II.

[324] »Ist dies der Schnellzug nach Hannover?«

»Ja, Fräulein, nur schnell, der Zug fährt gleich ab!«[324]

Energisch schiebt der Schaffner die mit Plaidpaket und Hutschachtel bewaffnete Dame in das nächste offenstehende Coupé.

»Aber dies ist ja für Raucher! Ich wollte ins Damencoupé –«

Das donnernde Zuschlagen der Thür erstickt ihre Worte für das Ohr des Schaffners, nicht aber für den Insassen des Abteils.

Der Herr am andern Fenster legt seine Zeitung nieder, um aufzustehen und der Dame, sie mit einer höflichen Verbeugung und Lüften des Hutes grüßend, was die Dame leicht erwidert, ihre Sachen aufheben zu helfen.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?« und er legt das schwere Plaidpaket in das Netz.

»Danke sehr! Sehr liebenswürdig!«

Die rauchgefüllte Luft entlockt ihr ein Hüsteln. Der Herr beeilt sich, das Fenster zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Die Dame erkennt seine gute Absicht mit ein paar Worten an, vermeidet jedoch ein Gespräch mit dem Herrn anzuknüpfen in dem richtigen Bewußtsein, daß alleinreisende Damen, früher ein verpönter, heute ein häufiger Typus auf der Eisenbahn, sich stets einiger Zurückhaltung befleißigen sollen.

Nicht jeder Herr ist leider so dienstbereit im Coupé wie unsere neue Bekanntschaft. Laß dir sagen, lieber Leser, daß solche Ritterpflichten auch unterwegs von dir erwartet werden. Man bietet Damen oder älteren Herrschaften als jüngerer die besseren Plätze an – wechselt bereitwillig, soweit es die Rücksicht auf die[325] eigene Person erlaubt, legt die Füße in Gegenwart von Damen nicht auf die Polster, belegt nicht stundenlang den Fensterplatz und versperrt nicht alle und jede Aussicht. Auch das beliebte Hinauslehnen, während der Zug hält, ist eine Unart gegen die Mitreisenden; denn erstens nimmst du ihnen die Gelegenheit, auch aus dem Fenster zu sehen, und darauf haben doch alle Mitreisenden das gleiche Anrecht, und zweitens verwehrst du dem frischen Luftzug, auf den sich deine Nachbarin vielleicht schon lange freute, den Eintritt.

»Reisebekanntschaften – keine Bekanntschaften,« sagt eine bekannte Redensart. Das soll so viel heißen, daß eine unterwegs geschlossene Bekanntschaft keine Verpflichtung für späteren gesellschaftlichen Verkehr auferlegt. Herr B. und Herr R., beide aus Berlin, finden sich in St. Moriz, lernen einander schätzen und machen alle Partien gemeinsam. Am Schluß der Reise sagen sie einander Lebewohl, und es fällt keinem von beiden ein, den andern daheim aufzusuchen.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, daß man auf Reisen Freunde fürs Leben findet, und darum ist es falsch, jede Gelegenheit zur Anknüpfung eines Gesprächs zu vermeiden. Vielleicht hätte dieser oder jener sich als äußerst angenehmer Gesellschafter entpuppt, vielleicht hätten wir gar in jenem unscheinbaren Mann, auf dessen bescheidenes Gepäck wir herablassend schauten, eine europäische Berühmtheit entdeckt. Ja, der Schein trügt gar oft auf Reisen, und wer sich nicht Menschenkenntnis zutraut, das Talmi, das gar oft im lockenden Goldgefunkel auftritt, herauszufinden, der sei mindestes vorsichtig[326] bei auffallenden Erscheinungen. Wahrhaft vornehme Leute treten einfach und natürlich auf. Du kannst unterwegs mit Menschen reden und dich unterhalten, ohne deinen Namen zu nennen. Dieses Inkognito ist eine Reisefreiheit von Reiz. Findest du aber im Gespräch, daß ihr gemeinsame Bekannte und Interessen habt, so mußt du dich selbstverständlich vorstellen: vielfach geschieht dies unter Austausch der Visitenkarte.

Im Hotel angelangt, benimmst du dich, wie es dir in den Kapiteln »Im Restaurant« und »Bei Tisch« angegeben wurde.

Sei bestimmt in deinen Wünschen, verlange für dein Geld auch entsprechende Aufnahme, bedenke aber anderseits, daß die Kellner nicht persönliche Dienstboten sind, und daß du mit ewigem Aussetzen und Nörgeln weniger erreichst als mit einem freundlichen Wort. Gar im Hotel zu zanken, sich mit dem Wirt herumzustreiten, ist außerordentlich unfein. Glaubst du übervorteilt zu sein, so mache ruhig und sachlich deine Ausstellungen, zahle und ziehe aus.

Um derartigen Ueberraschungen vorzubeugen, habe ich es ratsam gefunden, besonders bei geplantem längerem Aufenthalt, schon von Haus aus an den Wirt zu schreiben und über Preise anzufragen. Du hast es dann in der Hand, das betreffende Hotel zu wählen oder nicht. Der Wirt merkt, daß er es mit einem gewiegten Reisenden zu thun hat, behandelt dich entsprechend, und du bist gut aufgehoben. Ist man genötigt, sich an Ort und Stelle nach Logis zu erkundigen, so lasse[327] man das Gepäck an der Bahn und gehe auf die Wohnungssuche ohne Gepäckträger.

Sei rücksichtsvoll gegen deine Zimmernachbarn. Bedenke, du weckst vielleicht mit deiner Stimme und deinem Lärm einen müden Reisenden, der erst in der Nacht gekommen ist und nun den versäumten Schlaf nachholen möchte.

Anschluß an Mitreisende resp. Kurgäste ist von verschiedenen Standpunkten aus anzuraten. Erstens ergeben sich mancherlei pekuniäre Vorteile, zweitens genießen wir vieles doppelt in vergnügter Gesellschaft. Nur hüte man sich, sich fest zu binden. An unsichere und anspruchsvolle Reisegefährten gefesselt zu sein, ist eine ärgerliche Plage.

Wer sich zum Teilnehmer an einer Fußtour anbietet – Fußtouren sind das herrlichste Reisen, weil sie die größte Freiheit und Unabhängigkeit darstellen – muß marschieren können, wer eine Segelpartie mitmachen will, muß seefest sein. Im andern Fall hemmt und stört er die Reisegesellschaft.

An der Table d'hote gelten dieselben Tischregeln, die du bereits gelesen. Man begrüßt seine Nachbarn durch eine stumme Verbeugung beim Kommen und Gehen. Beim Reichen von Schüsseln erweist man den Nachbarn vollendete Höflichkeit. – Junge Mädchen finden ihren Platz zwischen oder neben ihren Eltern. Du kannst in jedem Touristenanzug – wohlverstanden nicht Sportsanzug – an der Table d'hote erscheinen, vorausgesetzt, daß er sauber und abgebürstet ist. Haupt, Gesicht und Hände sowie die Wäsche empfehle ich deiner besonderen[328] Beachtung. Geraucht wird bei der Table d'hote erst, wenn die brennenden Kerzen aufgestellt wurden.

Bei deiner Abreise werden an dein Portemonnaie allerlei Ansprüche gestellt werden, von denen sich deine Harmlosigkeit nichts träumen ließ. Leute, die du kaum sahst, werden sich dir in den Weg stellen und auf ein Trinkgeld warten. Solange die Wirte ihr Personal so ungenügend besolden, daß es die Trinkgelder als Lohn zu betrachten gezwungen ist, wird keine Besserung in der Unsitte des Trinkgeldergebens eintreten. Du wirst also allerhand Mark- und Fünfzig-Pfennigstücke opfern müssen. Jedoch sei nicht allzu freigebig, schon im Interesse der Allgemeinheit, und um diese Unsitte nicht zu sehr in die Höhe zu schrauben. Du mußt dem Zimmerkellner, dem Stubenmädchen, dem Portier resp. Hausknecht und dem Oberkellner ein Trinkgeld geben, bei kurzem Aufenthalt verhältnismäßig mehr wie bei längerem Dortsein. In letzterem Fall rechnet man pro Person etwa 1–2 Mk. für die Woche auf jeden der obenerwähnten dienstbaren Geister.

Und damit genug!

Es ist dir doch nicht über dem Zuhören die Lust vergangen, lieber Leser? Nein, nicht abschrecken sollen dich meine kleinen Winke, nur behüten vor Aergernis und Schaden, dir die Wege ebnen und dich fähiger zum richtigen Genießen machen.

Ein Gepäckstück, das du unbedingt zu Hause lassen mußt, sind deine Gewohnheiten. Auf der Reise würden sie dir fortgesetzt hinderlich sein. Füge dich unterwegs in Gegebenes![329]

Und nun »Glückliche Reise!« zur Fahrt in die weite Welt! Halte die Augen offen und lerne. Das Reisen bildet, erweitert den Horizont. Schon wer unser liebes Vaterland durchkreuzt hat, streift kleinstädtische Manieren, kleinliche Ansichten ab; er sieht, daß es sich auch anderswo leben läßt, und sein Lokalpatriotismus überwiegt nicht mehr. Das Reisen schleift Unebenheiten im Verkehr ab, es ist von erziehlichem Einfluß, es macht zum gewandten Mann, und darum, wenn du dir's leisten kannst, lieber Leser, so wähle es recht oft als Bildungsmittel.[330]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 324-331.
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