurückkehren mußten, fühlten wir die Vereinsamung unsres Hauses nur um so tiefer. Ich konnte mich daher lange nicht entschließen, in der Partitur, wo ich den Todestag meiner geliebten Frau, den 20. November, bezeichnet hatte, fortzufahren, bis ich das Werk endlich am Ende des Winters, als die Arbeitslust wieder erwacht war, vollendete und dann auch eine vollständige Aufführung desselben am Karfreitage (1835) veranstaltete. Der Gedanke, daß meine Frau die Vollendung und Aufführung des Oratoriums nicht mehr erlebt hatte, ließ mich keine rechte Freude über diese gelungenste meiner Arbeiten empfinden, und ich bin erst bei spätern Aufführungen zum vollen Bewußtsein ihrer Wirkung gelangt. Eine Wiederholung des Oratoriums konnte schon in demselben Sommer am ersten Pfingsttage stattfinden, den uns der Kurprinz ungewöhnlicherweise für ein Konzert in der Kirche bewilligt hatte. Die bald darauf eintretenden Theaterferien mußte ich auf den Rat meines Arztes zu dem Besuche eines Seebades benutzen, und ich wählte dazu ein neuangelegtes, noch wenig besuchtes Bad, Zandvoort, eine Stunde von Haarlem. Außer Theresen sollte diesmal auch meine Schwägerin, Minchen Scheidler, die wir schon eine Reihe von Jahren[164] seit dem Tode meiner Schwiegermutter bei uns hatten, und die während unsrer frühern Reisen gewöhnlich ihren Bruder, den Professor Karl Scheidler in Jena, zu besuchen pflegte, die Reise mitmachen, und beide freuten sich unaussprechlich darauf. Wir fuhren den Rhein hinunter über Düsseldorf, wo ich einige Tage zu bleiben beabsichtigte, weil Mendelssohn, der die Stelle als Musikdirektor bei dem von Immermann neu errichteten Theater angenommen hatte, jetzt dort wohnte. Frau Regierungsrat von Sybel, bei welcher ich damals während des Musikfestes logiert, hatte von unserm Plan, in Düsseldorf zu verweilen, gehört und bat mich, mein Absteigequartier wieder in ihrem Hause zu nehmen, was ich um so lieber annahm, als ich hörte, Immermann gehöre zu ihren Hausfreunden und bringe dort gewöhnlich seine Abende zu.
Die Geige begleitete mich sowie auch meine letzten Arbeiten, darunter ein zweites, kurz vorher beendetes Concertino (E-dur, Op. 92, bei Breitkopf und Härtel in Leipzig), auch auf dieser Reise. Zuerst kamen wir nach Frankfurt, verweilten dort bei Speyer nur einen Tag und setzten dann von Biebrich ab die Reise auf dem Dampfboote weiter fort. In Düsseldorf wurden wir im Hause der Frau von Sybel sehr freundlich empfangen und hatten schon am ersten Abend die Freude, Immermann dort kennen zu lernen, der zum besondern Vergnügen meiner Schwägerin sein liebenswürdiges »Tulifäntchen« vorlas. Über Mendelssohn, den ich dort vermißte, erfuhr ich, daß er zwar auch zu den Hausfreunden gehöre, aber an den Abenden, wo Immermann dort sei, niemals erscheine, weil er sich mit ihm, der das ganze Gewicht seiner Tätigkeit nur dem Schauspiele zuwende, über die Oper entzweiet habe. Am andern Morgen, wo ich Mendelssohn besuchte und seine Schwester bei ihm traf, spielte er mir die ersten Nummern seines Oratoriums »Paulus« vor, woran mir nur das nicht recht gefallen wollte, daß sie zu sehr dem Händelschen Stile nachgebildet waren. Desto mehr schien ihm und seiner Schwester mein Concertino in E-dur zu gefallen, in dem ein eigentümliches langes Staccato in einem Striche als Novität vorkam, das er bei andern Geigern noch nicht gehört hatte. Als er mir nun dasselbe auf sehr gewandte Weise aus der Partitur akkompagnierte, konnte er dieses Staccato nicht oft genug hören und bat mich immer von neuem, dabei wieder anzufangen, indem er zu seiner Schwester sagte: »Sieh, das ist das berühmte Spohrsche Staccato, welches ihm kein andrer Geiger nachmacht!« Als ich von da zu Immermann ging, proponierte mir dieser einen Besuch bei Grabbe, der sich damals auf Immermanns Einladung in Düsseldorf aufhielt, und so[165] lernte ich diesen Sonderling noch an demselben Morgen kennen. Als wir bei ihm eintraten, und der kleine Mensch mich Koloß zu Gesicht bekam, zog er sich schüchtern in eine Ecke seines Zimmers zurück, und die ersten Worte, die er zu mir sprach, waren: »Es wäre Ihnen ein leichtes, mich da zum Fenster hinauszuwerfen.« Ich antwortete: »Ja, ich könnte es wohl, aber darum bin ich nicht hierher gekommen.« Erst nach dieser komischen Szene stellte mich nun Immermann dem närrischen, aber interessanten Menschen vor. Wir verlebten abwechselnd in Mendelssohns und Immermanns Gesellschaft angenehme Tage im Hause unsrer freundlichen Wirte und setzten dann die Reise auf dem holländischen Dampfboot über Kleve, wo ich meinen alten Freund Thomae auf einige Tage besuchen wollte, weiter fort. Wir fanden ihn ebenfalls als Witwer, denn auch er hatte vor kurzem seine Frau verloren. Der Nußbaum in seinem Hofe, zu dem wir im Jahr 1817 bei unserm Familienbesuche die Nuß so feierlich gelegt hatten, grünte und blühete aber noch aufs schönste. Thomaes Kinder, die nun sämtlich erwachsen waren, und von denen der älteste Sohn als Notar in des Vaters Stelle getreten war, befanden sich ebenfalls kräftig und gesund; er selbst schien aber verstimmt und kränklich. Doch erfreuete ihn unser Besuch sehr, und er schenkte bei der Abreise meiner Therese als Pate seiner verstorbenen Frau eine goldene Uhr und bat uns, auf dem Rückweg wieder bei ihm einzukehren. So kamen wir, nachdem wir in Rotterdam das Dampfboot verlassen hatten, über Haag, Amsterdam und Haarlem glücklich nach Zandvoort. Als wir uns dort im Badehause eingemietet hatten und aus unsern Fenstern das Meer zum erstenmal sahen, brach meine Schwägerin in die verhängnisvollen Worte aus: »Hier möcht ich ewig bleiben!« Nachdem ich mit dem Badearzte, welcher täglich mit dem Omnibus von Haarlem die Badenden zu besuchen kam, meine Kur besprochen und sogleich zu baden begonnen hatte, ging ich bald mit wahrer Wonne ins Meer, und es gewährte mir großes Vergnügen, darin herumzuschwimmen. Unsre Haus- und Tischgenossen waren einige Muckerfamilien aus Elberfeld und Barmen, deren Religionsansichten ich bald aus ihren Reden bei Tisch zu Genüge kennenlernte, die mich aber nicht reizten, nähere Bekanntschaft mit ihnen anzuknüpfen. Nach Tische machten wir in dem Walde, welcher gleich hinter den Dünen begann und fast bis nach Haarlem reichte, unsre Spaziergänge, und so lebten wir bei dem schönen Wetter, wovon wir in jenem Sommer 1835 begünstigt wurden, sehr zufrieden in unsrer Einsamkeit. Bald sollte diese aber durch einen unerwarteten Kunstgenuß unterbrochen werden, indem die Musikfreunde in Amsterdam, die meine Anwesenheit in[166] Zandvoort in Erfahrung gebracht hatten, mich und meine Reisegefährtinnen zu einem Konzerte einluden, welches sie mir zu Ehren veranstaltet hatten. Wir fuhren daher mit dem Omnibus nach Haarlem und von da mit der Trekschuit nach Amsterdam, wo wir auf Herrn Ten Kates, eines frühern Bekannten, Einladung in dessen Haus abstiegen. Mit ihm besuchten wir das im Saale von Felix Meritis veranstaltete Konzert, in welchem lauter Kompositionen von mir aufgeführt wurden; zuerst eine meiner Symphonien, dann das Duett aus »Jessonda«, gesungen von Herrn de Vrugt aus Haarlem und der ersten Sängerin vom deutschen Theater, darauf spielte Herr Tours aus Rotterdam ein Violinkonzert von mir, und Herr de Vrugt beschloß das Konzert mit einigen Liedern. Als wir dann bei unserm Hauswirte zu Abend gegessen hatten und schon im Begriffe waren, uns zur Ruhe zu begeben, wurde mir noch ein Ständchen gebracht, das wir auf dem Balkon des Hauses anhörten. Meine Schwägerin, die schon im Konzert über Kopf wehgeklagt hatte, mochte sich wohl, da sie trotz meiner Warnung in der kühlen Abendluft das Ständchen mit anhörte, erkältet haben; denn als wir nach Zandvoort zurückgekehrt waren und am andern Morgen den Badearzt zu Rate zogen, fand es sich, daß bei ihr in der Nacht eine Hautkrankheit ausgebrochen war, die er jedoch nicht für gefährlich hielt. Die Ferienzeit nahete indessen ihrem Ende, und der Arzt erklärte, nachdem die Kranke einige Tage das Bett gehütet hatte, wir würden in aller Kürze reisen können. Noch an demselben Abend aber, als die Sonne unterging und ich, am Bette meiner Schwägerin sitzend, von der Rückreise mit ihr sprach, verlangte sie in krankhafter Aufregung aufzustehen, und während ich sie mit all meiner Kraft kaum zurückzuhalten vermochte, fiel sie plötzlich in die Kissen zurück, verlor die Besinnung und hatte alsbald zu atmen aufgehört. In unsrer Angst schrien wir beide, Therese und ich, nach Hilfe, worauf ein junger Mann, der neben uns wohnte und als Student der Medizin einen Aderlaßapparat mit sich führte, herbeieilte und ihr sogleich eine Ader öffnete. Doch vergebens! Es kam kein Blut mehr, der Arzt erklärte sie für tot und war nun bemüht, Therese, die vor Schreck ohnmächtig geworden war, wieder ins Leben zu rufen. So war denn der verhängnisvolle Wunsch meiner Schwägerin: »Hier möcht ich ewig bleiben!« zur traurigen Erfüllung gekommen. Was wir dabei empfanden, als wir die Geschiedene wenige Tage nachher zu ihrer letzten Ruhestätte begleiteten, und wie uns bei dieser Szene die im vergangenen Jahr in Kassel erlebte wieder um so lebendiger vor die Seele trat, das will ich nicht zu schildern versuchen.[167]
Wir machten nun die Rückreise so schnell als möglich und trafen noch am Landungsplatze des Dampfbootes nahe bei Kleve unsern Freund Thomae, welcher, nachdem er unsern neuen Verlust erfuhr, auf Erfüllung unsrer Zusage, abermals in seinem Hause zu verweilen, nicht weiter bestand. Da ohnehin der Urlaub abgelaufen war, setzten wir unsre Reise nach Kassel ohne weitern Aufenthalt fort. Dort aber empfand ich die Einsamkeit unsres Hauses ohne die Zurückgebliebene noch viel schmerzlicher, und ich fing daher an, das Bedürfnis nach einer Lebensgefährtin, die auch an meinen musikalischen Arbeiten teilnehmen könnte, viel lebhafter als bisher zu fühlen. Es war zunächst unser Cäcilienverein, wo sich mir bei den wöchentlichen Übungen Gelegenheit bot, in unbemerkter Beobachtung vielleicht ein weibliches Wesen herauszufinden, von dem ich hoffen durfte, daß es mir den Rest meines Lebens verschönen werde und geeignet sei, mir das verlorene Glück wiederzugeben. Da gedachte ich denn vorzugsweise der Schwestern meines verstorbenen Freundes Karl Pfeiffer, deren ernsten Sinn und rege Teilnahme für die gediegenere Musikgattung ich durch ihren vieljährigen, unausgesetzt pünktlichen Besuch des Vereines erkannt hatte, und von denen ich überdies durch ihren Bruder wußte, daß sie gleich ihm besonders für meine Musik eingenommen waren. Außerdem hatte ich bei meinen fast täglichen Spaziergängen in der Kölnischen Allee, die mich an dem Garten des Oberappellationsrates Pfeiffer vorüberführten, seit längerer Zeit Gelegenheit gehabt, das glückliche und anspruchslose Zusammenleben der Familie aus der Ferne wahrzunehmen. Da nun damals (September 1835) die kurhessischen Truppen zum Herbstmanöver zusammengezogen waren und beim Schlosse Wilhelmsthal ein Lager bezogen hatten, wohin die Bewohner Kassels zu lustwandeln pflegten, so kam ich auf den Gedanken, eine Partie dorthin zu machen, und ließ durch meine Tochter Therese von den Eltern Pfeiffer um die Erlaubnis für die beiden Töchter bitten, uns dahin begleiten zu dürfen. Auf dieser kleinen Fahrt hatte ich bei der Unterhaltung Gelegenheit, nun auch die hohe und vielseitige Bildung des Schwesternpaares kennen zu lernen, und so ward mein Entschluß vollends befestigt, mich um die ältere Schwester Marianne zu bewerben, deren Musikkenntnisse und solides Klavierspiel mir auch schon aufgefallen war, da sie einigemal zur Aushilfe im Cäcilienvereine akkompagniert hatte. Da ich nicht den Mut hatte, mündlich um sie anzuhalten, weil der Unterschied unsres Alters mehr als zwanzig Jahre betrug, so fragte ich schriftlich an, ob sie mir angehören wolle, und fügte, um meine Werbung zu beschönigen, die Versicherung hinzu, daß ich mich von den gewöhnlichen Beschwerden[168] des Alters noch ganz frei fühle. In höchster Spannung erwartete ich nun die Antwort. Zu meiner Freude fiel sie bejahend aus, worauf ich zu ihren Eltern eilte, um förmlich um sie zu werben. Sie segneten unsern Bund, und wir lernten uns nun immer näher kennen. Da ich bei meinem Alter nicht viel Zeit zu verlieren hatte, so bat ich, daß die Hochzeit gleich nach Neujahr stattfinden dürfe, welches auch nach einigem Widerstreben von den Eltern und der Braut zugestanden wurde. Unsre Trauung wurde auf den 3. Januar 1836 festgesetzt, und ich bat meine Eltern, dabei Zeugen meines erneuerten Glückes zu sein. Doch wäre es am bestimmten Tage fast nicht zur Hochzeit gekommen, da die dazu erforderliche Erlaubnis des Kurprinz-Mitregenten trotz aller Bemühungen meines Freundes, des Herrn von der Malsburg, der dieselbe als Hofmarschall auszufertigen hatte, nicht zu erlangen stand. Mein Schwiegervater, der dem Kurprinzen in frühern Jahren Vorlesungen über Staatsrecht halten mußte und schon damals nicht sehr in Gunst bei ihm war, hatte dieselbe ganz verloren, seitdem er als Mitglied des ersten Landtages (von 1831–32) durch seinen ausführlichen und überzeugenden Bericht bei den Ständen eine starke Herabsetzung des ihnen vorgelegten, unverhältnismäßig hohen Militäretats bewirkt hatte. Der Kurprinz mochte dieses dem Vater Pfeiffer wohl nachtragen und deshalb die Erlaubnis zur Verheiratung seiner Tochter verzögern. Wir erhielten dieselbe wenigstens erst dann, als meine Braut, wie man von ihr ausdrücklich verlangte, einen Revers ausgestellt hatte, daß sie auf jede dereinstige Pension im voraus verzichte. Da ich für meine Frau nach meinem Tode auf andre Weise zu sorgen vermochte, so fügten wir uns dem Verlangen, und so konnte unsre Hochzeit am festgesetzten Tage doch noch stattfinden. Die zur Familie meiner Schwiegereltern gehörigen nächsten Verwandten, dreiunddreißig an der Zahl, nebst meinen Eltern, meinen Töchtern und deren Männer waren sämtlich zugegen. Die Trauung vollzog auf den Wunsch meiner Braut ihr Lieblingsprediger Asbrand, den sie persönlich kannte und hoch schätzte.
So lebte ich nun wieder in den früher gewohnten häuslichen Verhältnissen und fühlte mich unbeschreiblich glücklich im Besitze meiner Frau! Da wir häufig miteinander musizierten, so lernte ich immer mehr ihren feinen Sinn für das Edele in der Tonkunst kennen und konnte bei ihrer eminenten Fertigkeit im a vista-Lesen nicht nur in kurzer Zeit mit ihr alles, was ich früher für Geige mit Klavierbegleitung geschrieben hatte, spielen, sondern es wurde mir auch gar manches Fremde dieser Kunstgattung, was ich bisher nicht kannte, durch sie erschlossen. Ich bekam daher große Lust, mich nun auch einmal in eigentlichen Duetten[169] für Pianoforte und Violine zu versuchen. Das erste, was ich dann für uns beide schrieb, war das Duett in G-moll (Op. 95, Leipzig, bei Breitkopf). Hiebei bemerkte ich wiederholt mit großer Freude ihre lebhafte Teilnahme an meinen Arbeiten in gleicher Weise, wie sie mich bei meiner seligen Frau so beglückt und gefördert hatte. War ein Satz niedergeschrieben, so konnte ich ihn, wenn ich ihn mit ihr spielte, sogleich vollständig hören, was uns beide in gleichem Grade interessierte und beglückte. Außerdem komponierte ich in dieser Zeit sechs Lieder für eine Altstimme, die als Op. 94 bei Simrock in Bonn erschienen.
Als dann der Sommer und die Ferienzeit herannahete, beschlossen wir, eine Reise zu machen, um die beiderseitigen Verwandten zu besuchen. Da damals noch keine Eisenbahn existierte, so mußten wir wie bisher wieder mit der Extrapost fahren und traten die Reise über Eisenach nach Gotha an, wo wir die an einen Kaufmann Hildt verheiratete Stiefschwester meiner seligen Frau aufsuchten. Wir trafen sie in ihrem Blumengarten, brachten da einen vergnügten Abend mit ihnen zu und reisten am folgenden Tage weiter nach Erfurt. Da die dortigen Musikfreunde im voraus unsre Ankunft erfahren hatten, so wurden wir sogleich im Gasthaus »Zum römischen Kaiser« von einer Deputation empfangen, die uns in der schmeichelhaftesten Ansprache zu den für uns vorbereiteten Festlichkeiten einlud. Bei dem am ersten Mittag stattfindenden Festdiner wurde ich mit einem Bewillkommnungsgedichte begrüßt, worauf ein donnernder Toast auf mich zur großen Freude und Genugtuung meiner Frau und Tochter ausgebracht wurde. Abends fuhren wir nach dem Steiger, dem beliebtesten Vergnügungsorte der Erfurter; da es aber bald zu regnen anfing, so konnten wir von den schönen Gartenanlagen nicht viel genießen, sondern mußten vielmehr in den daselbst befindlichen Saal flüchten. Zum Glücke hatte man für ein gutes Fortepiano gesorgt, und ich konnte daher der Gesellschaft mein neues Duo für Geige und Klavier sowie mein Concertino in E-dur, welches beides ich mit meiner Frau spielte, zu hören geben. Therese sang darauf noch einige meiner neuesten Lieder, und von den Erfurter Herren und Damen wurden auch noch mein Baßduett aus »Faust« und verschiedene Lieder vorgetragen. Diese halb improvisierte Musikpartie schien der Gesellschaft ungemein großes Vergnügen zu machen, und so kehrten wir trotz des Regens sehr zufrieden nach der Stadt zurück. Am andern Morgen wurden wir früh durch ein Ständchen überrascht, das uns von der auf dem Vorplatz aufgestellten Militärmusik gebracht wurde. Es begann mit den wohlbekannten Klängen einer meiner Symphonien, worauf mehrere andere Stücke und zuletzt das erste[170] Finale aus »Zemire und Azor« folgten. Sodann nahmen wir die Sehenswürdigkeiten der Stadt, insbesondere den herrlichen Dom, in Augenschein, wo uns beim Eintreten die Klänge der berühmten Orgel entgegentönten und darauf die Einleitung zu »Des Heilands letzte Stunden« sowie noch viele andre Melodien, meistens aus meinen älteren Oratorien, in ergreifender Weise vorgetragen wurden. Nachdem wir hierauf einem glänzenden Diner bei Frau Major von Rommel, einer Kusine meiner Frau, beigewohnt hatten, fuhren wir zu dem im Theater veranstalteten großen Konzert, in welchem bei festlicher Erleuchtung die »Weihe der Töne« und mein »Vaterunser« in sehr befriedigender Weise aufgeführt wurden.
Am andern Morgen setzten wir die Reise nach Leipzig fort und wohnten auch dort wieder mehreren interessanten Musikpartien bei, welche meine alten Freunde Rochlitz und Weiße sowie die ausgezeichnete Pianistin Madame Voigt uns zu Ehren bei sich veranstalteten, und wo auch ich einige neuere, den Leipzigern noch unbekannte Quartetten, insonderheit das erst im vorigen Herbste komponierte Quatuor brillant in A-dur (Wien, bei Haslinger, Op. 93) zu hören gab. Dann spielten Mendelssohn und Madame Voigt, und wir verbrachten unter den genannten Freunden einen angenehmen und genußreichen Abend. Am andern Morgen führte ich meine Frau zu Clara Wieck, die uns ganz meisterhaft vorspielte. Der Vater Wieck prahlte und windbeutelte wie gewöhnlich! Am folgenden Tage setzten wir die Reise nach Dresden fort und trafen da in der Schloßgasse in der »Stadt Gotha« die Familie Kleinwächter aus Prag, Vater, Sohn und Tochter, sowie auch meinen Freund Adolph Hesse. Wir traten mit ihnen eine schon im voraus verabredete gemeinschaftliche Reise in die Sächsische Schweiz an und machten die erste Strecke bis zum Eingang in den Uttewalder Grund zu Wagen, der uns dann, wenn unsere Kräfte vom Ersteigen der steilen Aussichtspunkte erschöpft waren, immer wieder erwartete und uns bequem von einer der herrlichen Felspartien zur andern brachte. Dennoch gab es immer noch große und anstrengende Fußtouren, wie namentlich auch die Ersteigung des großen Winterberges bei drückender Hitze. Von Herrnskretschen, dem Zielpunkt unsrer Reise, fuhren wir auf der Elbe nach Schandau, aßen dort vergnügt zu Mittag und neckten uns dabei gegenseitig über unsre Müdigkeit, die wir vor den mit uns zu Tische sitzenden Badegästen möglichst zu verbergen suchten, was zu manchen komischen Szenen Veranlassung gab.[171]
In Dresden wohnten wir dann noch einer interessanten Quartettpartie bei, die der Kammermusikus Franz, mein ehemaliger Schüler, in seiner mit Kränzen und Blumen festlich geschmückten Wohnung veranstaltet hatte. Wir trafen dort auch die drei Kapellmeister Reißiger, Morlacchi und Rastrelli, und ich spielte eins meiner Doppelquartetten sowie mein neuestes Concertino. Da wir am andern Morgen Dresden verlassen wollten, so hieß es nun von unsern liebenswürdigen Reisegefährten Kleinwächter und Hesse scheiden, in deren Gesellschaft wir so vergnügte Stunden verlebt, und die mich während unsres Zusammenseins mit Liebe und Aufmerksamkeit wahrhaft überschüttet hatten. Sie schieden von uns mit tränenden Augen, und wir setzten unsre Reise über Leipzig und Halle nach Braunschweig fort, wo wir meine Brüder Wilhelm und August besuchen und zugleich dem gerade dort abgehaltenen Musikfeste beiwohnen wollten. Die Aufführungen fanden in der Ägidienkirche statt und begannen mit Händels »Messias«. Obgleich uns das herrliche Werk von frühern Aufführungen längst genau bekannt war, so wurden wir doch durch die großartigen Chöre, ihre starke Besetzung und die Mozartsche Instrumentierung aufs neue wahrhaft hingerissen. An den zwei folgenden Tagen gab es gemischte Vokal- und Instrumentalkonzerte; jedoch erschien uns deren Inhalt, der meist aus Opernsachen bestand, für die Kirche nicht ganz geeignet. Bei den verschiedenen Festessen, die an jedem Mittag in dem großen, auf der Wallpromenade errichteten Zelte stattfanden, ging es gewöhnlich sehr tumultuarisch zu; besonders komisch war aber eine Szene, die sich dabei am letzten Tag ereignete. Der Tenorist Mantius aus Berlin, der schon einige Lieder mit großem Beifalle gesungen hatte, wurde schließlich gebeten, noch das beliebte »Schön Hannchen« vorzutragen. Dieses Lied hat einen scheinbaren Schluß, auf den ein noch brillanteres Ende folgt. Nun brachen die Zuhörer immer schon mit ihrem Beifalle los, bevor Mantius bis zu Ende gekommen. Nachdem dies zu seinem Ärger schon bei einigen Strophen geschehen war, stieg er bei den folgenden auf eine Bank und zuletzt sogar auf den Tisch, um den Glanzpunkt endlich einmal zu Gehör zu bringen; aber wieder vergebens! Der scheinbare Schluß war zu verführerisch, und obgleich Mantius vor der letzten Strophe die Zuhörer abermals de-und wehmütig gebeten hatte, ihren Beifall doch solange zurückzuhalten, bis er wirklich zu Ende gekommen sei, so ließ sich dennoch einer derselben hinreißen, zur unrechten Zeit Bravo zu rufen, und das war genug, um alle Anwesenden mit einstimmen zu lassen. Die verzweifelte Miene,[172] mit welcher nun der mit Beifall überschüttete Sänger vom Tische stieg, hatte etwas unaussprechlich Komisches.
Bei unsrer Abreise von Braunschweig wurden wir vom Amtsrat Lueder, der sich ebenfalls zum Musikfeste eingefunden hatte, dringend eingeladen, auf dem Rückwege noch einige Tage auf seinem Gute Catlenburg zuzubringen, wodurch dann diese interessante Reise auf würdige Weise beschlossen wurde.
In Kassel fand ich nach unsrer Rückkehr von meinem frühern Schüler, dem Musikdirektor Gercke aus Paderborn, einen Brief vor, in welchem wir zu dem am 21. Juli stattfindenden tausendjährigen Jubiläum des hl. Liborius eingeladen wurden. Dasselbe sollte am ersten Tage durch Kirchenfeierlichkeiten und am zweiten durch die Aufführung meines Oratoriums »Des Heilands letzte Stunden« festlich begangen werden. Da die Ferienzeit noch nicht ganz abgelaufen war, so faßten wir einen schnellen Entschluß und saßen nach wenig Tagen schon wieder im Reisewagen, in dem diesmal meine Schwägerin, Caroline Pfeiffer, den vierten Platz einnahm. Wir übernachteten in Lichtenau, fuhren aber am andern Morgen schon so früh von dort ab, daß wir vor acht Uhr in Paderborn ankamen; wir fanden jedoch die Stadt bereits so voll Menschen, daß wir vor den beiden dortigen Gasthäusern abgewiesen wurden. Dem Wirte des zweiten schien es aber doch leid zu tun, uns nicht aufnehmen zu können, und er besorgte uns daher ein paar Zimmer in einem gegenüber liegenden Privathause. Wir konnten indessen dort nur zwei Betten erhalten, und es mußte für mich und meine Frau für die Nacht im Gasthause selbst eine Schlafstelle eingerichtet werden, und zwar in einem Zimmer, das am Tag ein Friseur zu seinem Geschäft und zum Verkaufe seiner Waren inne hatte. Kaum in unsre unscheinlichen Zimmer eingetreten, erhielten wir von den Dilettanten der Stadt sowie von den bei den Musikaufführungen beteiligten Künstlern Besuche. Darauf wurden wir in ein befreundetes Haus geführt, wo man uns an den Fenstern die besten Plätze einräumte, um die glänzende Prozession, die den vergoldeten Schrein mit den Gebeinen des hl. Liborius nach dem Dome geleitete, bequem sehen zu können. Erst als das übermäßige Gedränge des Volkes nachgelassen hatte, gingen auch wir in den Dom, bewunderten das reiche und schöne Gebäude und hörten die Messe von Carl Maria von Weber, deren allzuweltlicher Stil uns aber nicht recht gefallen wollte. Am folgenden Abend fand die Aufführung meines Oratoriums in der glänzend erleuchteten Jesuitenkirche statt, wo wir durch die bereits überfüllten Räume hindurch bis ganz vorn hingeleitet wurden, um auf gepolsterten Sesseln, die man[173] uns dicht neben dem Bischof von Paderborn sowie dem Oberpräsidenten von Vincke und dem Kommandanten der Stadt angewiesen hatte, Platz zu nehmen. Ich bemerkte mit Freude, daß auch hier für mein Oratorium große Begeisterung herrschte; Gercke dirigierte sehr gut, die Chöre waren vortrefflich einstudiert, und unter den Solosängern, die meistens aus Dilettanten bestanden, zeichnete sich besonders die bekannte Konzertsängerin Frau Johanna Schmidt in der Partie der Maria aus. Kaum hatten wir uns nach diesem unruhig verlebten Tage zur Ruhe begeben, so erschallte unter unsern Fenstern eine Fackelmusik, wobei abwechselnd gespielt und vierstimmige Lieder gesungen wurden. Als ich mich bei den wiederholten Hochrufen dankend zum Fenster hinwenden wollte, stellten sich mir aber die vor demselben aufgetürmten Schachteln unsres Mitbewohners hindernd entgegen, und ich mußte deshalb den versäumten mündlichen Dank am andern Morgen vor unsrer Abreise schriftlich nachholen.
So kehrten wir denn auch von diesem Ausfluge sehr befriedigt nach Kassel zurück, wo dann für mich, aufgemuntert durch körperliches Wohlbefinden und meine höchst glückliche häusliche Lage, eine fleißige Kompositionsperiode begann. Schon auf der Rückreise von Dresden hatte ich beständig an eine neue Komposition gedacht und auch schon das Programm dazu entworfen. Es war dies eine zweite Sonate für mich und meine Frau, die später als Duett für Piano und Violine »Nachklänge einer Reise nach Dresden und in die Sächsische Schweiz« (Op. 96) bei Simrock in Bonn erschienen und unsern liebenswürdigen Reisegefährten aus Prag und Breslau gewidmet ist. Im ersten Satze suchte ich die Reiselust zu schildern, im zweiten die Reise selbst, indem ich die in Sachsen und dem benachbarten Preußen gebräuchlichen Hornfanfaren der Postillone in das Scherzo als dominierendes, von der Geige auf der G-Saite hornmäßig gespieltes Hauptthema mit auffallenden Modulationen des Fortepiano verarbeitete und dann im Trio eine Schwärmerei schilderte, wie man sich ihr so gern unbewußt im Wagen brütend überläßt! Das folgende Adagio gibt eine Szene aus der katholischen Hofkirche zu Dresden, welche mit einem Orgelpräludium auf dem Pianoforte allein beginnt; darauf spielt die Geige die Intonation des Priesters vor dem Altare, woran sich das Responsorium der Chorknaben genau in denselben Tönen und Modulationen, wie man sie in katholischen Kirchen und auch in der Dresdner hört, anschließt. Diesem folgt eine Kastratenarie, wie man sie nur noch in der Hofkirche zu Dresden hört, wobei es die Aufgabe des Geigers ist, sie ganz im Ton und Stil des dortigen Gesanges zu kopieren. Der letzte Satz schildert[174] in einem Rondo die Reise durch die Sächsische Schweiz, indem sie teils an die erhabenen Naturschönheiten, teils an die fröhliche böhmische Musik, die man fast aus jeder Felsenpartie hervorschallen hört, zu erinnern sucht; eine Aufgabe, der in so engem Rahmen freilich nur ungenügend entsprochen werden konnte.
Im Laufe des Jahres 1836 schrieb ich noch eine Anzahl Lieder, deren sechs in einem Heft als Op. 101 bei Breitkopf und Härtel herauskamen, und worunter sich das auch im Musikalischen Album von Breitkopf und Härtel abgedruckte: »Sangeslust« mit vierhändiger Begleitung befindet, ferner einen Psalm für Chor und Solostimmen (für die Berliner Akademie der Künste, Op. 97), dann ein größeres Gesangwerk: »Hymne an Gott« für vier Chor-und Solostimmen mit Orchesterbegleitung und eine Phantasie in Form einer Ouvertüre zu Raupachs mythischer Tragödie: »Die Tochter der Luft«, welche bald nachher in einem unserer Abonnementskonzerte zur Aufführung kam. Da sie mir aber in dieser Gestalt doch nicht recht gefallen wollte, so bearbeitete ich sie später zum ersten Satze meiner fünften Symphonie, die ich für die Concerts spirituels in Wien komponierte, und die bald nachher bei Haslinger als Op. 102 im Druck herauskam. Im Anfange des folgenden Jahres (1837) schrieb ich mein drittes Duett für Pianoforte und Violine in E-dur, welches später als Op. 112 bei Paul in Dresden herauskam.
Um dieselbe Zeit begann ich ernstliche Vorbereitungen zur Ausführung einer Idee, die mich schon lange beschäftigt hatte, nämlich ein Musikfest zu veranstalten, wozu mir in vieler Hinsicht Kassel als ein ganz geeigneter Ort erschien. Mein Plan dazu war folgender: Am Pfingstsonnabend sollte nachmittags in der St.-Martins-Kirche das Oratorium »Paulus« von Mendelssohn aufgeführt werden, am ersten Pfingsttage abends bei Beleuchtung meine Symphonie »Die Weihe der Töne« und das Oratorium »Die letzten Dinge«, am zweiten Pfingsttage vormittags im Theater Konzert der fremden und einheimischen Sänger und Virtuosen und an demselben Abend, wie gewöhnlich auf den zweiten Festtag, eine neue Oper. Die Einladungen nach auswärts, die Anschaffung der Musikalien und die Einübung der Oratorien im Gesangverein hatten bereits begonnen, als ich auf meine beim Kurprinzen eingereichte Bitte um Genehmigung nachstehenden höchsten Beschluß aus dem geheimen Kabinett erhielt: »Die Tage der Aufführung müssen geändert werden, indem dazu der Pfingstsonnabend, an welchem sonst die zum heiligen Abendmahl sich Vorbereitenden gestört werden könnten, nicht gestattet werden kann; desgleichen darf am Pfingstmontag kein Konzert (wegen der Kirche und der Oper) sein; auch dürfen in der großen Kirche keine Gerüste für das Chor aufgeschlagen werden, da solches wegen der fürstlichen Gruft unschicklich wäre. Seine Hoheit erwarten neue Vorschläge, indem Höchstdieselben erst hiernach die Erlaubnis[175] erteilen können«. Ich entgegnete hierauf, daß bei einem Musikfest in Kassel nur dann ein günstiger Erfolg zu hoffen und das Risiko der sehr bedeutenden Kosten ohne Gefahr zu übernehmen sei, wenn dasselbe, wie bei andern, namentlich den niederrheinischen Musikfesten üblich, an den Pfingstfeiertagen stattfände, wo eine Menge von Fremden zuströmten, und die Musikfreunde der Umgegend nicht durch Geschäfte vom Besuch abgehalten würden; daß, wenn der Festsonnabend nicht gestattet würde, in der genannten Zeit keine zwei Abende aufeinander folgend zu Kirchenaufführungen zu ermitteln wären. Da sich überdies in Kassel kein anderes passendes Lokal vorfinde als die große Kirche und in dieser das Aufschlagen des Gerüstes nicht erlaubt sein sollte, so sähe ich mich daher genötigt, das beabsichtigte Musikfest gänzlich aufzugeben.
So unangenehm nun auch für alle Teile dies völlige Scheitern des Planes war, so mußte ich ohnerachtet der nicht unbedeutenden Kosten, die ich bereits gehabt, und die mir durch Wiederverkaufen der angeschafften Singstimmen an die Gesangvereine nur zum kleinsten Teil ersetzt werden konnten, dennoch dabei bleiben. Da wir indessen das Mendelssohnsche Oratorium fleißig eingeübt und es immer liebergewonnen hatten, so schlug ich es zur Aufführung in dem am ersten Pfingsttage zum Besten des Unterstützungsfonds bewilligten Konzerte vor, erhielt aber auch hierauf höchsten Orts eine abschlägige Antwort, und wir mußten uns damit begnügen, das Oratorium den Musikfreunden am Klavier in zwei Privataufführungen des Cäcilienvereins zu hören zu geben.
Im Sommer 1837 hatte ich eine Einladung nach Prag erhalten, meine Oper »Der Berggeist« dort zu dirigieren, und gedachte daher, gleich beim Beginn der Theaterferien von hier abzureisen. Als aber am Abend vorher der Urlaub noch nicht in der Theaterkanzlei eingetroffen war, ließ ich mich im Zwischenakt der Oper beim Kurprinzen melden und fragte bei ihm an, »ob er mir irgend einen Auftrag auf die Reise mitzugeben habe«. In der ziemlich undeutlichen Antwort verstand ich zwar etwas von nicht ausgefertigtem Urlaub, da ich indessen keine Zeit zu verlieren hatte, so sah ich mich genötigt, demohnerachtet am andern Morgen vier Uhr abzureisen, Als ich in der Nähe meiner Wohnung den Theaterdirektor Feige schon so zeitig umherspazieren sah, so vermutete ich, daß er vielleicht abgesandt sei, um zu erkunden, ob ich wirklich den Mut hätte, ohne die schriftliche Ausfertigung des Urlaubs abzureisen. Auch war ich am ersten Reisetage nicht ohne Besorgnis, daß[176] man reitende Boten hinter uns hersenden und uns zurückkommen lassen würde. Ich betrieb daher das Vorlegen der frischen Pferde auf den Poststationen soviel als möglich, und so kamen wir unaufgehalten über die hessische Grenze hinaus. Nach einer sechstägigen Reise langten wir endlich in Prag an, wo Marianne und Therese sehr von der Pracht der Stadt frappiert waren und daneben die unerwartete Freude hatten, durch die an den Straßenecken befindlichen Theaterzettel zu erfahren, daß am Abend meine Oper »Jessonda« zum Debüt einer fremden Sängerin gegeben wurde. Daß die Oper auch hier sehr beliebt war, zeigte sich bei der Aufführung schon nach der Ouvertüre, da sie das Publikum da capo verlangte. Ebenso mußte auch das »Blumenduett« und das Duett: »Schönes Mädchen« wiederholt werden. Übrigens ärgerte ich mich über mehrere Auslassungen, die indessen dem Prager Kapellmeister nicht zur Last fielen, sondern in Wien, woher die Partitur gekommen, beliebt worden waren. Die Hauptsänger der Oper waren sehr gut, und so ließ sich auch vom »Berggeist« Günstiges erwarten.
Am andern Morgen überraschte mich der Besuch eines eifrigen Musikfreundes, Dr. Hutzelmann, der erfahren hatte, daß ich ein Freund vom Schwimmen sei, und deshalb kam, mich nach der Militärschwimmschule in der Moldau abzuholen; der bei derselben angestellte Offizier, welcher mich begleitete, bemerkte bald, daß ich ein geübter Schwimmer war, und schlug mir eine Tour außerhalb der Schwimmschule vor, wobei er mich in einem von zwei Soldaten geführten Kahne begleitete. Meine Kleider nahmen sie mit und zogen mich, als ich etwa eine halbe Stunde mit dem Strome geschwommen hatte, in den Kahn, in dem ich mich ankleidete, während uns die Soldaten nach der Stadt zurückruderten. Indem ich neben dem Kahne fortschwamm, drehete sich die Unterhaltung immer nur um meine Kompositionen, die der musikalische Schwimmlehrer fast ebenso gut kannte als ich selbst. Er machte mir den Vorschlag, jeden Tag eine ähnliche Promenade in der Moldau zu versuchen, und ich fand ihn am andern Morgen mit seinem Kahn schon bei der Schwimmschule auf mich wartend. Unterdessen gingen die Proben zum »Berggeist« sehr gut. Der dortige Kapellmeister hatte die Zimmerproben sehr sorgfältig abgehalten und alles so genau einstudiert, daß die Oper bei zwei Aufführungen, die ich selbst dirigierte, vorzüglich gelang. Ich wurde nicht nur beim Eintritt ins Orchester vom Publikum glänzend empfangen, sondern auch beim Schlusse der Oper jedesmal stürmisch herausgerufen. Die Sänger waren in den Hauptpersonen,[177] Madame Podhorski als Alma, die Herren Pöck und Emminger als Berggeist und Oskar, sehr gut, und die Oper hat sich längere Zeit auf dem dortigen Repertoire erhalten. Wir blieben noch einige Tage in Prag, und ich spielte in mehreren Gesellschaften nicht nur Quartetten, sondern auch meine Sonaten und Solosachen mit Akkompagnement meiner Frau, welche auch neue Kompositionen von Kittl und Kleinwächter mit denselben vierhändig spielte und sich dabei durch ihr fertiges Notenlesen sehr auszeichnete. Dabei machte die Kleinwächtersche Familie mit uns viele Exkursionen in die schöne Umgegend von Prag, wodurch wir diese herrliche Stadt genau kennenlernten. Doch endlich mußten wir dieses angenehme Leben verlassen und uns wieder auf die Reise begeben. Nun kam die beschwerlichste Tour derselben bis nach Wien, wobei wir von Hitze und Staub sowie von schmutzigen und erbärmlichen Nachtlagern viel zu leiden hatten. Halbtot gelangten wir am vierten Tage nach Wien und stiegen im »Erzherzog Karl« ab. Nachdem ich meine frühern Freunde aufgesucht hatte, verlebten wir dort sehr vergnügte Tage, welche wir dem schon von Kassel her mir befreundeten kurhessischen Gesandten von Steuber, dem Baron von Lannoy, besonders aber meinem damaligen Verleger Haslinger zu danken hatten. Dieser führte uns jeden Abend in einen andern Garten, wo Strauß und Lanner ihre Konzerte gaben, und wo man an kleinen Tischen nach der Karte sehr gut speiste. Einige Male besuchten wir auch das Theater, um die eigentliche Wiener Volksposse kennen zu lernen, doch waren meine Begleiterinnen mit dem Wiener Dialekt nicht bekannt genug, um sie recht goutieren zu können.
Nach vierzehn Tagen, wo wir alle Freuden Wiens gekostet hatten, nahmen wir von den lieben Freunden Abschied und traten die Reise nach dem himmlisch gelegenen Salzburg an, welche eine der schönsten ist, die man machen kann, besonders die erste Hälfte über die Seen bis zum Bad Ischl. In Salzburg, dessen Lage uns sehr imponierte, besuchten wir vor allem die Witwe Mozart, bei welcher wir auch die beiden Söhne kennenlernten. Bei den Exkursionen, die wir in einem der dort gebräuchlichen leichten Einspänner in die Umgegend machten, interessierten uns am meisten der berühmte Gollinger Wasserfall sowie eine Rutschpartie durch die Salzbergwerke von Hallein, die für meine Reisegefährtinnen noch etwas ganz Neues war. Von Salzburg ging es nun weiter nach München, wo ich zu meiner Überraschung erfuhr, daß der Kurprinz von Hessen ebenfalls gerade eingetroffen sei. Da es nun galt, diesen wegen meiner Abreise von Kassel zu versöhnen, so wendete[178] ich mich deshalb an den Hofmarschall von der Malsburg und erzählte ihm zugleich, daß ich von der Münchener Theaterintendanz dringend aufgefordert sei, meine Oper »Jessonda« dort zu dirigieren, wozu ich aber zuvor des Kurprinzen Bewilligung erbitten wolle. Am andern Morgen ließ mir dieser nun sagen, es würde ihm sehr angenehm sein, wenn ich die Oper dirigiere, und er wolle in dem Falle auch seinen Aufenthalt noch verlängern, um sie selbst zu hören. Geschmückt mit einem von Herrn von der Malsburg entliehenen Hut und einem abgeschnittenen Stückchen seines Ordensbandes, begab ich mich am andern Tage zu der bestimmten Audienz und wurde vom Kurprinzen mit den Worten empfangen: »Sie waren uns ja in Kassel auf einmal verloren gegangen.« Ich erwiderte: »Ich glaubte nicht anders, als mich ordnungsgemäß abgemeldet zu haben«, und da er weiter nichts hierüber äußerte, so war die Sache damit für diesmal abgetan. Die beabsichtigte Aufführung der »Jessonda« kam indessen während meiner Anwesenheit in München nicht mehr zustande, da der König einige Tage später einen fürstlichen Besuch erwartete und die Oper bis dahin verschoben hatte, inzwischen aber meine Urlaubszeit zu Ende ging. Wir reiseten daher noch vorher von München ab, besuchten auf der Rückreise in Erlangen meinen Onkel, den Professor Adolph Hencke, wo wir auch dessen Schwiegersohn, den jetzigen Hofrat Rudolph Wagner zu Göttingen, kennenlernten, und kehrten noch vor dem Kurprinzen nach Kassel zurück. Kurze Zeit nachher bekam ich einen Brief von Hermstedt, worin er im Auftrag der Fürstin von Sondershausen mich aufforderte, Lieder für eine Sopranstimme mit Klavier- und Klarinettbegleitung für die selbe zu schreiben. Da mir diese Arbeit sehr zusagte, so komponierte ich im Verlauf einiger Wochen sechs Lieder dieser Gattung (Op. 103, Leipzig, Breitkopf und Härtel), die ich der Fürstin auf ihren ausdrücklichen Wunsch dedizierte, worauf ich einen kostbaren Ring von ihr zum Geschenk erhielt.
Das Jahr 1838 begann ich mit der Komposition des »Vaterunser« von Klopstock (Op. 104, Leipzig, Breitkopf und Härtel), das ich doppelchörig für Männerstimmen, anfangs nur für Klavierbegleitung, schrieb, dann aber für Harmoniemusik instrumentierte, indem es für das zum Besten der Mozartstiftung zu Frankfurt veranstaltete Liederfest bestimmt war, wo es dann, obgleich ich selbst die Direktion hatte ablehnen müssen, am 29. Juli zuerst zur Aufführung kam und, trefflich einstudiert, den dortigen Berichten zufolge eine recht feierliche, erhebende Wirkung hervorbrachte.[179]
In den folgenden Monaten komponierte ich wieder mehrere Lieder für Sopran oder Tenor, die als Op. 105 bei Hellmuth in Halle im Druck erschienen.
Inzwischen war endlich auch die erste öffentliche Aufführung des »Paulus« am Karfreitag in der Garnisonskirche zustande gekommen, und wir sahen mit Vergnügen der Wiederholung desselben am ersten Pfingsttage entgegen, als plötzlich unsre gute Therese an einem bösartigen Nervenfieber erkrankte, das in kurzer Zeit ihrem blühenden Leben ein Ziel setzte. Am Dienstag vor Himmelfahrt hatten wir noch hauptsächlich auf Theresens Wunsch eine vergnügte Partie nach Wilhelmshöhe gemacht; dort fing sie schon an, über Unwohlsein zu klagen, und mußte sich nach unsrer Rückkehr sogleich zu Bette legen. Da Dr. Ludwig Pfeiffer, unser damaliger Hausarzt, der zweite Bruder meiner Frau, gerade abwesend war, so zogen wir abermals deren Onkel, Geh. Hofrat Dr. Harnier, zu Rate, der die Kranke, obgleich noch keine ängstlichen Symptome sich zeigten, täglich wiederholt besuchte, bis er nach Verlauf von acht Tagen zu unserm großen Schrecken die Krankheit für Nervenfieber erklärte; das Fieber wurde nun immer heftiger, und da sie in ihren Phantasien sich viel mit der von uns beabsichtigten Reise nach Karlsbad beschäftigte, worauf sie sich sehr gefreuet hatte, so versprach ich ihr, jedenfalls mit der Abreise auf ihre Genesung zu warten. Dies beruhigte sie zwar sehr, konnte jedoch das Fieber nicht mildern, und so mußte das neunzehnjährige blühende Mädchen am ersten Pfingstmorgen der bösartigen Krankheit erliegen. Der Verlust des talentvollen und gutgearteten Kindes machte uns so unglücklich, daß wir mit Sehnsucht den bevorstehenden Theaterferien entgegensahen, um die traurige Umgebung sogleich zu verlassen und fern von Kassel nicht in jedem Augenblick an unsern Schmerz erinnert zu werden.
Nachdem wir durch abermalige Verzögerung des Urlaubs noch acht Tage in Kassel zurückgehalten waren, konnten wir endlich am 23. Juni unsre Reise nach Karlsbad antreten, und zwar in Begleitung meiner Schwiegermutter, der die dortige Kur ebenfalls angeraten war, was mir besonders wegen meiner Frau, die sich den Verlust unsrer Therese sehr zu Herzen genommen, im höchsten Grad erwünscht war. In Karlsbad angelangt, trafen wir sogleich mit Hesse aus Breslau zusammen und machten auf unsern Brunnenpromenaden bald auch die Bekanntschaft von andern eifrigen Musikfreunden, denen wir an trüben Tagen, wo das Wetter keine gemeinschaftlichen Ausflüge in die überaus reizende Umgegend erlaubte, kleine Musikpartien in unsrer Wohnung veranstalteten. Da eine junge Dame aus Breslau, Fräulein Ottilie Schubert,[180] vortrefflich sang, so studierte ihr meine Frau meine neuen Lieder mit Klarinettbegleitung ein, wobei ein vorzüglicher Klarinettist, Herr Seemann aus Hannover, die Klarinettpartie übernahm; so lernten unsre Zuhörer eine ihnen noch unbekannte Gattung von Liedern kennen, die ihr lebhaftestes Interesse erweckte. Später traf auch de Bériot mit seiner Schwägerin Pauline Garcia in Karlsbad ein, und sein im Theatergebäude veranstaltetes Konzert gewährte uns einen großen Genuß. Er spielte sehr rein, brillant und fertig, wenn mir auch seine Kompositionen nicht durchaus gefallen wollten, und Fräulein Garcia, die später so berühmt gewordene Madame Viardot-Garcia, sang mit umfangreicher, nicht ganz schöner Stimme, aber großer Kunstfertigkeit. Besonders entzückte sie durch den Vortrag ihrer spanischen Romanzen und Lieder, die sie sich selbst auf dem Pianoforte sehr gut begleitete. Nachdem Herr Hesse wieder abgereiset war, kam ein andrer Organist und Klavierspieler aus Breslau, Herr Köhler, in Karlsbad an, der häufig mit uns musizierte, auch vieles mit Marianne vierhändig spielte. Auch trafen wir ganz unerwartet Herrn Lannoy aus Wien mit seiner Frau und Schwägerin in Karlsbad und verlebten einige fröhliche Tage mit ihnen.[181]
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