[23] Im großen Speisesaal des Hotel Viktoria am Höhenweg in Interlaken ist die Table d'hote in vollem Gang. Die verschiedenen Nationen sitzen friedlich vereint nebeneinander und auch die verschiedensten Klassen von Menschen. Wir können das auf den ersten Blick bemerken, denn nichts verrät die Erziehung, die Lebensart eines Menschen so sehr, als seine Art und Weise zu essen. Gar interessante Schlüsse lassen sich da ziehen, wo die Kinderstube dieses oder jenes Menschen gestanden hat.
Jener Herr dort ißt mit einer so vollendet ruhigen Grazie, jede Bewegung seiner Hand mit Messer, Gabel, Löffel und Glas erscheint so zielbewußt, so unauffällig, daß wir wohl nicht irren, wenn wir ihn als aus guter Familie stammend bezeichnen.
Jener andere aber daneben, sehet, wie er sein Fleisch mit Messer und Gabel in mathematisch genaue Quadrate teilt, wie er das Gemüse zerdrückt, die Kartoffeln gar zerschneidet. Nun legt er das Messer hin und beginnt, die Gabel in der Rechten haltend, die[23] vorbereiteten Portiönchen zu Munde zu führen. Er verrät augenblicklich, daß er nicht das Glück hatte, unter den Augen einer feingebildeten Mutter seine Tischerziehung zu erhalten.
Diese Dame erschien uns reizend, ehe sie zu essen begann. Schmatzend prüfen die Lippen den Inhalt des Suppenlöffels. Vorbei ist für uns die Illusion, die sich an das zierliche Köpfchen mit dem edlen Profil knüpfte.
Ihr vis-à-vis, der lang aufgeschossene blonde Sohn Albions formt mechanisch Wurfgeschosse aus dem Tafelbrötchen und baut die Munition bergförmig neben sich auf.
Und sein Nachbar gar! Soeben sahen wir die Schneide des Messers, nachdem sie die leckere Madeirasauce sorgsamst zusammengekratzt, zwischen den Zahnreihen verschwinden.
Die Dame mit dem changierenden Seidenkleid dort oben an der Ecke fällt uns durch die Sorgfalt auf, mit der sie dem Küchenmädchen die Arbeit erleichtert und ihren Teller mit Brotschnitten abwischt.
Ihre Nachbarin führt das Beinchen eines Hamburger Kücken mit der Hand in den Mund und beißt so wacker ein, als ob sie tagelang gehungert hätte.
Der junge Mann zu ihrer Linken, scheinbar zu ihr gehörig, offenbart ein gegensätzliches Temperament. Langsam, mit größtem Bedacht und prüfender, wählerischer Sorgfalt durchstöbert er den Inhalt der Schüssel, die ihm der Oberkellner anbietet.
Noch hundert ähnliche verräterische Bilder könnte ich dir ausmalen, lieber Leser. Könnten wir mit Asmodi auf lustigem Streifzug die Dächer der Häuser abnehmen[24] und Einblick thun, wir würden gar manches finden auch in Familien, die sonst auf gute Manieren halten, was vor dem Richterspruch der guten Sitte nicht standhalten könnte. Es giebt Menschen, die glauben, sich in der eigenen Häuslichkeit gehen lassen zu können. »Warum soll ich es mir zu Hause nicht wenigstens bequem machen?« Und sie schenken sich so manche kleine Förmlichkeit und kleine Handreichung, die sie sich in Gesellschaft nicht ersparen dürften. Der wirklich wohlerzogene Mensch macht keinen Unterschied, ob er sich in Gesellschaft, im Wirtshaus oder nur in seiner eigenen Gesellschaft befindet – gute Tischmanieren sind ihm zur zweiten Natur geworden.
Und, lieber Leser, da du, wie ich weiß, überzeugt bist, daß sie zu deinem Fortkommen unerläßlich sind, willst du, daß ich dir wiederhole, was du zu thun hast, um bei Tisch dich richtig zu benehmen?
Du findest auf dem dir zugewiesenen Platze dein Couvert. Dies besteht aus Teller mit Serviette, Brötchen, Messer, Gabel und Löffel, einem kleinen Teller, links vor dem Couvert stehend, für Salat oder Kompott und dem dazu gehörigen kleinen Löffel, ferner, meist quer vor den Gläsern liegend, einem halbgroßen Löffel für Eis, süße Speise, einem Dessertmesser für Butter und Käse und einem Obstmesser; du erkennst letzteres an seiner meist silbernen, goldenen oder Hornklinge und seinem kleineren Format.
Sobald du an deinem Platz angekommen bist, setzest du dich geräuschlos, ohne deine Nachbarn zu belästigen. Führst du eine Dame, so will es die Sitte, daß du ihr[25] beim Setzen durch Unterschieben des Stuhles behilflich bist und dich erst niederläßt, wenn sie Platz genommen hat. Bei kleinerer Tafelrunde wartet man das Platznehmen der Hausfrau ab, ehe man sich setzt.
Du entfaltest alsdann die Serviette und breitest sie über deine Knie. Sie durch das Knopfloch oder hinter den Kragen zu stecken, ist durchaus unpassend und höchstens einem älteren Herrn im engeren Kreise gestattet. Wer gar einen Serviettenhalter aus der Westentasche holt und ihn anlegt, fällt mehr wie unangenehm auf.
Das Tafelbrötchen findet seinen Platz zur Linken des Tellers oder in resp. auf der gefalteten Serviette. Man bricht sich bei Bedarf davon ab, z.B. wenn Fisch gereicht wird und man der Thätigkeit der Gabel mit ein wenig Brot nachhelfen möchte. Das Brot zu schneiden, ist unrichtig, ganz gewöhnlich aber sieht es aus, wenn man sich schon vorzeitig lange Scheiben zurechtschneidet. Viele Menschen haben die Angewohnheit. das Tafelbrötchen sofort zu verspeisen. Andere schieben in den Pausen des Servierens fortgesetzt Brotbröckchen in den Mund – richtige Verlegenheitsbröckchen. Noch andere spielen gar damit, indem sie den Brotteig als Thon betrachten und sich im Modellieren üben. Allen diesen möchten wir zurufen: »Das Brot ist nicht zum Spielen da, es ist eine Zuspeise, kein Gericht an sich und noch weniger ein Zeitvertreib!«
Die Suppe wird entweder von rechts dem Gaste vorgesetzt, oder der Suppenteller wird ihm auf einem andern Teller stehend von links präsentiert. In diesem[26] Falle ergreift er nur den Suppenteller und stellt ihn auf seinen eigenen Teller. Befindet man sich in Gesellschaft, so wartet man mit dem Eintauchen des Suppenlöffels, bis die Hausfrau oder die Damen überhaupt bedient worden sind und den Löffel in die Hand nehmen. Vor der Hausfrau oder früher als die eigene Tischdame mit dem Essen zu beginnen, ist unartig. Nach der Suppe pflegt die Frage gestellt zu werden: »Befehlen Sie weiß oder rot?« Der Herr wendet sich fragend an seine Tischdame. Diese antwortet je nachdem: »Weiß, wenn ich bitten darf!« oder »Ich bitte um rot!« oder »Ich bevorzuge Weißwein!« Alsdann hat der Herr die betreffende Flasche oder Karaffe mit der rechten Hand zu ergreifen und, sich selbst eine Kleinigkeit zuerst ins Glas füllend, das Glas der Dame bis ungefähr ein Centimeter vom Rande voll zu gießen. Wehrt ihm die Dame und wünscht sie weniger, so hält er sofort ein. Ein überredendes noch so gut gemeintes Zusprechen wäre nicht am Platze. Das Abgießen in das eigene Glas hat seinen Grund darin, daß sich manchmal Korkstückchen in der Flasche finden und diese wie jede andere kleine Unreinlichkeit mit dem Wein zuerst fortgespült werden sollen, damit der Nachbar nichts davon erhält. Kommt dieser Fall auch nur sehr selten vor, wenn der Korken geschickt entfernt wurde, oder gar wenn der Wein bereits einmal umgegossen wurde und in Karaffen oder Zierkannen auf der Tafel steht, so ist doch diese Sitte so fest eingewurzelt, daß man sie nicht beiseite setzen darf, ohne für unhöflich gehalten zu werden. Ehe man sein eigenes Glas füllt, werfe man[27] einen prüfenden Blick auf seine Umgebung. Es kann vorkommen, daß Herren im Eifer der Unterhaltung die Damen vergessen, und diese sind froh, wenn sich ein anderer ihrer erbarmt.
Nach der Suppe pflegt man – an der Table d'hote fällt diese Sitte natürlich fort einander zuzutrinken. Meist macht damit der Hausherr den Anfang, indem er sein Glas am Fuß ergreift, es bis zur Mundhöhe erhebt, sich gegen seine Gäste verneigt und ihnen zutrinkt. Diese thun das Gleiche und trinken sich auch untereinander zu. Nebeneinander Sitzende stoßen wohl auch mit den Gläsern an. Aber auch ohne daß der Wirt das Zeichen gegeben hat, kann der Herr sich erlauben, die Dame mit einer leichten Verbeugung des Oberkörpers und erhobenem Glas zum Trinken aufzufordern. Er mag dabei auch sagen: »Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich auf Ihr Wohl trinke?« oder »Darf ich mir erlauben, gnädiges Fräulein? Ihr Wohl!« Die Dame neigt dankend das Haupt und führt das Glas an die Lippen, leert es aber nicht.
Die Gabel gehört stets in die linke, das Messer in die rechte Hand. Ein Umwechseln ist wenig hübsch; höchstens, wenn zum Fisch kein besonderes silbernes Besteck gereicht wird, kann man zum Zerteilen dieser Speise die Gabel in die rechte, ein Stückchen Brot in die linke Hand nehmen. Kleine römische Pasteten, Kaviar, Austern, Mayonnaise ißt man mit der in der rechten Hand befindlichen Dessertgabel. Der Neuling an der Festtafel wähle also die kleinere der beiden aufliegenden Gabeln für solche Eingangsgerichte,[28] welche meist auch von kleineren Tellern verspeist werden.
Der Servierende bietet stets von links an. Der Gast greift mit der rechten Hand zu. Er nehme sich rasch, ohne hastig zu sein, ruhig, besonnen, ohne lange auszuwählen. Daß man sich nicht das Beste aussucht, brauchen wir wohl nicht zu erwähnen, ebensowenig, daß man bereits Gewähltes nicht wieder zurücklegen darf. (Letzteres bezieht sich auch auf Obst!) Gänzlich unpassend ist es, sich die abgeschnittenen Portionen noch zurechtschneiden zu wollen. Ist das betreffende Stück zu groß für unsern Appetit, so danke man lieber. Man hüte sich auch, sich an dem Aufputz der Speisen, der oft nicht eßbar ist, (z.B. künstliche Blätter, aus Rüben geschnitzte Blumen, Talgsockel etc.) zu vergreifen. Gar manche häufen sich aus Verlegenheit Portionen auf den Teller auf, die sie nie bewältigen können, andere wiederum glauben, Bescheidenheit markieren zu müssen, und nehmen lächerlich wenig. Sie rechnen vielleicht darauf genötigt zu werden, können aber bei dieser Rechnung leicht zu kurz kommen, da das Nötigen an der seinen Tafel überhaupt nicht stattfindet, höchstens bei ganz freundschaftlichen Essen statthaft ist und auch dort nie die Form der Anpreisung haben darf, sondern nur in den Worten: »Nehmen Sie nicht noch ein wenig hiervon? Wir haben nichts anderes mehr!« oder: »Darf ich Ihnen nicht noch einmal von Diesem anbieten?« bestehen kann.
Hat man das kleine Mißgeschick gehabt, den Löffel oder die Gabel zum Nehmen in die Schüssel fallen zu[29] lassen, so mache man keine Versuche, ihn herauszufischen, entschuldige sich auch nicht, sondern überlasse das Weitere der Dienerschaft. Fehlt ein Löffel zum Zugreifen, so mache man den Servierenden möglichst unauffällig darauf aufmerksam. Wer nichts zu nehmen wünscht, weist den Dienstboten mit einer Handbewegung oder mit einem »Danke, nein!« zurück. »Danke schön, ich nehme nichts mehr!« oder »Ich danke Ihnen!« gehört nicht hierher. Damen bewegen wohl auch bloß verneinend das Haupt. Wünscht man nicht, daß der Servierende Wein oder Champagner nachgießt, so erhebt man abwehrend die rechte Hand oder schiebt das Glas zurück.
Fisch ißt man, wie schon oben erwähnt, mit dem Fischbesteck oder mit der Gabel. Die Fischgräten befördert man mit der Gabel oder der Hand auf den Teller zurück. Stangenspargel ißt man unter Zuhilfenahme der Hand. Es ist dies mit Ausnahme des Obstes, Brotes und Gebäckes, der Krebse, die man mit der Hand auseinanderbricht, der Austern, der Citronenscheibe zu Seezungen oder zum Wiener Schnitzel, welche man von der Schüssel nimmt und mit der Hand über der Speise auspreßt, wohl die einzige Gelegenheit, wo die Hand mit der Speise in Berührung kommt. Den Spargel zu zerschneiden, zeugt davon, daß man sich entweder die Geschicklichkeit nicht zutraut, ihn ganz zum Munde zu führen, oder daß man den Gebrauch vornehmer Kreise, die einzelnen Stangen, mit der Spitze in die Sauce getaucht, mit den drei Fingern der rechten Hand zum Munde zu[30] führen, nicht kennt. Manche unterstützen die lange Stange, durch die in der linken Hand gehaltene Gabel. Auch die Stangen englischer Sellerie, wie man sie zu Butter und Käse reicht, werden mit der Hand angefaßt, ebenso die Blätter der Artischocke, an deren innerer Spitze der wohlschmeckende Käse sitzt, den man mit den Lippen aussaugt. Alle andern Gemüse häuft man möglichst nicht zerschnitten, nur zerteilt auf die Gabel. Das Messer thut seine Schuldigkeit bei dem Zerschneiden von Fleisch, von Kuchen, dem Zerlegen von Pasteten, berührt aber nie und unter keinen Umständen die Lippen.
Das Kompott wird nicht zerschnitten, sondern nur mit dem dazu bestimmten Löffelchen zerteilt. Man erhebt den Kompottteller mit der linken Hand bis Brusthöhe. Den Salat ißt man mit der Gabel. Geflügelknöchelchen zum Munde zu führen, ist nur im intimsten Kreise erlaubt. Zum Dessert werden vielfach neue Bestecke und auch neue Servietten kleineren Formats gereicht. Liegen diese zwischen zwei Tellern – d.h. einem Porzellanteller und dem Glasteller für Eis oder süße Speise, so heißen sie Eisserviettchen und sind lediglich eine Augenweide. Sind sie dagegen größer und von gebrauchsfähigem Material, so bedient man sich ihrer an Stelle der großen Serviette, die der Diener alsdann sogleich fortzunehmen hat. Eis und Speise ißt man mit einem Löffelchen. Besteht das Dessertbesteck aus einer kleinen Gabel und einem kleinen Messer außer dem Messer für Butter und Käse, so sollen diese beiden beim Verzehren des frischen Obstes,[31] z.B. der Ananas, der Bonbons, kandierten Früchte u.s.w. hilfreiche Dienste thun. Butter und Käse ißt man, indem man ein Stückchen Brot, Pumpernickel, Cakes oder schwedisches Brot mit Butter bestreicht, etwas Käse mit dem Messer darauf legt und das Ganze mit der linken Hand zum Munde führt. Radieschen, welche vielfach neben Butter und Käse gereicht werden, faßt man an dem zu diesem Behufe an der Knolle gelassenen grünen Blättchen, taucht sie in Salz und führt sie ganz zum Munde.
Das anmutige Verspeisen des Obstes will gelernt sein, und die Herren überlassen es gern den Damen, dasselbe zu schälen und zu zerteilen. Beim Wählen ist es unstatthaft, durch Druck mit dem Finger oder gar Beriechen den Grad seiner Reise erforschen zu wollen.
Wer einen Apfel, eine Birne schält oder eine Apfelsine zerteilt, befleißige sich großer Sauberkeit und anmutiger Bewegungen. Man sagt, daß eine hübsche Hand sich am schönsten bei diesem graziös ausgeführten Geschäft präsentiere. Die erstgenannten Früchte teilt man in Viertel oder Achtel, Orangen zerlegt man in die Form einer Wasserrose, Trauben führt man in einzelnen Beeren zum Munde. Ist man genötigt, Kerne auszuspucken, so thut man dies unter der vorgehaltenen Hand, eventuell mit Zuhilfenahme des Löffelchens. Obstkuchen faßt man mit der Hand an, falls kein Löffelchen vorhanden ist, oder man bittet den Dienstboten um ein solches. Nie lasse man sich dazu verführen, hierbei das Messer zu benutzen.[32]
Nach der Mahlzeit pflegt man fast allenthalben Glasschalen mit gewürztem Wasser vor den Gast zu stellen. Als der Schah von Persien, der Europas Schicklichkeitsregeln so wenig kannte, in Berlin weilte, wußte er mit diesen Schalen nichts anzufangen. Kopfschüttelnd sieht er sie an, dann zuckt ein Strahl verständnisinniger Freude über sein Gesicht, er nimmt die Glasschale und – trinkt sie aus. Sie ist, wie wir wissen, dazu bestimmt, daß der Gast sich die Fingerspitzen (wohlverstanden nicht die Hände!) einen Moment eintaucht, um sie alsdann an der Serviette abzutrocknen, alles dies ohne Pedanterie und viele Umstände mit der raschen Selbstverständlichkeit, die vom täglichen Gebrauche zeugt. Auch ist es erlaubt, ein Ende der Serviette flüchtig einzutauchen und damit über den Schnurrbart oder die Lippen zu fahren. Gläser zum Spülen des Mundes sind als im höchsten Grade unästhetisch von der vornehmen Tafel verbannt. Kommt man aber dennoch in die Lage, sie anzutreffen, so nimmt man das Glas und gießt den Inhalt über die Hand. Man mag wohl auch einen Schluck des citronengewürzten erquickenden Wassers nehmen. Das Ausspülen und Ausspucken hat man aber in jedem Fall zu unterlassen, es bleibt stets auf das Toilettenzimmer beschränkt.
Während man im Familienkreise die Serviette vor dem Aufstehen sorgfältig zusammenlegt und in den dazu bestimmten Ring schiebt, legt man in Gesellschaft die Serviette lose, so wie man sie brauchte, auf den Tisch. Man wartet damit aber bis zum Moment des[33] Aufstehens. Sie vor der Wirtin auf den Tisch zu legen, hieße das Zeichen geben, daß man die Sitzung als beendigt betrachtet, und könnte unter Umständen übel vermerkt werden.
Nach beendeter Mahlzeit pflegen Herren wie Damen die Handschuhe wieder anzuziehen. Nur die Hausfrau macht eine Ausnahme. Sie empfängt bei kleineren Festen stets ohne Handschuhe. Mit dem Handschuhanziehen nach Tisch wird es jedoch in kleinerem Kreise nicht mehr so streng genommen. Man trinkt den Kaffee nach dem Diner ohne Handschuhe und zieht diese erst beim Aufbruch wieder an. Wird nach dem Essen jedoch getanzt, so sind die Handschuhe sofort anzuziehen. Tanzen ohne Handschuhe wäre eine unverzeihliche Nichtachtung gegen den Wirt und die Anwesenden.
Allgemein verbreitet ist die Sitte, sich nach dem Essen gesegnete Mahlzeit zu wünschen. An der Table d'hote läßt man diesen Wunsch unausgesprochen und verabschiedet sich mit einer Verbeugung von seinen Nachbarn.
Die Kaffee- oder Theetasse behältst du in der Hand und setzest sie erst ab, wenn du sie geleert hast. Herren sind hierbei den Damen behilflich. Willst du den Inhalt genießen, so ergreifst du die Obertasse mit der rechten Hand, während die linke die Untertasse hält. Man führt nie die Tasse zum Munde, solange der Löffel sich darin befindet. Zucker nimmt man mit der Zuckerzange oder dem eigenen ungebrauchten Theelöffel, eventuell für den eigenen Bedarf mit der Hand. Ist[34] dieselbe behandschuht, so darf sie nicht in die Zuckerschale fassen. – Liqueur trinken Damen selten, junge Mädchen nie in Gesellschaft.
Butterbrot verspeist man, wenn man dazu am gedeckten Tische niedersitzt, mit Messer und Gabel. Kleine Sandwiches ergreift man mit der Hand.
Die Rücksicht gegen Wirt und Gäste verlangt von uns, daß wir bei Tisch von vollendeter Artigkeit gegen unsere Nachbarn sind. Wir reichen ihnen mit einer Verbeugung die Schüssel und halten der Dame die Sauciere, bis sie sich bedient hat. Eine etwas veraltete Sitte ist das Vorlegen, welches in früheren Jahren für eine Höflichkeitspflicht des Herrn gehalten wurde, jedoch wird noch heute der Herr sich der Dame angenehm machen, der ihr behilflich ist, das harte Eis mit dem Messer zu zerteilen. – Herrscht am Tische zu große Enge, so versuche man, sich so schmal wie möglich zu machen, um seine Nachbarn nicht zu genieren. Einsichtsvolle Wirte wissen, daß eine peinliche Enge den Erfolg des ganzen Festes in Frage stellen kann, und setzen die Gäste bequem.
Die Rücksicht gegen unsere Umgebung verbietet uns den Gebrauch des Zahnstochers. In Gesellschaft ist er ganz verpönt. Glaubt man seiner auch außerhalb des Schlafzimmers nicht entbehren zu können, was jedoch meist nur Sache der Gewöhnung oder – des Zahnarztes ist, so thue man es unauffällig hinter der Serviette.
Man vermeide bei Tisch die Gerichte, die uns vorgesetzt werden, im Gespräch zu streifen, sie gar zu kritisieren. Ganz falsch angebracht ist es, der Wirtin[35] während der Tafel ein Kompliment über das »wirklich ausgezeichnete Essen« zu machen. Ist man so nahe bekannt, daß man über dergleichen mit ihr zu reden sich überhaupt erlauben darf, so kann man ihr ja unter vier Augen oder in ganz kleinem Kreise ein liebenswürdiges Wort darüber sagen. Aus dem Munde junger Herren wäre es aber unter allen Umständen eine Anmaßung, ebenso wie die leider so oft gehörte unsagbar taktlose Aeußerung: »Aber, gnädige Frau, was für Umstände haben Sie gemacht!« Der Sprecher glaubt Bescheidenheit zu markieren, kränkt aber die Dame des Hauses durch die doch sehr viel Selbstgefühl verratende Annahme, daß sie es sonst weniger gut habe und für gewöhnlich bescheiden esse: er ist sich dessen selbst kaum bewußt, welche Anmaßung in der Voraussetzung liegt, daß gerade seinetwegen Umstände gemacht wurden.
Findest du etwas in dem Gericht auf deinem Teller, lieber Leser, das nicht hineingehört, ein Haar, ein Schmutzstäubchen, eine Fliege oder gar Schlimmeres, so schweige davon, damit nicht andern auch der Appetit vergeht.
Du gießt deiner Nachbarin ein Glas Rotwein ein, – da wird dir von der andern Seite etwas angeboten. Du willst nicht warten lassen, hastig greifst du zu, dein Aermel hat das Glas gestreift – in breitem, sich rasch vergrößerndem Strom ergießt sich der rote Rebensaft über das Tischtuch. Was du thun sollst? Du wirfst so schnell als möglich deine Serviette darüber, welche die Flüssigkeit aufsaugt, und streust den Inhalt der nächsten erreichbaren Salzfäßchen darüber. Dann stellst[36] du den Kompottteller oder legst die Tischkarte, den Fächer deiner Nachbarin, kurz, was du gerade Geeignetes zur Hand hast, so auf den Fleck, daß er darunter verschwindet und nicht die Aufmerksamkeit weiter auf sich zieht. Alsdann verwickelst du deine Nachbarin mit Geistesgegenwart in ein möglichst interessantes Gespräch und kürzest dadurch jede Verlegenheitspause ab. War die Hausfrau Zeuge, so entschuldigst du dich mit einem: »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, gnädigste Frau! Wie ungeschickt von mir!« Weitere Entschuldigungen sparst du dir bis nach Tisch auf. Der Wirtin Pflicht wie die der Gäste ist es, durch liebenswürdiges Ignorieren des Vorfalls die Seele des Missethäters zu entlasten.[37]
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